Blankes Entsetzen. Man kann es fast nicht anders auf den Punkt bringen als mit dem lapidaren Kraftausdruck, dessen gleißende Neonversion von Ai Weiwei den Umschlag dieser Ausgabe ziert. Seit am 24. Februar die autokratisch gesteuerte russische Militärmaschinerie den souveränen Staat der Ukraine zu überrollen begonnen hat, ist kaum noch etwas wie zuvor. Sind verbürgte Gewissheiten, die das Zusammenleben der Menschen (und Staaten) in Europa seit 1989 gekennzeichnet haben, grundlegend ins Wanken geraten. Und, was vielleicht noch schwerwiegender ist, müssen Zukunftsprojektionen ein einigermaßen „freies“ und friedliches Miteinanderauskommen betreffend tiefgreifend überdacht werden.
Selbst wenn in absehbarer Zeit so etwas wie ein Friedensschluss zwischen den beiden Staaten möglich sein sollte, wird es wohl Jahre, Jahrzehnte dauern, bis das mit der Invasion entfachte Schockmoment verwunden ist: nämlich dass ein Land, oder besser: dessen Autokrat sich herausnimmt – sich die „Freiheit“ nimmt –, einfach über ein Nachbarland und dessen Bevölkerung herzufallen. Dass, egal wie liberal der überfallene Staat realiter verfasst gewesen sein mag, die dort von vielen hochgehaltene Liberalität elementar aus den Angeln gehoben worden ist. Dass, um es nochmals anders auszudrücken, die Grundidee eines freien, selbstbestimmten Lebens durch ein plötzlich von außen kommendes Gewaltereignis zutiefst erschüttert worden ist.
Eigentlich hätte dies eine Ausgabe über künstlerische Ausdrucksfreiheit werden sollen. Die Ereignisse seit Ende Februar rücken diese Thematik aber unweigerlich in ein anderes Licht bzw. kontextualisieren die damit verbundenen Fragen neu. Worin liegt der Kern einer Freiheit, üblicherweise als ein Grundrecht jeder demokratischen Verfassung verstanden, wenn sie jederzeit von einer exorbitanten Militärmacht annulliert werden kann? Welchen Wert hat der „freie“, zumal künstlerische Ausdruck angesichts einer entfesselten Kriegsmaschinerie, und was kann er im Endeffekt dagegen ausrichten? Die Antworten auf diese Fragen fallen zwangsläufig düster aus und verlangen trotz allem danach, die komplizierte Situierung und niemals von vornherein gegebene freie Ausdrucksmöglichkeit jedes und jeder Einzelnen kritisch zu reflektieren. Ein Reflektieren, bei dem auch das oft nicht wahrgenommene Garantiekonstrukt, das die Rede von den Freiheitsrechten umgibt, berücksichtigt werden sollte.
Dass es um die freie Meinungsäußerung bereits vor dem Krieg in einzelnen Ländern nicht allzu rosig bestellt waren, belegen mehrere Beiträge dieser Ausgabe. Herwig G. Höller hat mit der russischen Kunstaktivistin Darja Apachontschitsch über die Ende 2020 in Russland in Kraft getretenen Bestimmung gesprochen, wonach jede*r Künstler*in als ein „als ausländisches Massenmedium fungierender ausländischer Agent“ [sic] verurteilt werden kann. Ein dunkler, vielfach nicht zur Kenntnis genommener Vorbote auf das, was kommen sollte. Dass ähnliche Prozesse aktuell auch im EU-Mitgliedsland Polen an der Tagesordnung stehen, beleuchtet Ewa Majewska am Beispiel der „Hassrede“, wie sie gegenwärtig in vielerlei Bereiche Einzug hält. Und wie es seit 2018, ebenfalls aufgrund einer gesetzlichen Verordnung, um die Kunstfreiheit in Kuba bestellt ist, unterstreicht eine Werkauswahl von Künstler*innen, die seither schweren Repressalien ausgesetzt sind oder ins Exil gezwungen wurden. Dass im Zuge interventionistischer Kunst je nach Kontext stets auch unterschiedliche Freiheitsgrade mitangesprochen sind, legt Claire Bishop anhand dreier markanter Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit dar.
Schließlich ist auch der „freie Westen“ keineswegs vor – vermeintlich immer rigider werdenden – Diskursregulierungen gefeit. Seit, meist etwas diffus, die Gespenster von Cancel Culture, Wokeness-Bewegung oder Identitätspolitik an die Wand gemalt werden, fühlt sich auch das „freie Sprechen“ zunehmend bedroht an. Zumindest wollen uns das die häufig aus reichlich illiberalen Zusammenhängen stammenden Wächter*innen der uneingeschränkten Meinungskundgabe glauben machen. Welche Trennlinien aber tatsächlich das weite Terrain öffentlicher (wie auch privater) Diskurse durchziehen, steht auf einem gänzlich anderen Blatt. Ja, man fragt sich, ob das Feld des freien (künstlerischen) Ausdrucks nicht immer schon ein hochgradig antagonistisches, wild zerklüftetes Gelände gewesen ist. Vielerlei historische Exempel weisen in diese Richtung.
Ana Teixeira Pinto macht in ihrem Essay eine wichtige Differenzierung geltend, kulminierend in der Frage, wer genau üblicherweise welche Art von Freiheit für sich in Anspruch nimmt, und inwiefern diese Inanspruchnahme meistens auf Kosten anderer geht. Den Preis dieser – ethnisch gedachten – Freiheit nimmt Ibram X. Kendi in Augenschein, der die in den USA entflammte Kampagne gegen die Critical Race Theory auf das nach wie vor massive Einflussgebaren der White Supremacy zurückführt. Süreyyya Evren schließlich spielt in Bezug auf die freie Rede- und Spekulationsmöglichkeit eine Art Advocatus Diaboli, indem er sich den Grauzonen und Grenzbereichen des ethisch Vertretbaren über literarische Fiktionen anzunähern versucht.
Übergreifend tut sich hier die Problematik auf, ob es überhaupt Sinn macht, Übereinstimmung darüber zu verlangen, was über wen gesagt werden darf und was nicht? Sollte demgegenüber nicht eher auf die multiplen, oft auch radikal divergierenden Redehintergründe Bedacht genommen werden? Schließlich macht es den entscheidenden Unterschied, von wo aus und von wem genau etwas eingefordert – oder bisweilen auch zu unterbinden versucht – wird. Die Beiträge dieser Ausgabe versuchen, diese oft stillschweigend vorausgesetzten Koordinaten der „freien Rede“ offenzulegen. Ziel dabei ist auch, die Bedingungen eines widerstreitenden, gleichwohl respektvoll-solidarischen Diskursgeschehens diskutierbar zu machen – diskutierbar, und nicht etwa mit Gewalt okkupierbar oder gar eliminierbar.
Das Entsetzen, das sich momentan angesichts der Geschehnisse in Osteuropa regt, mag früher oder später an Intensität verlieren. Die Dringlichkeit, die davon tangierten Freiheiten kritisch zu beleuchten, wird hingegen weiterhin hoch bleiben.