Heft 4/2021 - Lektüre
„As aesthetic practices more broadly migrate towards being an open field of enquiry that is able to gain and invent new forces of sense-making, new organisations that embody and experiment with different diagrams must proliferate.“ Diese Dringlichkeit, neue Organisationsformen hervorzubringen, formulieren Eyal Weizman und Matthew Fuller in ihrem Buch Investigative Aesthetics. Conflicts and Commons in the Politics of Truth nicht zuletzt vor dem Hintergrund postfaktischer Diskurse, die gegenwärtig die politischen und medialen Landschaften prägen. Zugleich haben kollektive Formen der Wissensproduktion Konjunktur – von Bürger*innen-Wissenschaft bis Open Source. Neben (und zusammen mit) zivilgesellschaftlichen Akteur*innen untersuchen künstlerisch-ästhetische Praktiken etwa Menschenrechtsverletzungen, rassistisch motivierte Polizeigewalt, staatliche Überwachung, militärische Angriffe oder Umweltzerstörung.
Der Architekt und Theoretiker Weizman ist „Principal Investigator“ von Forensic Architecture, das am Goldsmiths, University of London angesiedelt ist. Co-Autor Fuller ist auf Software Studies spezialisierter Kulturwissenschaftler und Teil des Beirats dieser „Agentur“ (Agency), die 2010 als EU-gefördertes Forschungsprojekt begann. Das Kollektiv hat sich in den letzten 15 Jahren von einer informellen, interdisziplinären Gruppierung zu einer wirkmächtigen Institution entwickelt und ist so der eingangs zitierten Forderung nach neuen Allianzen und Organisationsformen nachgekommen. Die Projekte von Forensic Architecture werden zumeist von direkt Betroffenen und Nichtregierungsorganisationen beauftragt und kollaborativ durchgeführt. Sie gehen dabei von konkreten Fällen aus, sogenannten „investigations“ und „counter-investigations“, die historische Kontinuitäten in der Gegenwart lokalisieren – etwa die tiefgreifenden epistemologischen Auswirkungen kolonialer Gewalt.
Investigative Aesthetics skizziert eine Ästhetik der Untersuchung über drei eng miteinander verwobene Kapitel hinweg: „Aesthetics“ und „Investigations“, gefolgt von einem etwas kürzeren Abschnitt mit dem Titel „Propositions“. Ästhetik wird dabei als „careful attunement and noticing extending to the elaboration of precise means of sensing and sense making“ verstanden, eine Verknüpfung von menschlicher sowie nicht menschlicher Wahrnehmung („sensing“) und Sinnstiftung („sense-making“). Als Pharmakon gegen die „hyperaesthesia“ digitaler Reizüberflutung und die „aesthetic power“, die von Politik und Medien ausgeht, können künstlerisch-ästhetische Praktiken eine Form der „hyperaesthetics“ anbieten. Im starken Sinne des Worts ist diese Ästhetisierung als Wiederherstellung des Nexus zwischen Wahrnehmung und Sinnstiftung zu verstehen.
Untersuchungen können zugleich als „investigations of the world“ und „enquiries into the means of knowing it“ gefasst werden. Durch diese doppelte Funktion beobachten und rekonstruieren sie nicht von einem vermeintlich externen Standpunkt aus, sondern operieren in der Form von konstruktiven, multiperspektivischen und epistemisch offenen Prozessen im Politischen und Ästhetischen. Zentral scheint, dass Untersuchungen neue Gemeinschaften konstituieren, neue „communities of praxis“, die aus der Synthese und Debatte verschiedentlich situierter Standpunkte heraus entstehen. Weizmans und Fullers Argumentation verdichtet sich im Begriff der „investigative commons“1, als Organisationsform antiessentialistischer Gemeinschaften, die auf einem gemeinsamen Prozess der Evidenzerzeugung gründen, einem „conjunctural process of enquiry, bringing together elements, participants, disciplines, institutions and sites of production that are sometimes understood as incompatible and jostle each other with the idiom of their conatus“. Was so viel heißt, dass jener gemeinschaftliche Prozess Reibungen beinhaltet und einen produktiven Widerstreit positions- und disziplinbedingter Haltungen erzeugt. Dabei geht es den Autoren insbesondere um neue Formen der Verknüpfung konkreter Orte der Untersuchung („fields“), der künstlerisch-ästhetischen Produktion („studios“), der wissenschaftlichen Evidenzerzeugung („labs“) und verschiedentlich gelagerten Orten der Präsentation („fora“), die von Bürger*innen-Tribunalen über Medien und Gerichte bis hin zu Kulturinstitutionen reichen. In dieser Konstellation wird die investigative Expertise Einzelner zugunsten einer kollaborativen Wissens- und Wahrheitsproduktion der Vielen in die Schranken gewiesen.
Wenngleich protoinvestigative Arbeiten von Harun Farocki, Hans Haacke, The Otolith Group oder Trevor Paglen sowie aktivistische Praktiken von WikiLeaks oder Bellingcat Erwähnung finden, verfolgt Investigative Aesthetics keinen stringenten historischen Abriss. Selbst Projekte von Forensic Architecture und assoziierten Künstler*innen (etwa Susan Schuppli oder Lawrence Abu Hamdan) werden eher knapp besprochen. Die Autoren gehen essayistisch vor, unterstützt durch einen überschaubaren Apparat an Referenzen und Fußnoten. Fabeln („The Cat and the Angel“) und sprachlich vermittelten Bildern kommt dabei eine eigene Funktion zu, schließlich kommt das Buch gänzlich ohne Abbildungen aus. In Abgrenzung zu einer Reihe reich illustrierter Publikationen von Forensic Architecture oder Weizman selber liegt der Fokus hier auf der Entfaltung dringlicher epistemischer, ästhetischer und politischer Fragestellungen.
1 Investigative Commons war titelgebend für eine Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (9. Juni bis 8. August 2021). In diesem Rahmen wurde auch FORENSIS, ein neuen Berliner Ableger von Forensic Architecture in Zusammenarbeit mit dem European Center for Constitutional and Human Rights vorgestellt.