Heft 1/2022 - Free Speech
Ich beschäftige mich seit Kurzem mit künstlerischen Interventionsstrategien, damit meine ich die Dreiecksverbindung aus unautorisiertem Handeln, politischem Timing und medialer Verbreitung. Interventionen sind proaktiv, sie stellen eine geplante Reaktion auf eine Dringlichkeit dar, haben das Ziel, schnell für Aufmerksamkeit zu sorgen, und können nicht auf eine Einladung warten, um eine Debatte anzustoßen. Es gilt, den Augenblick zu nutzen – die Geste muss jetzt erfolgen. Interventionen bedürfen außerdem der zeitlichen Abstimmung. Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera prägte dafür den Begriff „political-timing-specific“ und beschreibt damit Kunst, die zur Schaffung einer politischen Situation beiträgt, indem sie sich zum richtigen Zeitpunkt in eine Diskussion einmischt, eine Kontroverse auslöst oder einen Aufschrei provoziert. Sie kommentiert oder reagiert nicht nachträglich auf ein politisches Thema, sondern gibt ihm eine neue Richtung.1 Nicht zuletzt spannen Interventionen die Medien ein: Sie suchen sich die passende Aufmerksamkeitsökonomie für ihren Moment – ob in Printmedien, im Fernsehen oder Social Media. Sie möchten ein Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken und begrüßen daher eine gewisse Viralität.
Mein erstes Beispiel stammt von der russischen Anarchistengruppe Woina, deren Arbeit Dick Captured by the FSB weithin als „Protest“ oder als „Stunt“ beschrieben wurde und weniger als Performance oder Intervention. Am frühen Morgen des 14. Juni 2010 (ganz zufällig der Geburtstag von Che Guevara) malte die Gruppe die Umrisse eines riesigen Penis auf die Liteiny-Brücke in St. Petersburg. Drei Minuten später wurde die Brücke aufgeklappt, und der Penis ragte vor dem Gebäude des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB empor. Allerdings unvollständig ohne den linken Hoden, da die Aktion bereits nach 23 Sekunden abgebrochen und ein Mitglied von Woina verhaftet worden war. Die Bilder wurden sofort von den lokalen Nachrichtenmedien aufgegriffen und verbreitet. Der Slawist Oliver Johnson bringt es auf den Punkt: „Die Künstler*innen haben das Bild nur gemalt; erst die planmäßige Öffnung der Klappbrücke brachte es zur Geltung; und das Internet machte es weithin sichtbar und ließ alle daran teilhaben.“2 Der Penis fungierte als aufgerichteter Mittelfinger, ohne jeglichen metaphorischen Euphemismus.
Dies ist nicht der richtige Ort, um die darauffolgenden, allseits bekannten Ereignisse im Einzelnen durchzugehen – die Nominierung der Gruppe für den 2011 Innovations Award, ihre Auszeichnung mit diesem Preis, ihre Weigerung, der Preisverleihung beizuwohnen, das Spenden des Preisgelds für politische Gefangene oder die „nahezu zeitgleiche Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gegen zwei Mitglieder des Kollektivs“3. Mir geht es hier vielmehr darum, die Lesbarkeit dieser öffentlichen Geste hervorzuheben (das unmittelbar erkennbare, wenn auch alberne Graffiti eines Penis), die Viralität des Bilds (seine Verbreitung in Onlinemedien) und das perfekte Timing von Politik und Humor. Dick Captured by the FSB intervenierte in eine völlig festgefahrene Gemengelage: in einem Moment des Hasses und der Wut seitens einer Öffentlichkeit, die gegen eine korrupte Regierung und Judikative keinen „verfassungsmäßigen Ausweg sieht“4. Putin hatte bereits zwei Amtszeiten als Präsident (2000–08) hinter sich und tauschte dann einfach mit Dmitri Medwedew die Ämter. So konnte er, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen, 2011 erneut für das Präsidentenamt kandidieren. Während Putins zweiter Amtszeit orientieren sich die russische Kulturpolitik und die zeitgenössische Kunst laut Keti Chukhrov zunehmend an staatlichen und nationalen Vorgaben.5 Auf diesen politischen und kulturellen Stillstand reagierte Voina mit Humor. Noch bevor ihr Graffiti beseitigt werden konnte, wurde es durch die Öffnung der Klappbrücke für die ganze Stadt sichtbar und übermittelte dem Inlandsgeheimdienst und damit auch Putin (der kurzzeitig dessen Leiter war) ein majestätisches „Fuck you“.
Woinas Intervention war nicht nur im Hinblick auf die Öffnung der Klappbrücke zeitlich perfekt abgestimmt, sie war auch zeitgemäß, weil sie die neuen Möglichkeiten von Social Media nutzte, die schnell zu einem Organisationstool für Aktivist*innen werden sollten. Zwei Tage nach der Intervention veröffentlichte Voinas selbsternannter „Ideologe“ Alexei Pluster-Sarno einen Post über die Aktion auf seinem Blog; er stellte sie im Nachhinein als dreiteilige Medienaktion dar („Foto + Video + Text“) und forderte, das der Blog-Post als das eigentliche Artefakt betrachtet werden solle.6 Weil das Bild nicht jugendfrei war, kursierte es nicht so sehr in den herkömmlichen Nachrichtenmedien, sondern ging online viral – mit all den damit verbundenen Polarisierungseffekten.7 In Russland waren die Reaktionen erwartungsgemäß entsprechend der politischen Lager gespalten: Sie reichten von „positiv“ und „Akt des politischen Kommentars“ bis hin zu „Symptom des moralischen Verfalls, der bestraft werden muss“.8 Im Nachhinein betrachtet stellt die Tatsache, dass es der Gruppe an einem klaren politischen Standpunkt mangelt, ein echtes Problem für alle dar, die sich in Texten mit mehr als 140 Zeichen mit Voina auseinandersetzen wollen – Dick Captured by the FSB war nicht nur unglaublich albern, man konnte auch von den unterschiedlichsten Positionen aus Partei dafür (oder dagegen) ergreifen.
Mein zweites Beispiel ist die bereits erwähnte Künstlerin aus Havanna. Seit acht Jahren bezeichnet Tania Bruguera einen Teil ihrer öffentlichen Gesten als „political-timing-specific“– ein sperriger Begriff, der die Idee der Standortsbezogenheit (site specificity) aufgreift und ihr anstelle der örtlichen eine zeitliche Dimension verleiht. Im kubanischen Kontext beschreibt sie ihre Arbeiten als Kunst mit zeitspezifischem Politikbezug, die genau in dem Moment interveniert, in dem Politik Formen annimmt – wenn eine neue Situation entsteht oder Gestalt annimmt. Sie versucht, vorhandene Kräfte innerhalb der sozialen und politischen Landschaft zu aktivieren – Kräfte wie die öffentliche Meinung und die Medien, die normalerweise von den Mächtigen manipuliert werden. Für Bruguera ist Timing ein Medium, das Politiker*innen einsetzen und auch Künstler*innen effektiv nutzen können.
Das deutlichste Beispiel für politisches Timing in Brugueras eigenem Kunstschaffen ist ein im traditionellen und kunsthistorischen Sinne gescheitertes Projekt. Es war der Vorschlag einer öffentlichen Geste: den Bürger*innen auf dem Platz der Revolution in Havanna für eine Minute Redefreiheit zu gewähren. Der Aufruf wurde online verbreitet, aber es kam nie dazu, weil Bruguera vorher verhaftet wurde. Sie hatte den Vorschlag am 17. Dezember 2014 in einem offenen Brief an Raúl Castro, Barack Obama und Papst Franziskus veröffentlicht. Der Brief war eine Reaktion auf die Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Kuba, bei denen der Papst vermittelt hatte. In ihrem Brief schreibt die Künstlerin von ihrer Hoffnung, dass die Entspannung nicht nur zu freien Märkten, sondern auch zu einer freien Presse und freier Meinungsäußerung führen würde. Am Ende des Briefs wirft sie Raúl Castro den Fehdehandschuh hin und fordert ihn auf, ihre partizipative Performance Tatlin’s Whisper #6, die anlässlich der Havanna Biennale 2009 stattgefunden hatte, neu aufzulegen. In der ursprünglichen Performance waren Zuschauer*innen aufgefordert worden, auf ein Podium zu steigen und eine Minute lang frei zu reden. Flankiert wurden sie dabei von zwei Schauspieler*innen in Militäruniform, die eine weiße Taube auf die Schultern der redenden Person setzten.9 Das Set-up sollte an Fidel Castros Antrittsrede vor 50 Jahren erinnern, bei der sich weiße Tauben verheißungsvoll auf seinen Schultern niedergelassen hatten.
Zwei Tage nach der Veröffentlichung des offenen Briefs auf Social Media griffen Brugueras Schwester und eine Kuratorin die Herausforderung unter dem Hashtag #YoTambienExijo (Ich fordere auch) auf.10 Sie posteten den Brief erneut und riefen die Bürger*innen dazu auf, sich am 30. Dezember um 15 Uhr am Platz der Revolution vor einem offenen Mikrofon zu versammeln. Es wurden T-Shirts gedruckt, Pressemitteilungen verschickt, eine Kampagne auf Twitter gestartet. Bruguera postete auf YouTube Videostatements über „Kunstaktionen“, und die kubanische Rapperin Normi Queen veröffentlichte einen Song und ein Video mit dem Titel Yo Tambien Exijo.11 Kurz darauf warnte der Präsident des Consejo Nacional de las Artes Plásticas (CNAP) Bruguera davor, die Performance durchzuführen, doch sie weigerte sich, sie abzusagen. Am Nachmittag des 30. Dezembers versammelte sich eine Menge von Medienvertreter*innen vergeblich auf dem Platz der Revolution, denn die Veranstaltung fiel aus: Bruguera war um fünf Uhr morgens verhaftet worden. Ihr Pass wurde für acht Monate konfisziert, sie selbst während dieser Zeit zwei- bis dreimal pro Woche verhört.
Zweifelsohne erfordert #YoTambienExijo eine „Konjunkturanalyse“ im Sinne von Stuart Hall.12 Nach herkömmlichen, kunstkritischen Maßstäben ist der Aufruf kaum als Kunst wahrnehmbar, lediglich als vereitelter Versuch, eine Performance wiederaufzuführen. Er ist ganz und gar an einen bestimmten Moment der potenziellen Entspannung in den kubanisch-amerikanischen Beziehungen geknüpft: Obamas Angebot an Castro zur Beendigung des seit 1958 bestehenden US-Embargos gegen Kuba. Das Ende dieses Embargos und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen kündigten die Möglichkeit gewisser Freiheiten an. Wie so viele Kubaner*innen wollte Bruguera sichergehen, dass es hier nicht nur um die Freiheit ausländischer Investitionen, sondern auch um bürgerliche Freiheiten ging – um Meinungsfreiheit, die Freiheit der Medien und die Freiheit des Widerspruchs. Brugueras offener Brief und #YoTambienExijo nutzten die Aufbruchsstimmung und die Hoffnungen auf neue Chancen, die diesen historischen Moment ausmachten. Dabei legten die Schnelligkeit und Präzision ihrer Intervention die Widersprüche dieses Moments offen: Wer eine „gute“ revolutionäre Bürgerin sein möchte, die den Prinzipien der kubanischen Revolution treu ist, muss sich gegen die Regierung stellen, die diese Prinzipien verraten hat. Um zu ihrer revolutionären Erziehung zu stehen, musste sie zur Dissidentin werden.13
Dass die auf einen politischen Zeitpunkt abgestimmte Intervention Risiken mit sich bringt, kann Bruguera nur bestätigen: Die Intervention kann für illegal erklärt werden, zu Hausarrest führen, die Öffentlichkeit spalten und kritische Gegenreaktionen nach sich ziehen. Darüber hinaus kann auch die Aufregung in den Social Media der künstlerischen Intention erheblich schaden. In Brugueras Fall ermöglichte die Veröffentlichung auf Facebook es der internationalen Kunstwelt zwar, Aufmerksamkeit für ihre Situation zu erlangen, gleichzeitig gab sie dem Projekt jedoch eine unerwartete Richtung, denn das Potenzial der Détente [Entspannungspolitik, Anm.] beschränkte sich plötzlich auf den Angriff gegen Bruguera selbst: Ihr als Person ginge es angeblich nur um Aufmerksamkeit (eine Behauptung, die männliche Künstler im Übrigen sehr viel seltener trifft). Der Umstand, dass die Struktur von Social Media auf individuellen Profilen beruht, kann natürlich auch individuell ausgenutzt werden, um die eigene Karriere voranzutreiben, anstatt sie als wegweisendes Portal für die „Kunst des noch nicht“ zu nutzen, wie Bruguera es ausdrückt.14
Mein letztes Beispiel stammt aus dem Jahr 2017. Damals bekundete der junge afroamerikanische Künstler Parker Bright während der Whitney Biennale seinen Protest gegen eines der ausgestellten Gemälde. Es handelte sich dabei um die Arbeit Open Casket (2016) von Dana Schutz, die den Schwarzen Teenager Emmett Till in einem Sarg darstellt. Emmett wurde 1955 von einer weißen Bürgerwehr getötet und verstümmelt. Bright stand zwei Tage lang vor dem Gemälde und trug dabei ein T-Shirt mit der Aufschrift „Black Death Spectacle“ auf dem Rücken und „No Lynch Mob“ auf der Brust. Er blockierte die ungehinderte Sicht auf einen toten Schwarzen Körper mit einem lebendigen Schwarzen Körper. Es war eine Geste, die das Zuschauen unmittelbar problematisierte: eine Geste, die „dazwischen kam“ (inter + venire), zwischen die Betrachter*innen und das Kunstwerk. Eine neutrale Position gab es nicht: Die eigene Hautfarbe bestimmte, wie man in der Galerie wahrgenommen wurde, unabhängig davon, was man von dem Gemälde hielt. Die Geste war ein Dorn im Auge, und sie war unbequem.
Die Whitney Biennale ist stets ein aufgeladenes Event, das regelmäßig für öffentliche Diskussionen und Kontroversen sorgt. 2017 gab es jedoch mehr Spannungen als sonst. Der Grund war die Amtseinführung von Donald Trump, die nur zwei Monate zuvor stattgefunden und einen Präsidenten im Amt bestätigt hatte, der mit ungeheuer rassistischen, ausländer-, einwanderungs-, behinderten- und frauenfeindlichen Beschimpfungen an die Macht gekommen war. Im Jahr davor waren 258 Schwarze Bürger*innen von der Polizei getötet worden. Besonders traumatisch war der Sommer des Jahres 2016: Passant*innen und Verwandte hielten die Tötungen von Alton Sterling und Philandro Castile auf Video fest, und die sechs Polizeibeamt*innen, die Freddie Gray getötet hatten, wurden allesamt freigesprochen.15 Diese Ereignisse führten zu einer Intensivierung der Kontroverse um das Gemälde von Dana Schutz und verschafften dieser mehr Aufmerksamkeit als frühere Rassismusdebatten bei der Whitney Biennale; die letzte war 2014 aufgeflammt und hatte sich an der niedrigen Beteiligung von PoC-Künstler*innen entzündet.16
Bright verwies mit seiner Intervention auf die Beschränktheit der Vorstellung, Repräsentation könne allein über Zahlen funktionieren. Obgleich die Kurator*innen der Biennale 2017 asiatisch-amerikanischer Herkunft waren und ein erheblicher Anteil der Arbeiten von PoC-Künstler*innen stammte oder sich auf Schwarze Geschichte bezog, entfachte Dana Schutzs Gemälde im Rahmen der Ausstellung eine heftige Debatte über kulturelle Aneignung und die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen Zugang zum Schmerz und Trauma anderer Gruppen haben. In der Belegschaft des Museums gab es keine Schwarzen Kurator*innen, und so hatte sich niemand Gedanken darüber gemacht, ob das Gemälde von Dana Schutz für einige Zuschauer*innen verletzend sein könnte. (In dieser Diskussion rückt man zum Glück nun ab von einzelnen Werken und konzentriert sich eher auf strukturellen Rassismus – insbesondere auf Museumshierarchien in Bezug auf Bezahlung, Verträge und Zugang zu Vorsorgeleistungen, die durch die Pandemie noch einmal deutlicher zutage getreten sind.)
All diese Beispiele zeigen, dass die Medienökologie, in der Kunstaktivist*innen heutzutage operieren, die Wirkung ihrer Interventionen sowohl verstärken als auch abschwächen kann. Einerseits hilft der virale Durchsatz von Social Media, Gesten in der Öffentlichkeit zu verbreiten, andererseits wird die Diskussionsebene dadurch gefährdet. Bei Voina führte dies zu einer Reihe von Meinungsäußerungen, die ebenso krass waren wie die Geste selbst – Empörung ohne konkretes Ziel. Bei Bruguera fiel damit der Fokus auf eine einzelne Künstlerin anstatt auf die Schaffung kollektiver Solidarität. Bei Bright resultierte dies in der Aneignung seines eigenen Abbilds durch einen anderen Künstler, den Franko-Algerier Neïl Beloufa – eine unheimliche Wiederholung ebenjener Kooption und Rekontextualisierung, die Bright im Werk von Dana Schutz beanstandet hat.17 Social Media helfen uns dennoch, die Intervention als kulturellen Gegenstand einzuordnen. Interventionen beanspruchen keine langfristige historische Transzendenz, sie wollen kein tiefgründiges Kulturmodell sein. Sie stellen eine Guerilla-Antwort auf einen bestimmten Moment dar. Um eine Debatte anzustoßen, haben sie keine Skrupel, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu bedienen. Darüber hinaus ist ihre Motivation ebenso bürgerrechtlich wie künstlerisch, einige Interventionen werden nicht einmal als „Kunst“ betrachtet. Denken wir nur an den Footballspieler Colin Kaepernick, der sich 2016 in einer Geste des Protests gegen die große Zahl von Schwarzen, die im Sommer desselben Jahres von der Polizei getötet worden waren, weigerte, während der Nationalhymne aufzustehen.18 Was die erzielte Wirkung angeht, mögen die zuvor besprochenen Kunstwerke neben diesem Beispiel unbedeutend erscheinen. Doch sollten wir Interventionen nicht mit Zahlen beurteilen, sondern als ausdrucksstarke Analyse ihres eigenen historischen Moments begreifen, die zugleich die Widersprüche dieses Moments artikuliert. In den genannten Beispielen sind das der Umstand, dass außer einem 23-Sekunden-Graffiti eines Penis kein politischer Protest möglich ist; dass die Freiheiten, die eine diplomatische Détente verspricht, größtenteils ökonomisch, aber nicht bürgerschaftlich sein werden; dass die Einbeziehung Schwarzer Künstler*innen und Schwarzer Bilder in eine Ausstellung nichts am strukturellen Rassismus der US-amerikanischen Kultur und Museen ändert.
Beenden möchte ich meine Ausführungen mit einer kurzen Bemerkung zum Thema des ethischen Relativismus. In den 1910er-Jahren hingen die Dichter*innen und Maler*innen des Futurismus einem nationalistischen Ethos von Krieg und Technologie an; sie antizipierten damit Mussolinis faschistische Regierung, unter der sie später dann arbeiteten. In Anspielung auf die kontroverse Debatte darüber, ob Italien in den Ersten Weltkrieg eintreten oder neutral bleiben sollte, bezeichnete ihr Gründer Filippo Tommaso Marinetti die Gruppe als die „ersten Interventionisten“.19 Er berichtet von einer Reihe von Aktionen, die politisch so „getimed“ waren, dass sie Italiens Eintritt in den Ersten Weltkrieg unterstützten, der ein paar Wochen zuvor ausgebrochen war. Am 15. September 1914 besuchte die Künstlergruppe eine ausverkaufte Puccini-Aufführung im Mailänder Teatro dal Verme und rollte am Ende des ersten Akts eine italienische Flagge aus; auf einem anderen Rang setzte sie eine österreichische Flagge in Brand, von der Teile hinunter ins Parkett fielen. Am darauffolgenden Abend wiederholte eine kleinere Gruppe von Futuristen die Aktion in der Galerie Vittorio Emanuele und auf der nahegelegenen Piazza del Duomo. Dabei zogen sie schwarz-gelbe Flaggen20 aus ihrer Unterwäsche und zündeten sie an, was zu Chaos und Handgreiflichkeiten führte. Alle elf Mitglieder der Gruppe wurden verhaftet und verbrachten fünf Tage im Gefängnis San Vittore. Wie die von mir zuvor beschriebenen Interventionen kombinierten die Aktionen der Futuristen eine unautorisierte öffentliche Geste, politisches Timing und mediale Verbreitung.
Die unbequeme Schlussfolgerung daraus ist, dass störende und grenzüberschreitende Interventionen sich – genau wie jede andere künstlerische Strategie oder jedes andere künstlerische Medium – nicht automatisch als politisch links oder rechts, gut oder böse einordnen lassen, egal, wie wir sie interpretieren. Am 6. Januar des vergangenen Jahres stürmten fanatische Trump-Befürworter am Tag der Bestätigung Präsident Bidens durch das Electoral College das Kapitol. Diese Aktion könnte man als rechtsextremes Spiegelbild des Vandalismus an Denkmälern aus der Zeit der Konföderation in Verbindung mit dem Black-Lives-Matter-Protest im Jahr 2020 betrachten. Beide Gruppen überschreiten eine Grenze und erheben Anspruch auf einen öffentlichen Raum, beide deuten monumentale Denkmäler um, beide stören eine bestehende soziale Ordnung, lösen Debatten aus und spalten die Öffentlichkeit.
In ihrem Buch über die Alt-Right schreibt Angela Nagle vom „ideologisch flexiblen, politisch austauschbaren, moralisch neutralen“ Wesen der Transgression und Subversion, das „genauso im Zeichen des Frauenhasses wie der sexuellen Befreiung stehen kann“. Ebenso hat die „anti-moralische Grenzüberschreitung immer schon einen Pakt mit dem Teufel dargestellt, denn das Plädoyer für Gleichheit ist fundamental eine moralische Aussage.“21 Genau diese Spannung zeigt sich in den von mir angeführten Interventionsbeispielen. Oft sprechen sie eher Freiheitsthemen an – Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit – denn Fragen von Gleichheit, Umverteilung und Gerechtigkeit. Mit Ausnahme von Parker Bright natürlich, dessen Aktion die künstlerische Intervention der Moral unterordnet – und es ist kein Zufall, dass seine Intervention in einem Museum und nicht auf der Straße stattgefunden hat.
Diese politische Unentschiedenheit sollte uns aber nicht hilf- und führungslos zurücklassen, sondern uns zu einem klareren Verständnis der anstehenden Aufgaben verhelfen. Jede Interventionsanalyse muss den nächsten Schritt gehen und sich mit dem jeweils verfolgten Zweck und den dabei eingesetzten Mitteln auseinandersetzen. Eine nihilistische, libertäre Politik der Transgression unterscheidet sich erheblich von einer Politik der Gleichheit, Gerechtigkeit und Zukünftigkeit (in Abgrenzung zum „Futurismus“). Interventionen können unversehens zu Gewalt und Hass führen, aber genauso gut vorbildhaft sein – einen Blick auf das noch nicht ermöglichen, rebellische Energien in den Wunsch nach einem Leben, das sein könnte kanalisieren. Was das jedoch beinhaltet und für wen, wird von Kontext zu Kontext unterschiedlich sein.
Übersetzt von Gaby Gehlen
[1] Vgl. Tania Bruguera, in: Claire Bishop in conversation with/en conversación con Tania Bruguera. New York 2020, Kapitel 2.
[2] Oliver Johnson, War on the Ru-net: Voina’s Dick Captured by the FSB as a Networked Performance, in: Third Text, Vol. 27, Nr. 5, 2013, S. 599.
[3] Ebd., S. 594.
[4] Diesen Satz äußerte eines der Jurymitglieder des Innovations Award, die Kunsthistorikerin und Kuratorin Ekaterina Degot. Vgl. Degot, Why I Voted for Voina in: Openspace, 13. April 2011; http://www.openspace.ru/art/projects/89/details/21790/?expand=yes.
[5] Vgl. Keti Chukhrov, Art after Primitive Accumulation: Or, on the Putin-Medvedev Cultural Politics, in: Afterall, Ausgabe 26, Frühjahr 2011, S. 130.
[6] Vgl. Alexei Plutser-Sarno, zitiert in Johnson, War on the Ru-net, S. 592; siehe auch https://plucer.livejournal.com/266853.html. Johnson übernimmt diese Darstellung und spricht wahlweise von einem „Blog-Post-Artefakt“, einem „gewollt schlichten Internet-Kunstwerk“, einer „spontanen Guerilla-Performance“ oder einer „vernetzten Performance“.
[7] Plutser-Sarnos Post wurde dreitausend Mal kommentiert und eine halbe Million Mal angesehen, bevor er von den Moderator*innen entfernt wurde. Das YouTube-Video der Intervention wurde dagegen nur 300.000 Mal angeklickt.
[8] Vgl. Johnson, S. 602f.
[9] Tatlin’s Whisper #6 (2009) wurde im Rahmen der Havanna Biennale erstmalig im Centro Wilfredo Lam aufgeführt.
[10] Brugueras Schwester Deborah und die Kuratorin Clara Astiasarán gingen am 19. Dezember 2014 mit der Facebook-Seite online.
[11] Bruguera verschickte zwei weitere offene Briefe, einen an Papst Franziskus (in dem sie ihn bat, die Freiheit der Kubaner*innen zu schützen) und einen an die Tageszeitung Granma (der wie zu erwarten nicht abgedruckt wurde).
[12] In Halls Arbeit ermittelt die Konjunkturanalyse ein widersprüchliches System. Sie beschreibt Veränderung als offen für viele politische Akteur*innen und als vorausschauend, was es uns ermöglicht, Kenntnisse über die Gegenwart zu erhalten, die uns helfen, eine Reihe von potenziellen Auswirkungen zu verstehen (und so eine Intervention durchzuführen). Siehe Stuart Hall/Doreen Massey, Interpreting the Crisis in: Soundings, Ausgabe 44, Frühjahr 2010.
[13] Brugueras Aktion hatte für sie schwerwiegende Folgen, die bis heute andauern. Allerdings nicht so schwerwiegende wie für kubanische Kulturschaffende, die nicht über ihre internationalen Verbindungen verfügen, darunter viele Künstler*innen, Autor*innen und Denker*innen, die mit dem „27N Movement“ assoziiert werden.
[14] Dieser Auslegung war freilich nicht geholfen, als Bruguera begann, die Ereignisse so zu erzählen, dass #YoTambienExijo nach und nach zu einem persönlichen Narrativ aus Verhören, Aktionen und Gegenaktionen zwischen ihr und der Regierung wurde. Dies mag fesselnd gewesen sein, legte das Augenmerk aber auf ihre eigenen Probleme anstatt auf die Not so vieler anderer kubanischer Künstler*innen, Musiker*innen und Autor*innen. Im April 2015 war aus dem Hashtag #YoTambienExijo der Hashtag #freetaniabruguera geworden – dabei war sie gar nicht im Gefängnis, sondern stand unter Hausarrest. International wurde #YoTambienExijo an vielen Orten wiederaufgeführt – vom Times Square (wo ich daran beteiligt war) bis zur Tate Modern.
[15] Bei einem Protest gegen die Tötungen von Sterling und Castile in Dallas, Texas, wurden fünf weiße Polizeibeamte von einem Schwarzen Afghanistan-Veteranen erschossen.
[16] 2014 lag die Aufmerksamkeit auf einem Projekt des (weißen) Künstlers Joe Scanlan und seinem fiktionalen Avatar, Donelle Woolford (einem jungen Schwarzen Künstler). Aus Protest zog das Kollektiv YAMS seine Arbeit von der Biennale zurück.
[17] Bright legte einen gofundme-Account an, um Geld für eine Reise nach Paris zu sammeln, wo er im Palais de Tokyo gegen die Aneignung seiner Arbeit protestieren wollte, vgl. https://www.gofundme.com/f/parkerbrightprotest. Seine gofundme-Seite ist überschrieben mit der Bitte: „Hilf Parker, sein Bild zurückzufordern“, darunter erklärt er: „Mein Protest bei der Whitney Biennale war für mich in Bezug auf die Presse und die konstanten Beleidigungen über Onlineplattformen und E-Mail sowohl während der Biennale als auch danach ziemlich schwer zu verkraften. Heute noch spüre ich die emotionale und psychische Belastung, vor allem jetzt, wo mein Werk ohne meine Erlaubnis benutzt und rekontextualisiert worden ist.“
[18] Kaepernick erklärte seinen Protest wie folgt: „Ich werde nicht aufstehen und meinen Stolz auf ein Land zeigen, das Schwarze und PoC unterdrückt.“(Zitiert in Steve Wyche, Colin Kaepernick explains why he sat during national anthem, National Football League, 27. August 2016; https://www.nfl.com/news/colin-kaepernick-explains-why-he-sat-during-national-anthem-0ap3000000691077).
[19] Vgl. Marinetti, The Futurists, The First Interventionists. Manifesto of Italian Pride, in: Gunter Berghaus (Hg.), F. T. Marinetti – Critical Writings. New York 2006, S. 227.
[20] Die schwarz-gelbe Flagge ist die des Hauses Habsburg. Wichtig ist, dass Marinetti die Aktionen der Gruppe nicht als Interventionen bezeichnete – er beschrieb sie vielmehr als „Demonstrationen“ (le due prime violentissime dimostrazioni antineutrali a Milano). Siehe Marinetti, Guerra, sole igiene del mondo, Mailand 1915, S. 157.
[21] Angela Nagle, Die digitale Gegenrevolution. Online-Kulturkämpfe der neuen Rechten von 4chan und Tumblr bis zur Alt-right und Trump. Bielefeld 2018, S. 52.