Heft 4/2021 - Artscribe


Kiew Biennale – Allied

16. Oktober 2021 bis 14. November 2021
Haus des Kinos und andere Orte / Kiew

Text: Aleksei Borisionok


Kiew. 2018 verkündete das berüchtigte Institut für nationales Gedächtnis in der Ukraine, dass die „Dekommunisierung“ – gemeint ist die praktische und ideologische Demontage des kommunistischen Erbes – erfolgreich abgeschlossen wurde. Damit endet, nach der Diktion des Instituts, auch die erste Phase der Entkolonisierung. Tatsächlich manifestiert sich darin jedoch wohl eher eine „perverse Entkolonisierung“1 der sozialistischen und vorsozialistischen Geschichte, gründet sie sich doch wie jene in Polen und Ungarn auf eine nationalistische Ideologie.
Gänzlich gegenläufig thematisiert die Kiew Biennale, kuratiert von Mitgliedern der neu gegründeten East Europe Biennial Alliance (EEBA) – bestehend aus der Biennale Matter of Art Prague, der Biennale Warschau, der Kiew Biennale, der OFF-Biennale Budapest und dem Survival Kit Festival –, Geschichte und aktuelle Auswirkungen der Entkolonisierung aus linker und kritischer Perspektive. Unter dem diesjährigen Titel Allied sucht die Biennale alte und neue Allianzen, die jenseits der Nationalstaaten verortet sind. Das Kuratieren im Kollektiv wird dabei zu einer Methodik, die über die schlichte Titelfindung hinausgeht.
Wie schon in den vergangenen Jahren wird die Kiew Biennale vom Visual Culture Research Center veranstaltet. Sie findet in mehreren modernistischen Bauwerken statt, der Hauptteil im noch in Betrieb befindlichen Haus des Kinos und im Offspace Dzherelo in einer stillgelegten Wasserpumpstation im Stadtzentrum. Präsentiert wird eine bruchstückhafte Zusammenstellung von Werken, Ausstellungen sowie Film- und Diskussionsbegleitprogrammen, die vor Ort und online (https://kyivbiennial.org/en) besuchbar sind. Der Hauptteil ist jedoch eine adaptierte Version der Ausstellung Transperipephery Movement, die von Eszter Szakács und Zoltán Ginelli erstmals bereits auf der OFF-Biennale im Frühjahr 2021 kuratiert wurde. Sie zeigt mehrere Recherchekorpora sowie poetische Spekulationen über Verbindungen zwischen sozialistischer und blockfreier Politik und über Beziehungen zwischen globaler Peripherie (dem Globalen Süden) und Semiperipherie (Osteuropa). Das von einer Forschungsgruppe an Fallbeispielen aufgehängte Narrativ verbindet afroasiatische Studierende aus sozialistischen Ländern mit Erlebnissen sozialistischer Architekt*innen in Afrika und noch viel mehr. Im Ganzen setzt die Biennale damit auf Basis zeitgenössischer künstlerischer Interventionen eine wirkungsvolle „Poetik der Blockfreien“ in Szene. So werden zum Beispiel auch die Filme Red Horizon (2020) von Mónica de Miranda oder Afsan‘s Long Day (2014) von Naeem Mohaiemen gezeigt.
In den wohnlichen Räumen des Hauses des Kinos indes sind die Werke lose verstreut. Die Haupthalle empfängt die Besucher*innen mit Culture States (2008–12) von der Société Réaliste, einer Installation aus Landkarten, die die europäischen Nationalstaaten zu neuen politischen und kulturellen Landschaften dekonstruieren. Letztere nehmen Bezug auf die kleine Pariser Weltausstellung von 1937, wo die Verherrlichung kultureller Modelle verfeindeter Nationalstaaten aufeinanderprallten (Nazi-Deutschland, Sowjetunion, britische und französische Kolonialmächte usw.). Im Gegensatz zum eher didaktischen Charakter von Transpirephery Movement beschwören und verhandeln die Werke hier im Hauptteil der Biennale unterschiedlichste sozialistische und koloniale Geister, die die Ruinen postsozialistischer Bauwerke bewohnen. So spuken zahlreiche geisterhafte Phänomene wie Echos, Schatten oder Wiedergänger durch die Ausstellung. In der Klanginstallation Alo, Alo! von Nikolay Karabinovych (2018) murmelt die Stimme von Nicolae Ceausescu aus der Ferne „Hallo, hallo!“ wie bei seiner allerletzten Ansprache in Bukarest. Mishka Bochkaryov stellt in seiner Arbeit Between Red and Blue (2021) die verlassenen Wasserläufe des Dnjepr an den nicht mehr aktiven Schleusen in der Form klassischer Friedhofsfotografien dar, und Diāne Tamanes fotografierte Friedhofsblumen, die ihre Großmutter von Russland nach Estland geschmuggelt hat (Flower Smuggler, 2017–19). Die Installation No Gods, No Masters (2017) von Sung Tieu wiederum zeichnet traumwandlerisch schräg eine Reise durch die Militärgeschichte und heutigen Rituale Vietnams. Ins Haus des Kinos hängte die Künstlerin einen Wandteppich mit sozialistischen Motiven aus dem Jahr 1974 – beleuchtet, aber bar jedes Kommentars oder Urheberverweises. Der verdunkelte Raum wird damit zu einem Sammelpunkt der vielen postsozialistischen und postkolonialen Gespenster, die nicht nur durch die jüngste Geschichte, sondern auch noch durch die aktuelle Politik spuken.
Die grafische und architektonische Gestaltung der Biennale verwendet poröse Steinformationen, die in den postsozialistischen Ruinen zu neuen Strukturen und Allianzen verbunden werden. Vor fast einem Jahrhundert benutzte Walter Benjamin den Begriff der Porosität als Metapher für die Organisation des sozialen Raums, dessen Hohlräume spielerisch miteinander kommunizieren. Die im Bauwesen häufig verwendeten Porenbetonblöcke, aus denen auch die Ausstellungsarchitektur besteht, bilden also ein Umfeld, in dem neue Kunstwerke mit originalen sozialistischen, aber auch mit den Cafeterias, Pflanzen und Filmplakaten zu einer dichten, jedoch porösen Materie verschmelzen können. Hohlräume, Poren und Lücken werden ausfüllt oder gehen ineinander über. Auf ähnliche Weise könnte die Kiew Biennale 2021 als Gemeinschaftsprojekt der EEBA zu einem postsozialistisch alchemistischen Labor werden, in dem sich die Geister und Phantome aus der Vergangenheit in funktionierende Formen politischer und künstlerischer Organisation verwandeln.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

1 Ekaterina Degot/David Riff, From Racist Europeanism to „Perverse decolonization“. A Frightening Parcours, in Russia and Elsewhere/Everything is Getting Better: Unknown Knows of Polish (Post)Colonialism. Hg. von Joanna Warsza und Jan Sowa. Berlin: SAVVY 2017.