Heft 4/2021 - Netzteil
Ich betrete einen Bildraum, der hell und dunkel, abstrakt und realistisch, aufgelöst und organisch kompakt zugleich wirkt. Baumstämme liegen am Boden, Äste, Blätter. Gebüsch kommt auf uns zu. Wir fahren an einem langen Stamm hoch bis in die Krone, die sprüht und flammt. Dann sind wir wieder unten. Gehen wir in den Baum hinein? Da ist kein Innen, nur Partikel, die sich verbinden, tanzen und auflösen. Es knistert. Die Bäume wie Schlote, sie werfen Tausende hellglänzende Partikel in das Schwarz der Umgebung: Die Bäume sind Maschinen, Organismen, verrückt gewordene Sternbilder, atmende Wesen, die beängstigend lebendig und unheimlich schön sind. Wir erfahren sie als fremdgewordene Dinge, die wir nicht mehr verstehen.
In Rasa Smites und Raitis Smits’ VR-Installation Atmospheric Forest (2020) geraten wir in einen Wald in Zeiten der Klimaerhitzung. Die Arbeit entstand im Zuge von Rasa Smites Mitarbeit an dem Forschungsprojekt Ökodaten–Ökomedien–Ökoästhetik.1 Die dabei maßgeblichen Fragen lauteten: Wie kann Kunst Zeugenschaft – in diesem Fall hinsichtlich des anthropogen erzeugten Ökozids – herstellen? Welche Rolle spielen naturwissenschaftliche Daten, Berichte und Methoden? Und wie gelingt es der Kunst, uns für ein planetarisches „Mit-Leben“ zu affizieren? Im Zentrum des Gesamtprojekts stand die Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und deren Forschungen zum Pfynwald. Dieses im Süden der Schweiz gelegene Gebiet ist einer von drei Wäldern weltweit, von dem seit fast drei Jahrzehnten relevante Daten bezüglich des Effekts der Klimaerhitzung auf Wälder gesammelt und Experimente dazu durchgeführt werden. Schwer geschädigt durch die lokale Aluminiumindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die extreme, infolge des Klimawandels erhöhte Trockenheit fungiert er als Langzeit-Outdoor-Laboratorium, um die Bedingungen von Waldfähigkeit im Anthropozän zu erforschen. Obwohl teilweise Naturwaldreservat sind die Tage dieses am Ende der letzten Eiszeit entstandenen 10.000 Jahre alten und größten zusammenhängenden Kiefernwalds Mitteleuropas gezählt – eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache, die noch nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist.
Im Zuge ihrer Zusammenarbeit mit dem WSL erfuhr Rasa Smite, dass Bäume nicht nur, wie allgemein bekannt, CO2 in Sauerstoff umwandeln, sondern dass sie auch Harz absondern, flüchtige Gase produzieren und sogar CO2 emittieren. Diese flüchtigen Stoffe riechen stark und werden VOCs (volatile organism compounds) genannt. Sie bestehen aus verschiedenen chemischen Molekülen, zum Beispiel Monoterpenen, die die Grundlage der bekanntesten, auch von den Menschen geschätzten Pflanzenduftstoffe und -balsame wie Kiefernöl bzw. Terpentin sind. Sie machen „Wald-Baden“ zum Höhepunkt eines stressigen Arbeitstags. Bäume setzen diese Duftstoffe ein, um mit Hitze oder erhöhtem Lichteinfall umzugehen, Parasiten abzuwehren oder symbiotischen Lebewesen Warnsignale zu übermitteln. Diese Stoffe wirken massiv auf die Atmosphäre und das Klima ein, verbinden sich mit anderen chemischen Stoffen und führen zu komplexen Feedbackloops, die bestehende Situationen potenzieren können. So erhöhen sie beispielsweise bei verschmutzter Atmosphäre die Ozonkonzentration, während sie diese bei reiner Luft reduzieren, oder sie verlängern die Lebensdauer von Methan. Im Zuge des aktuellen Trocken- und Hitzestresses beginnen bestimmte Bäume, vermehrt VOCs auszustoßen. Wie das Zusammenspiel im Detail verläuft und inwiefern hier Boden, Wasser, Stamm und weitere Pflanzen involviert sind, kann noch nicht gänzlich erklärt werden. Es ist Gegenstand extensiver Forschungen, bei denen verschiedene Messverfahren und Visualisierungstechnologien eingesetzt werden.
Das WSL stellte Rasa Smite Technologien wie den Lidar-Scanner sowie die erfassten Daten zur Verfügung. Herausgekommen ist unter anderem das zuvor beschriebene VR-Video. Darin gibt es eine Stelle, in der man die wissenschaftliche Darstellung der Menge der Emissionen sieht: Es sind abstrakte Wellen im Fluss mit den Namen der Gase, die uns, wenn man das nicht lesen kann, nicht viel sagen. Anders als die wissenschaftlich-abstrahierende Darstellungsweise geht die Kunst vor: So haben Smite/Smits die Bilder des mit dem Scanner aufgenommenen Walds gemäß der Datenparameter (Menge, Zeit etc.) in der zu Beginn beschriebenen affizierenden Weise animiert. Ihre Art der Umsetzung ist spekulativ: Denn so wie Schlote geben die Bäume die VOCs wahrscheinlich nicht ab. Andererseits sind die verwendeten Daten, die den Animationsrhythmus bestimmen, real, und der Vorgang selbst ist wissenschaftlich gemessen und nachgewiesen.
Smite/Smits ästhetische Strategie heißt Aneignung des Techno-Wissenschaftlichen und Vermischung von Abstraktion und Körperlichkeit. So ging Rasa Smite mit dem Lidar-Scanner in den Wald, um einzelne Bäume zu scannen. Wissenschaftler*innen tun dies auch; tendenziell aber dient diese Technologie immer mehr dazu, großflächige Aufnahmen aus der Distanz, beispielsweise mit Drohnen, machen zu können. Das führt dazu, dass Wissenschaftler*innen nicht mehr vor Ort sein müssen. In Atmospheric Forest hingegen tritt das Publikum mittels VR-Technologie in den Wald ein. Die Atmosphäre ist zwar künstlich, doch distanzlos und berührend. Nicht nur hören und sehen wir die unsichtbaren VOCs, vielmehr erleben wir auch uns selbst als Teil dieses Geschehens. Techno-wissenschaftliche Distanzierungen versucht Rasa Smite zudem, mittels performativer Aktionen zu überwinden: In Resin Experiment arbeitet sie direkt mit den „Emissionen“ der Bäume, sammelt das Harz, kocht es in einer Waldlichtung auf einer Feuerstelle, bis es flüssig wird und die volatilen Teile davon in die Atmosphäre entschwinden. Zurück bleiben Terpentinöl, das man unter anderem in der Ölmalerei nutzt, sowie Kolophonium, mit dem man den Geigenbogen schmiert. Heute verwendet man die beiden Stoffe für chemische Lacke oder elektronisches Löten.
Rasa Smites Performance wiederholt nicht nur das extraktivistische Sammeln und Transformieren dieses Rohstoffs in für Menschen nützliche Waren, sondern auch das Aufheizen und Verschmutzen der Atmosphäre. Darüber hinaus setzt sie in Szene, was die gestressten Bäume mittlerweile auch tun (wenn natürlich in ungleich kleinerem Maßstab als die fossile Industrie): Belastung der Atemluft, der Lebensgrundlage von Billionen von Lebewesen. Rasa Smites handwerkliche, prozessuale Tätigkeit erinnert aber auch an das fürsorgliche Tun einer Hausfrau, das Heilende einer Schamanin oder Rauschfördernde einer Drogenköchin – Tätigkeiten, deren Beitrag zu transformativen Wissensformen normalerweise verdrängt, entwertet und verfolgt wird. Ja, man könnte folgern, um auf unsere Ausgangsfrage nach der Zeugenschaft zurückzukommen, dass die Smite künstlerisches Tun als Handlung des Transformierens, des Anders-Machens, Anders-Werdens inszeniert und zelebriert. Verortet an der Feuerstelle auf der Lichtung des Walds, im terrestrischen Draußen, mutet diese Tätigkeit wissenschaftlich und spekulativ, uralt und zukünftig zugleich an.
[1] Das Forschungsprojekt wurde vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW Basel in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) durchgeführt. Team: Yvonne Volkart (Leitung), Marcus Maeder, Rasa Smite, Aline Veillat (2017–21); https://www.fhnw.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/gestaltung-kunst/forschung/forschungsprojekte-des-instituts-kunst-gender-natur-iagn/ecodata-ecomedia-ecoaesthetics. Atmospheric Forest war unter anderem ausgestellt in Critical Zones, ZKM Karlsruhe (23. Mai 2020 bis 9. Januar 2022) und hat den Falling Walls Award 2021 in der Kategorie Art and Science gewonnen.