Heft 4/2021 - Zeuge/Zeugin sein
Sibylle Schmidt forscht seit Längerem über die Epistemologie und Ethik von Zeugenschaft, deren politische Dimensionen sowie Formen von künstlerischer Zeugenschaft. 2016 gab sie gemeinsam mit Sybille Krämer den Sammelband Zeugen in der Kunst (Wilhelm Fink) heraus, der ein weites Terrain von Literatur, Theater, Film bis hin zu Malerei und Performance absteckte. Seither ist sie den darin aufgeworfenen Fragen in mehreren Richtungen vertiefend nachgegangen. Im folgenden Interview gibt sie Einblicke in diese fortgeführte Auseinandersetzung.
Milena Dimitrova: Können Sie zu Beginn eine grobe Definition, einen Umriss dessen geben, was Zeugenschaft ausmacht, in Abgrenzung etwa zu einer Aussage, einer Chronik, eines Belegs oder einer Anklage? Und welche Mittel kennt Kunst, um Zeugenschaft zu thematisieren oder Zeugnisse abzulegen?
Sibylle Schmidt: Unsere Kultur kennt ja eine Reihe ganz unterschiedlicher Figuren von Zeugenschaft: die historische Zeitzeugin, die Augenzeugin vor Gericht, die religiöse Märtyrerin, bis hin zur Überlebenszeugin, die im 20. Jahrhundert im Zuge der Aufarbeitung der Shoah eine besondere Bedeutung erlangt hat. Dennoch gibt es so etwas wie einen elementaren Begriff. Wer Zeugnis ablegt, teilt ein Erfahrungswissen mit, für dessen Wahrheit sie oder er persönlich einsteht. Das unterscheidet das Zeugnis vom Beleg, bei dem es letztlich völlig egal ist, wer ihn erbringt. Ein Zeugnis zu glauben heißt, der Zeugin Glauben zu schenken, sie als Trägerin eines Wissens anzuerkennen und ernst zu nehmen. Diese Verschränkung von Wissen und Vertrauen ist wesentlich. Das unterscheidet das Zeugnis auch vom Beweis, insofern immer ein Spielraum für Misstrauen bleibt, für Zweifel und Lüge.
Kunst und Zeugenschaft trennt traditionell eine klare Grenze. Die Zeugin soll ja Tatsachen wiedergeben und möglichst nichts hinzudichten. Die Künste sind der historischen Wahrheit nicht verpflichtet, sie spielen gerade mit dem Möglichen, mit Fiktionalität. Doch diese Grenze ist alles andere als stabil, wie Jacques Derrida betont hat: Das Zeugnis ist ein sprachliches Gebilde, und damit besteht immer die Möglichkeit der Fiktion, der Lüge. Andererseits bringen Kunstwerke durchaus Wahrheiten und Erfahrungen zum Ausdruck, und in diesem Sinn können sie auch testimonialen Charakter haben. Es waren die Künste, die im 20. Jahrhundert den gesellschaftlichen Blick auf Zeugenschaft maßgeblich verändert haben: In der Literatur, in Filmen, Theaterstücken kamen die Schwierigkeiten der Überlebenden der Shoah zum Ausdruck, ihre Erlebnisse zu bezeugen. Die Künste haben eine besondere Kraft, die zerbrechliche Natur von Zeugenschaft zu reflektieren: Was passiert, wenn ein Zeugnis nicht gehört oder bewusst ignoriert wird? Wenn es aufgrund der Erfahrungen, die eine Person gemacht hat, oder der geltenden sozialen Normen schwierig oder beinahe unmöglich ist, diese zu artikulieren?
Dimitrova: In dem Band Zeugen in der Kunst, den Sie mitherausgegeben haben, werden künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Holocaust, dem Vietnamkrieg oder der Kongokriege besprochen. Kann Kunst aktuelle Themen, die aktuelle politische Landschaft bezeugen? Und wie kann man Kunst als Zeugin oder Chronistin von gegenwärtigem Zeitgeschehen denken?
Schmidt: Vor Gericht werden Zeug*innen hinzugezogen, um einen bestehenden Rechtsstreit zu lösen. Kunst dagegen kann, indem sie Zeug*innen zur Erscheinung bringt und sie gleichsam auf eine Bühne holt, eine Kontroverse auch erst stiften, wo bislang vielleicht Schweigen vorherrschend war. Sie ist dann eben nicht nur Chronistin von Vergangenheit, sondern zielt auf eine gesellschaftliche Auseinandersetzung im Hier und Jetzt ab. Zeugenschaft ist niemals nur Rückblick, sondern hat etwas mit der Gegenwart zu tun: Die Zeugin stellt durch ihre leibliche Präsenz so etwas wie einen Kontakt her zu etwas, das sich an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit ereignet hat. Im Zeugnis schwingt ein Appell an die Zuhörer*innen mit, sich dazu zu verhalten, ein Urteil zu fällen, jemanden zur Verantwortung zu ziehen. Das gilt auch für die Zeugenschaft der Kunst.
Dimitrova: Wie kann Kunst, auch in Bezug auf aktuelle Themen, ihren Wahrheitsgehalt belegen, für ihn einstehen, obwohl für Kunst Annäherung und Fiktion charakteristisch sind? Ist Kunst vielleicht besonders prädestiniert für die Rolle als Zeugin, da wir ihrer moralischen und ethischen Integrität vertrauen, oder auch ihrer Autorität als Avantgarde?
Schmidt: Auch wenn Kunst testimoniale Aspekte hat, erschöpft sie sich nicht in der „Abschilderung des Wirklichen“, wie Heidegger sagt, sondern dringt zu einer tieferen Wahrheit vor. Sie darf bezüglich der Frage „Fakt oder Fiktion?“ in der Schwebe bleiben, muss sich der Beweislogik, die im Journalismus, im Recht, in der Geschichte herrscht, nicht unterordnen. Genau darin gründet ihr Potenzial, die Normen, die diese Wissensordnungen regeln, kritisch zu hinterfragen.
Ob Künstler*innen wirklich moralisch integrer sind als andere Leute? Die besondere Autorität der Kunst wurzelt vielleicht eher darin, dass wir Künstler*innen heute gemeinhin ein hohes Maß an Authentizität zusprechen, eine Art existenzieller Wahrhaftigkeit. Michel Foucault hat in seinen letzten Vorlesungen darauf hingewiesen, dass Künstler*innen heute eine Funktion übernommen haben, die in der klassischen Antike den Philosophen und Dichtern zukam: die Parrhesia, also der Mut, die Wahrheit frei herauszusagen, auch wenn es für die Zeugin riskant ist. Sybille Krämer erkennt darin eine existenziale Zeugenschaft, bei der es nicht um die Vermittlung von Wissen geht, um eine ethische Transformation. Mir fallen durchaus Werke und Performances ein, die als eine solche existenziale Zeugenschaft gesehen werden können, etwa Marina Abramovićs Performance The Artist Is Present oder auch die autobiografische Kunst von Tracey Emin: Hier exponiert sich die Künstlerin selbst mit ihrem Leben auf eine radikale, kompromisslose Weise, die auch die Zuschauer*innen herausfordert, sich die Frage nach dem wahren Leben zu stellen.
Dimitrova: Wie ist das Verhältnis zwischen Weltsicht oder Mehrheitskultur und Zeugenschaft? In Ihrem Essay „Können Täter Zeugnis ablegen? Über Täterzeugenschaft in Joshua Oppenheimers The Act of Killing (2012) und The Look of Silence (2014)“ thematisieren sie das Beispiel politischer Gewalt in Indonesien. Man sieht, dass sogar in Fällen von politischer Gewalt eine Aufarbeitung von Verbrechen nicht selbstverständlich ist und nicht beiden Seiten dieselbe Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Wir wissen, Geschichte wird von den Sieger*innen geschrieben.
Schmidt: Das Besondere an der Situation in Indonesien ist, dass die Massaker zu Beginn der Militärdiktatur, die an der chinesischstämmigen Bevölkerung und den Sympathisant*innen der Kommunistischen Partei begangen wurden, bis heute nicht aufgearbeitet wurden. Die Täter und Täterinnen gehören zur wohlhabenden Schicht, besetzen wichtige gesellschaftliche Posten, prahlen geradezu mit ihren damaligen Gewalttaten. Die Opfer und ihre Angehörigen werden bis heute gesellschaftlich diskriminiert. Sie äußern sich kaum öffentlich über die Ereignisse. Und so sind es auch in Oppenheimers Filmen vor allem die Mörder, die sprechen. Ihre „Zeugnisse“ werden nicht kritisch kommentiert oder auf historische Richtigkeit überprüft – das hat dem Regisseur viel Kritik eingebracht. Aber es geht nicht um eine Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern darum zu zeigen, wie der Genozid bis heute gegenwärtig ist. Den Filmen gelingt es, die geradezu monströse Abwesenheit von Wahrheit und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Diskurs zu dokumentieren und die Aufmerksamkeit auf das Schweigen der wahren Zeugen und Zeuginnen zu lenken.
Dimitrova: Muss diese Ungleichheit, diese asymmetrische Verteilung von Glaubwürdigkeit oder auch ideologische Bedingtheit von Glaubwürdigkeit, nicht zuallererst thematisiert werden, bevor man Zeug*innen sprechen lässt? Welche Zugänge kann speziell die Kunst hier bieten?
Schmidt: Ungleichheit und strukturelle Gewalt können Zeugenschaft erschweren, ja unmöglich machen. Soziale Stereotype beeinflussen stark, wen wir für glaubwürdig, ja für eine Person mit relevantem Wissen halten. Die Philosophin Miranda Fricker hat dafür den Begriff „testimoniale Ungerechtigkeit“ geprägt. Es gibt dafür viele Bespiele, aber Fricker selbst entwickelt ihre Theorie interessanterweise in Auseinandersetzung mit einem literarischen Text, nämlich Harper Lees Roman To Kill a Mockingbird [Wer die Nachtigall stört, 1960]. Das ist kein Zufall: Künstlerischen Darstellungen kann es auf besondere Weise gelingen zu zeigen, wie fragil eigentlich die soziale Praxis des Bezeugens ist, und Kritik zu formulieren an geltenden Vorstellungen von Glaubwürdigkeit, Autorität, Wissen.
Dimitrova: Und wie steht es um, sagen wir, ökonomische oder ökologische Sachverhalte, wenn ein Vergehen nicht unmittelbar als Gewalt in Erscheinung tritt oder eine rechtliche Grundlage für eine Verfolgung (noch) fehlt?
Schmidt: Ich bin nicht sicher, ob die Folgen ökonomischer und ökologischer Vergehen wirklich so abstrakt sind. Vielleicht erscheint uns das nur so, als einer Minderheit von Privilegierten, die von den katastrophalen Folgen solchen Handelns (noch) verhältnismäßig wenig betroffen sind. Menschliche Bewohner*innen anderer Erdteile können durchaus drastische, gewaltige Erfahrungen bezeugen, und das tun sie auch zunehmend sichtbar und hörbar in der Öffentlichkeit.
Aber die Frage zielt zu Recht darauf ab, ob Zeugenschaft ein sinnvolles Instrument ist, um Dinge wie den Finanzkapitalismus oder den Kollaps ökologischer Systeme begreiflich zu machen. Zeug*innen artikulieren individuelle (Leid-)Erfahrungen. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihre Erfahrungen anzuerkennen ist wichtig. Aber ihr Wissen ist nicht ultimativ. Um etwas zu verstehen, müssen auch Strukturen sichtbar gemacht, Zusammenhänge hergestellt, verschiedene Blickwinkel kombiniert werden. Das gelingt jedoch eher durch das Verbinden von Erfahrungen, Expertenwissen, Daten, Geschichten und scheinbar disparaten Phänomenen. Auch auf diese Weise können die Künste Wissen erzeugen. Ich würde das aber gerade keine Zeugenschaft nennen, das hat dann schon eher einen forensischen Charakter.
Dimitrova: Im Band Zeugen in der Kunst untersucht der Essay „NICHT löschbares Feuer“ von Ludgar Schwarte anhand der Werke Harun Farockis die Montage als Mittel, um Ereignisse und Schmerz zu bezeugen. Wie wichtig ist es, sich in eine Zeugenaussage, in ein Ereignis, einfühlen zu können? Warum reicht objektive, rationale Information nicht? Tut dieser emotionale Zugang der Objektivität, der Darstellung von rationalen, analytischen Sachverhalten einen Abbruch?
Schmidt: Im Film NICHT löschbares Feuer (1969) liest Farocki die Zeugenaussage eines Napalm-Opfers vor. Er spricht darauf die Zuschauer*innen direkt an, fragt, wie man ihnen die Wirkung von Napalm so zeigen könne, dass sie die Augen nicht davor verschließen. Dann drückt er eine brennende Zigarette auf dem Unterarm aus, während aus dem Off die Wirkung von Napalm erklärt wird. In diesem symbolischen Akt kommt ein ästhetisches Problem zum Ausdruck: Wie stellt man Leid so dar, dass es die Zuschauer*innen wirklich tangiert und sie dazu bringt, ihr Verhalten zu ändern? Bilder scheinen uns stärker emotional zu berühren als Worte. Aber werden wir nicht jeden Tag mit herzzerreißenden Bildern in den Medien konfrontiert? Und ändert das irgendetwas? Farocki geht dann mit der Kamera auch in die Produktionsstätten, dorthin, wo Napalm hergestellt wird, und zeigt, was das Ganze mit uns zu tun hat. Ich halte es für zu holzschnittartig, emotionale Berührung und rationale Erkenntnis gegeneinander auszuspielen. Zeugnisse, zumal die von Gewaltopfern, berühren emotional, und sie vermitteln relevantes Wissen. Beides ist wichtig, um Ignoranz abzubauen. Ignoranz ist ja mehr als die Abwesenheit von Wissen, sie hat mit Arroganz und Verachtung zu tun. Hingegen ist der Anspruch, sich in die Zeugin einfühlen zu können, zu spüren, was er oder sie gespürt hat, und sich dann vielleicht sogar selber als eine Art sekundäre Zeugin zu betrachten – all das ist auch furchtbar anmaßend.
Dimitrova: Die Montage ist ein klassisches Mittel, um Emotionen auszulösen, dem Publikum einen Sachverhalt emotional näherzubringen. Welche weiteren Mittel kennt die Kunst, um emotional zu berühren, zu agitieren und so Bewusstseinsarbeit zu leisten?
Schmidt: Interessant ist ja, dass die Künste traditionell eher darauf abzielten, die Emotionen zu regulieren, sie in die ethisch richtigen Bahnen zu lenken – man denke an die Zuschauer*innen im Theater des 18. Jahrhunderts, die zu Tränen gerührt wurden, aber zugleich auf ihren Theatersesseln wie festgebunden waren. Heute besteht das Problem eher darin, das Publikum aus seiner Lethargie zu erwecken, die es angesichts der Allverfügbarkeit von Informationen, superaffektiven medialen Zeugnissen und katastrophischen Nachrichten lähmt. In diesem Zusammenhang finde ich partizipative Kunstwerke oder -performances interessant, die ja auch das Publikum „bewegen“, insofern die Kunst erst durch die Interaktion mit ihnen entsteht. Die Grenze zwischen Kunst und Leben, Betrachtenden und Performer*innen wird aufgelöst, und auch die Frage nach der Wahrheitsfunktion der Kunst wird in gewisser Weise suspendiert. Dafür kann aber bewusstseinsmäßig eine Transformation stattfinden.
Kunst, die sich in den Dienst einer bestimmten Wahrheit stellt, diese mit aller Kraft bezeugt, für sie agitiert, läuft schließlich letztlich immer Gefahr, in Propaganda umzukippen. Derrida schreibt, wenn das Zeugnis vollends zur Gewissheit geriete, würde es seine Funktion als Zeugnis verlieren. In Anlehnung daran kann man vielleicht sagen: Wenn die Kunst vollends zum Zeugnis geriete, würde sie ihre Funktion als Kunst verlieren.