Wer sich die Arbeiten Uriel Orlows, zum Beispiel in der Ausstellung Earth Beats. Naturbild im Wandel im Kunsthaus Zürich, anschaut, lernt ihn als einen Künstler kennen, der sich sehr für Pflanzen interessiert: Geranien, Heilkräuter, uralte Bäume oder die Strelitzienart Mandelas Gold schaffen in seinem Theatrum Botanicum Verbindungen zwischen Kolonial- und Apartheitsgeschichte Südafrikas und einer neokolonialen Gegenwart. Soil Affinities thematisiert die Verlagerung des französischen Gemüseanbaus nach Westafrika, Learning from Artemisia behandelt den von internationalen Pharmakonzernen behinderten Anbau eines Malariamittels in der Demokratischen Republik Kongo. Diese mehrteiligen, kollaborativen Projekte sind untereinander wie auch mit anderen Arbeiten vernetzt. Sabine Rohlf traf Uriel Orlow unter einer Robinie in Zürich und unterhielt sich mit ihm über alpine und tropische Pflanzen, unterschiedliche Zeitrechnungen und das Thema Zeugenschaft.
Sabine Rohlf: Woran arbeitest du gerade?
Uriel Orlow: Ich recherchiere derzeit in Lissabon in einem ehemaligen botanischen Garten, dort gibt es eine riesige Sammlung mit Tropenhölzern. Gleichzeitig arbeite ich in der Schweiz an einem weiteren Projekt: Es geht um Pflanzen, die aufgrund der Klimaerwärmung neue Gebiete erobern und jetzt höher oben auf den Gipfeln der Alpen wachsen. Ich versuche, dieser Bewegung nachzugehen. Im Engadin gibt es ein langjähriges Forschungsprojekt des Schweizer Nationalparks, bei dem gewisse Gipfel über längere Zeit beobachtet werden. Erste Gipfelexpeditionen von Botaniker*innen gab es schon im 19. Jahrhundert, und jetzt finden neue Begehungen statt, bei denen man herausfinden will, welche neue Pflanzen sich in der Höhe angesiedelt haben, zum Teil auch andere Pflanzen verdrängen und neue Habitate eröffnen.
Rohlf: Das klingt nach einer Langzeitbeobachtung.
Orlow: Ja. Diese Zeitlichkeit ist anders, als wir es in Bezug auf den Klimawandel gewohnt sind. Wir kennen die Überschwemmungen und die Brände, die großen Bilder, die wir in den Medien sehen. Das ist aktuell und geht schnell. Bei den Pflanzen geht das hingegen sehr langsam. Und doch ist klar: Über die letzten 40 Jahre kann man enorme Veränderungen beobachten. Es ist dies kein Indiz zum gegenwärtigen Klimawandel, aber es zeigt auf, wie sich Ökosysteme langsam verändern, sich auch anpassen können und wo wir vielleicht noch Zeit haben, um einzugreifen.
Rohlf: Warum sind die genannten Veränderungen kein Indiz für den gegenwärtigen Klimawandel? Nur weil sie langsamer vonstattengehen?
Orlow: Es handelt sich dabei um eine verzögerte Reaktion – nicht um etwas, das genau jetzt auf die aktuelle Temperatur reagiert. Wir sehen hier kein kurzes Jetzt, sondern eine lange Gegenwart.
Rohlf: Eine ungewohnte Vorstellung. Dies wirft die Frage auf, was Gegenwart eigentlich ist.
Orlow: Ja ich denke, hier können wir noch viel lernen. Es geht darum, nicht bloß über die kurze Gegenwart nachzudenken, also über das, was jetzt getan werden muss oder gerade passiert ist, sondern einen größeren Gegenwartshorizont zu eröffnen: sich über das Gedanken zu machen, was eigentlich mit uns und um uns passiert. Pflanzen sind in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich, auch weil sie uns zeigen, wie wir unseren Blick verlangsamen können.
Rohlf: Wo genau werden die Pflanzen beobachtet und untersucht?
Orlow: In der gesamten Schweiz, aber auch an anderen Orten Europas, zum Beispiel in Norwegen. Ich selbst arbeite im Unterengadin, und die Beobachtungen finden auf den obersten Metern des jeweiligen Berggipfels statt.
Rohlf: Du arbeitest über tropische Bäume und Holz, Bergkräuter sowie vielerlei Heil-, Nutz- und Zierpflanzen. Eröffnen Pflanzen bessere Zugänge zu deinen Themen als, sagen wir, Interviews und Archivmaterial?
Orlow: Ich habe auch mit Archiven gearbeitet. Aber als ich zum Beispiel in Südafrika im Mayibue Archiv über die Befreiungsbewegung des ANC recherchierte, hatte ich Mühe, mich dabei zu verorten. Als Künstler, als europäischer Künstler, wusste nicht, was ich für eine Rolle einnehmen kann in Bezug auf all diese Dokumente, die superspannend sind. Ich hatte keinen Anhaltspunkt.
Rohlf: Und die Pflanzen haben geholfen?
Orlow: Das Ganze geht auf einen Besuch im botanischen Garten in Kapstadt zurück, Kirstenbosch heißt der. Ich war dort verabredet, was eigentlich nichts mit meiner Recherche zu tun hatte. Aber danach bin ich durch diesen schönen Garten gelaufen, und mir sind die Tafeln aufgefallen, auf denen die Pflanzen auf Englisch und Lateinisch beschriftet sind. In diesem Moment stellte sich für mich ein Bezug zu den Archiven her, die ich vorher in der Stadt besucht hatte, eine Verbindung zwischen der jüngeren Geschichte, der Anti-Apartheitsgeschichte und der weiter zurückliegenden Geschichte von den Anfängen der Kolonialzeit und den botanischen Expeditionen, die damit einhergingen.
Rohlf: Die Beschriftung der Schilder folgt der Linné’schen Taxonomie, die als Begründung und integraler Bestandteil der modernen Naturwissenschaften gilt. Sie etablierte sich im Zuge der kolonialen Expansion, die die botanische Forschung auch ökonomisch nutzte.
Orlow: Genau. Der Linné’schen Taxonomie geht es darum, sich die Welt anzueignen und in einem rationalen System zu organisieren. Dies ist natürlich im europäischen Aufklärungsprojekt verankert und rührt von unserem Drang, alles erklären und klassifizieren zu wollen, her. Taxonomie wirkt sich aber auch auf Menschen aus. Wenn man heute im botanischen Garten in Kapstadt herumläuft und diese lateinischen Pflanzennamen sieht, dann wird eine Art Gewalt sichtbar, eine epistemische Gewalt, eine Gewalt der Wissensproduktion, die der Geschichte übergestülpt wurde. Was ist demgegenüber mit dem Indigenen Wissen passiert? Was ist passiert mit den Indigenen Pflanzennamen und der Frage, wie Pflanzen verstanden oder in einer Indigenen Kosmologie organisiert wurden? All diese Fragen drängten sich auf, und plötzlich waren die Pflanzen ein zentraler Bestandteil des Geschehens.
Rohlf: Daraus entstand die Audioarbeit What Plants Where Called Before They Had A Name.
Orlow: Eine Zeit lang habe ich Pflanzennamen in lokalen Sprachen aufgenommen. Daraus entstand eine Art Audiowörterbuch mit Pflanzennamen in zwölf südafrikanischen Sprachen. In der Arbeit selbst hört man einfach nur diese Pflanzennamen. Es gibt keine Bilder dazu, es gibt keine Erklärung dazu, es wird einfach klar: Es gibt dieses Wissen; es gibt nicht nur die Pflanzentafeln mit den lateinischen und englischen Namen, sondern es gibt auch noch Indigenes Wissen. Aber ich wollte mir dieses nicht aneignen oder zum Ausdruck bringen: „Hier ist diese Pflanze, und sie heißt … jetzt wissen wir das auch.“ Im Gegenteil, es geht hier eigentlich um unser Nichtwissen, um unser Außenvorsein.
Rohlf: Die Arbeit ermöglicht eine Art Gedenken, schafft aber keinen Zugang. Und es ist auch ungewöhnlich, Pflanzen nicht zu sehen, denn der wissenschaftliche, also botanische Zugriff ist zuallererst visuell, um die Einzelheiten der systematisierten Anatomie zu erfassen. Blüten und Blätter werden in der europäischen Kultur entweder seziert oder haben die Aufgabe, dieses oder jenes zu symbolisieren: Natur, Romantik, Schönheit, Begehren. Pflanzen sind Objekt oder Projektionsfläche. Daher meine Frage: Was genau bewirken sie in deinen Arbeiten?
Orlow: Ich habe lange nicht über Pflanzen gearbeitet. Dafür waren aber Geister, Gespenster immer schon da, also eine Art Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, aber nicht nur eine Präsenz, sondern auch eine Frage der Vergangenheit an die Gegenwart. Avery Gordon spricht in ihrem Buch Ghostly Matters von „unfinished business from the past“ oder „questions of justice“. Gespenster werfen Fragen der Gerechtigkeit auf, die gestellt werden müssen. Dies ist nicht nur eine Metapher, sondern etwas, womit wir in der Gegenwart leben und das uns immer wieder heimsucht. In Südafrika wurde mir in diesem botanischen Garten klar, dass die Pflanzen, die dort wachsen, eben auch solche Gespenster sind und auf ihre Weise Fragen an uns richten.
Rohlf: In einem Text zu deiner Arbeit Theatrum Botanicum schreibst du, es gäbe vielfältige Beziehungen zwischen Mensch und Pflanze. Das sind, wenn ich dich richtig verstehe, wechselseitige Beziehungen: Wer Fragen stellt, ist kein Objekt. Und es sind Beziehungen, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden, oder, wie du mit Blick auf die alpine Vegetation dargelegt hast, einen anderen Gegenwartsbegriff nahelegen.
Orlow: Ich glaube, bei Bäumen ist das sehr klar. Weil Bäume viel länger leben als wir und sich mit ihnen Zeitspannen von mehreren Hunderten Jahren auftun. Wie können wir also Bäume als Zeugen verstehen? Was bedeutet es, wenn Zeugenschaft „mehr als menschlich“ wird und nicht nur auf einem Dokument aus der Vergangenheit beruht, sondern eben auch eine Pflanze, ein Baum sein kann? Dabei wurde mir klar: Pflanzen sind nicht einfach nur passive Statisten, Hintergrund oder Bühnenbild (wenn man die Metapher vom Theater der Geschichte aufgreift), sondern sie sind auch Akteure auf der historischen Bühne. Pflanzen sind einbezogen in Ereignisse.
Rohlf: In The Memory of Trees gibst du Beispiele dafür.
Orlow: Ich habe Bäume angeschaut, die eine spezifische Geschichte haben. Unter anderem einen wilden Mandelbaum, der im 17. Jahrhundert ganz am Anfang der Kolonialgeschichte in Südafrika angepflanzt wurde. Und zwar als Teil einer kilometerlangen Hecke, welche die Gemüsegärten der holländischen Ostindienkompanie vor der einheimischen Bevölkerung und ihrem Vieh schützen sollte. Das Anpflanzen dieser Mandelbaumhecke war also in gewisser Weise einer der ersten kolonialen Gewaltakte.
Rohlf: Für mich sind Pflanzen eigentlich etwas Präsentes und Freundliches. Wenn ich einen Balkon voller Geranien sehe – in Bayern oder der Schweiz oder in Österreich –, ist das alltäglich, vertraut, harmlos. Und in dem Moment, in dem ich darin die Gewaltgeschichte sehe, kippt das Bild, das Heimische wird unheimlich, da könnte man dann Freuds Das Unheimliche zitieren. Die Wildform „unserer“ Geranie stammt ja aus Südafrika, und sie kam mit einem Schiff der niederländischen Ostindienkompanie nach Europa. Deine Arbeit Geraniums Are Never Red zeigt sie vor diesem Hintergrund als Teil einer Heimatikonografie, einem botanischen Nationalismus, wie du es nennst, auch in der Schweiz.
Orlow: Ja ich denke, es geht zentral um dieses Vertraute, dieses Heimliche und ein Aufbrechen der Zeit, wo das Ganze dann plötzlich unheimlich wird. Genau das interessiert mich auch bei den Pflanzen oder den Bäumen: Sie sind Zeitgenossen von uns, sie sind jetzt hier. Aber sie waren auch Zeitgenossen im 17. Jahrhundert, und so brechen sie unsere Chronologie; sie brechen unser lineares Zeitverständnis, demzufolge die Vergangenheit sicher und abgeschlossen hinter uns liegt.
Rohlf: Zeugen, Gespenster, offene Fragen. Alle diese Begriffe lassen sich auch auf die deutsch-jüdische Geschichte beziehen.
Orlow: Meine künstlerische Arbeit hat eigentlich damit begonnen, weil meine Familiengeschichte mit dieser Geschichte zusammenhängt – meine Großeltern kommen aus Osteuropa und haben in der Schweiz überlebt. Andere Familienmitglieder haben nicht überlebt und sind im Zweiten Weltkrieg im Konzentrationslager umgekommen. Gespenster waren also immer da, und so begann meine künstlerische Laufbahn mit Fragen von Zeugenschaft. Aber eben Zeugenschaft in der zweiten oder dritten Generation: Was bedeutet es – für mich –, wenn es keine lebenden Zeug*innen mehr gibt?
Rohlf: Was genau hast du gemacht?
Orlow: Eine der ersten Arbeiten, die ich gemacht habe, heißt 1942 (Poznan). Darin geht es um ein Schwimmbad in Poznan, dem früheren Posen, in Polen. Das Gebäude wurde 1942 von den Nazis von einer Synagoge in ein Schwimmbad umfunktioniert. Mich interessierte, wie so ein Ort seine eigene Geschichte erzählen kann, ohne auf Zeitdokumente zurückzugreifen. Wie dieser Ort „heimgesucht“ wird und seine Geschichte in ihn eingeschrieben ist – im Gestein, in der Architektur. Von da her wurden Fragen nach verorteter Geschichte (spatialized history), Geschichte nicht in der Zeit, sondern im Raum, für mich sehr wichtig und gleichzeitig auch die Frage nach den Gespenstern.
Rohlf: Das wäre dann eine Überlieferung ohne Erzählung, ohne Worte, ohne Schrift?
Orlow: Es kann natürlich auch Sprache vorkommen. In einer anderen Arbeit – Housed Memory –, einem neunstündigen Film, sieht man ein Holocaust-Archiv in London. Ich habe jedes Regal abgefilmt, aber man sieht kein einziges Dokument. Man sieht alles, aber man sieht in Wirklichkeit nichts. Man sieht nirgends rein, man sieht nur die beschrifteten Kisten, die Buchrücken und Titel. Was bedeutet diese Menge an Dokumenten, was macht sie mit uns? Das geht auch auf die Frage zurück, die Paul Celan in einem Gedicht gestellt hat: Wer zeugt für den Zeugen? Wie geht das Bezeugen weiter?
Rohlf: Im Moment arbeitest du mehr zu kolonialer Gewalt. Wie stehst du zu den Diskussionen über das Verhältnis und die Überlieferung von Kolonialismus und Holocaust?
Orlow: Ich finde es wichtig, Zusammenhänge aufzudecken zwischen verschiedenen Gewaltformationen und Geschichten. Diese finden nicht in einem Vakuum statt, sondern sind Teil der europäischen bzw. abendländischen Geschichte, die eng mit der Aufklärung verknüpft ist. Es erscheint mir ungemein wichtig, Verbindungen herzustellen – auf Englisch bezeichnet man dies als „Intersectional History“ zwischen verschiedenen Communitys und Geschichten. Natürlich können dabei auch schwierige Fragen und Probleme auftauchen, etwa, dass man in eine Vergleichslogik rutscht oder eine Geschichte banalisiert, weil man sie einer anderen unterordnet. Ich denke, hier gibt es Aporien, die nicht überwunden werden können.
Rohlf: Dein Unmade Film begibt sich in solche Aporien, oder?
Orlow: Ja, es geht genau darum, solche unauflösbaren Fragen auszuhalten und zum Beispiel Holocaust und Nakba miteinander zu denken, ohne sie zu vergleichen. Im Zentrum der mehrteiligen Arbeit steht eine psychiatrische Klinik in Jerusalem, die ich sehr gut kenne, weil eine Großtante von mir, die Auschwitz überlebt hatte, über 30 Jahre dort gelebt hat. Die Klinik ist ein bisschen wie ein Dorf organisiert, mit verschiedenen Häusern. Erst vor ein paar Jahren fand ich heraus, dass genau diese Häuser zuvor ein palästinensisches Dorf waren – Deir Yassin –, das am 9. April 1948 in einem Massaker von zwei zionistischen Organisationen entvölkert wurde. Aus dem leer stehenden Dorf wurde kurz darauf eine Auffangstation für Holocaust-Überlebende, später die psychiatrische Klinik Kfar Shaul, die sich auf Holocaust-Überlebende spezialisierte. Das ist ein unvorstellbarer Ort eigentlich, wo ein Trauma ein anderes überlagert, wo so viel zusammenkommt und so viele Gespenster gleichzeitig existieren.
Mir wurde sehr schnell klar, dass beide Traumata zusammengedacht werden müssen, aber dass hier auch die Gefahr einer Vergleichslogik sehr stark ist. Dazu schien es mir unmöglich, eine abgeschlossene Arbeit, einen Film mit Anfang und Schluss zu machen, weil ja diese Geschichte selbst nicht abgeschlossen ist. Und vor allem auch, weil das eine Art Katharsis produzieren könnte: Man erfährt von all dem und ist dann sozusagen wieder raus. Es war ein sehr schwieriger Prozess, ich habe mit vielen Gruppen und Leuten zusammengearbeitet und schließlich eine Art explodierten Film gemacht: Es gibt die Filmmusik, das Storyboard, es gibt das Drehbuch, die Filmaufnahmen, es gibt die Mise-en-scène, aber es gibt keinen fertigen, übergeordneten Film.
Rohlf: Nicht alle deine Arbeiten sind auf diese Weise „unmöglich“ oder „unmade“. Aber alles, was ich von dir kenne, verweigert sich einer Abschließbarkeit, Linearität, synthetisierenden Logik. Alle deine Projekte haben verschiedene Elemente, die sich nicht einfach zusammenfügen, manchmal fehlt auch etwas, das wir eigentlich erwarten – wie in deiner Audioarbeit zu den Pflanzennamen, in der es keine Übersetzung oder Bilder gibt.
Orlow: Als Künstler muss ich nicht klassische Geschichtsschreibung oder Botanik betreiben. Ich kann mich auf verschiedene Disziplinen stützen, aber gleichzeitig versuche ich, eine neue Bildsprache zu finden. Das ist nicht immer einfach, vor allem weil es oft um Grenzen der Darstellbarkeit geht. Jedes Mal stellt sich aufs Neue diese Frage nach der Bildfindung. Wie etwas übersetzt werden kann, überhaupt gezeigt werden kann. Und auch darum, was das Recherchematerial suggeriert an Materiallösungen, denn die Entscheidungen, die Form, resultieren eigentlich immer aus der Recherche selbst. Aus einer Art Evokations- oder Suggestionskraft des Materials.
Rohlf: Evokations- oder Suggestionskraft – beides impliziert eine Energie und Wirksamkeit, die ohne die landläufigen Attribute der Handlungsfähigkeit auskommt. Ohne ein Subjekt, das alles unter Kontrolle hat oder alles in ein System einordnet. Es sind dies sehr passende Ausdrücke, um zu sagen, was Gegenstände, Gebäude, Orte, Pflanzen können. Als Gespenster oder Zeugen, als Überliefernde, Agierende und Störende. Gibt es auch ein Wort, das beschreibt, wie du mit ihnen umgehst oder was du beabsichtigst?
Orlow: Vielleicht das Wort „Restitution“. Weil Gespenster eben auch nach Restitution fragen. Aber sie fragen nicht unbedingt nach Restitution in einem materiellen Sinn, also dass ein Kulturgut physisch zurückgegeben wird – was natürlich auch enorm wichtig ist –, sondern für mich geht es auch um eine Rückführung von Erinnerung in die Geschichte. Was mir als Künstler wichtig ist, was ich vielleicht beitragen kann zu diesem Diskurs, ist, einen anderen Zugang zum Thema Erinnerung herzustellen oder ein anderes Verständnis, ein anderes Bewusstsein von Geschichte und ihrer Präsenz, ihrem Drängen in der Gegenwart. Die Arbeit der Restitution ist nie abgeschlossen. Das ist eine offene Arbeit, die immer wieder neu angegangen werden muss.