Heft 4/2021 - Artscribe


Enjoy. The Limits of Our World

19. Juni 2021 bis 18. April 2022
mumok / Wien

Text: Maja Ćirić


Wien. Im Zentrum der Ausstellung The Limits of Our World auf der vierten Ebene des mumok, ihrerseits eine Unterabteilung der Sammlungsausstellung Enjoy – Die mumok Sammlung im Wandel, befindet sich Mark Dions Installation The Ethnographer at Home, die sich, arrangiert um einen Korbstuhl und mit einer Flasche Bombay Dry Gin lockend, dem Raum zuwendet, in dem Fareed Armaly re(Orient)1 präsentiert. Trotz des kolonialen Blicks, dem Letzterer also ausgesetzt ist, vermag er mittels seines minimalistischen Konzepts samt Spiegel, allerlei Dokumenten und vor allem Ausgaben von Tageszeitungen aus der Zeit des libanesischen Bürgerkriegs die Vorurteile über den orientalisierten Orient2 infrage zu stellen.
Neben dem Eingang zu Armalys Raum befindet sich ein kleines Fenster, das sich als wesentlich politischer erweist als Marcel Duchamps Guckloch der Étant donnés,3 bietet es doch dem Publikum einen Rahmen für das zur Diskussion stehende Thema. Diesmal sind nicht nur die Zeitungen schon alt, sondern der Raum steht in einem Austausch mit der Ikonografie des libanesischen Künstlers und Filmemachers Akram Zaatari, die zwar aus der Zeit nach dem Bürgerkrieg stammt, konzeptionell aber zum komplexen Blickwechsel zwischen Insidern und Outsidern beiträgt. Der Raum erinnert an eine Kiste und verweist damit auf den „Ausstellungskomplex“ von Tony Bennett, eine Kombination aus Panorama und Panoptikum zum Überwachen und Strafen.4 Der (re)Orient-Raum ist allerdings nicht abgeschlossen, sondern wird nach außen hin durch die Recherchen der Atlas Group erweitert, die die Autorität und Authentizität der jüngsten Geschichtsschreibung im Nahen Osten kritisieren.
Unter den zahllosen Ausstellungen, die sich der Institutionskritik der westlichen Hegemonie verschrieben haben, ist die von Matthias Michalka kuratierte The Limits of Our World überraschend sensibel. Die meisten Kunstwerke wurden, obwohl zeitgenössisch, bislang selten als Meilensteine des Genres gezeigt. Sie stammen aus einer Zeit, als die Diskussionen meist noch dazu dienten, die Institution überhaupt von der Notwendigkeit der Sichtbarkeit „des anderen“ zu überzeugen. Selten ging es wie heute überall um die Inklusivität und Diversität von ethnischer Herkunft, Klassenunterschiede und Gender, die als Themen, wenn auch nicht in aktivistischer Art, bei Lisl Ponger, Yto Barrada and Christopher Williams im Zentrum stehen.
Die Œuvres von Mark Dion und Fareed Armaly gehören zur zweiten institutionskritischen Welle der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre, als es darum ging, die weitreichende Symbolpolitik der Museen neu zu denken und deren (Blick-)Regime zu verändern. Über die Bewertung des unausgewogenen Verhältnisses zum anderen hinaus reflektiert Michalka subtil die Grenzlinien innerhalb dieser Konstellation. So lässt er in der Ausstellung gleich mehrere Gravitationszentren zu, die sowohl symbolisch als auch formal ineinander übergehen – so wie die verschiedenen Holzfarben von Christian Philipp Müllers Gartentisch (1993).5 Dabei handelt es sich um ein drehbares Tortendiagramm der Anteilsverteilung heimischer Hölzer.
Anstatt sich auf klare Schnitte festzulegen, ermöglicht Michalka durch seine äußerst delikate kuratorische Geste die Koexistenz von Formfacetten und Positionen. Schließlich gibt es einen Unterschied zwischen Entkolonisierung und (Re-)Orientierung. Anstatt die Grenzen der Institution in einer bestimmten Weltsicht festzulegen, beschwichtigt das kuratorische Manöver der Neuausrichtung des westlichen Blicks die Antagonismen, indem sie koloniale Grenzbereiche sichtbar macht.
Für seine Illegalen Grenzüberquerungen (1993/2005) kombinierte Christian Phillip Müller historische Fotoaufnahmen von Örtlichkeiten im Habsburgerreich mit Wegbeschreibungen für illegale Grenzübertritte, die später genau für diese Orte gefunden wurden. The Limits of Our World geht es also nicht um Machtspiele, sondern eine nuancierte Darstellung von Wissen, das ambivalent für die Verhandlung solcher Grenzen steht. Auf einem Plakat von Félix González-Torres manifestiert sich das Fluktuierende von Grenzen beispielsweise in der Geschichte der Ausweitung der Flugdestinationen der Austrian Airlines.6 Die Problematisierung von Grenzen ist aus sicherem historischen Abstand vielleicht einfacher, kommen doch koloniale Themen von heute nur am Rande vor. Wenn es darum geht, auf dringende gesellschaftspolitische Fragen zu reagieren, mag der Glaube ja auch allzu idealistisch sein, Museen könnten so drängende Probleme verhandeln.
Im Gegensatz dazu ist jenseits des mumok die Ausstellung Strategies of Visibilization von Claudia Sandoval Romero im Offspace Mz* Baltazar‘s Lab Datenvisualisierung und Institutionskritik zugleich. Hier werden alle Künstler*innen, die zwischen 1998 und 2018 am Ausstellungsprogramm dieses Museums teilgenommen haben, unter dem Aspekt der Geschlechterverteilung und ihrer Herkunft von der südlichen oder nördlichen Hemisphäre dargestellt. Damit kritisiert Romero die Rolle des mumok bei der Konstruktion von Identitäten durch Aufnahme oder Ausschluss in seine Sammlungen oder Ausstellungen.
Passt die Institution ihr Tempo an, so könnte dort dereinst auch eine Ausstellung zum Thema Inklusion stattfinden. Immerhin hängen die politischen Grenzen von den Grenzen der von der Kunstinstitution verfolgten Agenda ab und umgekehrt. In The Limits of Our World geht es darum, vage Grenzbereiche als Formen des institutionellen Imperialismus sichtbar zu machen. Einstweilen eignet sich das mumok den Akt der Neuausrichtung und die Nichtreduzierbarkeit des anderen auf westliche Normen noch als institutionskritische Geste an.

Dieser Text entstand im Rahmen des Programms Visiting Critics Vienna 2021 des Verein K.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Die Arbeit wurde 1989 zum ersten Mal in der Galerie Lorenz in Paris installiert.
[2] Edward W. Said, Orientalism. NewYork 1978.
[3] Marcel Duchamps Installation wurde erstmals 1969 im Philadelphia Museum of Art gezeigt. Es handelt sich um ein erotisches Tafelbild, das man nur durch zwei Gucklöcher in einer Holztür betrachten kann.
[4] Vgl. den „Ausstellungskomplex“ des Soziologen Tony Bennett (1995).
[5] Erstmals 1993 im österreichischen Pavillon auf der Venedig Biennale ausgestellt.
[6] Ursprünglich 1993 im Rahmen des Projekts Das Plakat vom museum in progress realisiert.