Heft 1/2022 - Free Speech
Ich meine, auch ich war
einsam wie Hitler
in dieser Welt war auch ich
einsam wie Mussolini.1
–İlhan Berk, 1952
Ungewissheit der Wissenschaft vs. Gewissheit der Kunst
In seinem Buch Forces of Nature. beschreibt der englische Physiker Brian Cox das wunderbar diesige Bewusstsein, in dem Wissenschaftler*innen leben und arbeiten. Es ist „ein Raum zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten“, der, wie Cox unterstreicht, von „Neugier und Staunen“ geprägt ist.2 Klingt unspektakulär, ist aber sehr wichtig. Denn Cox steckt hier den Arbeitsbereich und die Tätigkeit von Wissenschaftler*innen ab: Diese arbeiten nicht im Bekannten, sondern im Unbekannten. Aber klingt das nicht auch nach Kunst? Metaphorisch sicher. Der „Künstlerkünstler“ soll ja auch das Unbekannte erforschen, Visionär sein, begeistert neue Wege in die Zukunft suchen. Doch gerade die Kunst wird heute immer mehr durch das bereits Bekannte bzw. den Konsens eingezäunt.
Wenngleich mehr und mehr Kunstschaffende auf die moderne Wissenschaft und, vor allem, auf die Populärwissenschaft als Quelle, Bezugspunkt oder Hintergrund zurückgreifen, so zielt die Kunstpraxis im Allgemeinen nicht auf das „Bekannte“. Und doch soll sie oftmals nur das Bekannte untermauern. Der Schritt ins Unbekannte ist nämlich mit Karriererisiken verbunden, und so ist der Anreiz dazu meist zu gering. Das Risiko, Dinge zu sagen, die nicht gesagt werden sollten, oder Argumente vorzubringen, die nicht dem Konsens der heutigen Kunstwelt und des Kunstdiskurses entsprechen, zahlt sich letztlich nicht aus.
Auch wenn Künstler*innen offenkundig immer öfter innerhalb des „Bekannten“ verbleiben, so können ihre Kunstwerke etwas Bekanntes entweder ästhetisieren oder es auf komplexere Weise darstellen. So lassen sich stets auch kreative Wege finden, um engagierte Kunstbetrachtende in bereits Bekanntes einzuführen, und zwar indem sie es neu und spannend erlebbar machen. Am deutlichsten zeigt sich dieser Unterschied bei Kunstwerken oder Veranstaltungen mit ökologischen, Gender- oder ethnischen Problematiken. Diesbezüglich erwartet man von einem Kunstprojekt gar nicht, dass es Fragen stellt, die in unerwünschte Bereiche führen könnten. Warum sollen überhaupt alle Spezies weiterexistieren? Warum soll die Erde nicht verschmutzt und zerstört werden? Warum soll ausgerechnet die Kunst Interesse daran haben, dass die Welt weiterbesteht und nicht lieber untergehen soll? Unsinnige Fragen? Mag sein. Dennoch steht außer Zweifel, dass, wenn man eine Kunstveranstaltung zum Thema Ökologie macht, solche Fragen gar nicht erst gestellt werden dürfen. In einem Roman oder Gedicht hingegen würde man sie schon eher akzeptieren.
Huxley schreibt seine Dystopien um
Meiner Ansicht hat die heute dominante Kultur, in der die Wahrheit kaum noch eine Rolle spielt (post-truth), sehr viel mit Zwangskonsens zu tun. Aber wie lässt sich diese, sowohl in die Kultur als auch die Politik immer stärker um sich greifende Einstellung besser verstehen? Obwohl sie ein Phänomen unserer Zeit ist, nützt es vielleicht, die Geschichte und das politische Klima zu rekapitulieren, in dem Aldous Huxley (1894–1963) den ersten seiner drei dystopischen Romane schrieb. Er ist zweifellos bekannter als die beiden anderen und trägt den Titel Schöne neue Welt. Huxley schrieb das Buch 1931 inmitten der politischen und kulturellen Wirren der frühen 1930er-Jahre. (Die anderen beiden, Affe und Wesen und Eiland, erschienen 1948 bzw. 1962.) Die Zweifel, die sich hinter und in Schöne neue Welt verbergen, können als Ausgangspunkt zum Verständnis unserer heutigen Situation dienen.
Als der Roman 1932 bei Chatto & Windus in London erschien, waren die Nazis noch nicht an der Macht. Dennoch war der Westen bereits von der faschistischen Ideologie durchtränkt. Huxley war ein flatterhafter Intellektueller, der sich für das Schicksal der Gesellschaft interessierte und es in seinem Buch gedanklich durchzuspielen versuchte. Er dachte an all die Weltformeln, die zur Rettung der Zivilisation zirkulierten, welche gerade der Weltwirtschaftskrise von 1931 entkommen war, sich aber immer noch in einer prekären Lage befand. Huxleys Schwanken machte den Roman erst so richtig spannend und rhythmisch interessant. Ich sage „erst“, weil wir aus heutiger Sicht seine Unentschiedenheit kaum verstehen können. In seiner Einführung zu Schöne neue Welt weist auch der Literaturwissenschaftler David Bradshaw (1955–2016) explizit auf sie hin.3 Bradshaw ist auch der Autor von The Hidden Huxley: Contempt and Compassion for the Masses (1994), dessen Untertitel bereits verrät, dass Huxley mit der Masse sympathisierte, während er zugleich seine Abscheu gegen sie nicht verhehlte.
Für Huxley hingen Dichtung und Denken eng zusammen. Während er an seinen Romanen saß, veröffentlichte er auch Essays, Artikel und Kritiken. Er verstand sich also gewiss als Dichter-Denker, der auch seinen eigenen Charakter in Romanform erforschte. Einmal sagt sein Alter Ego Philip Quarles im Roman Kontrapunkt des Lebens: „Der Hauptfehler des Ideenromanes besteht darin, dass Sie über Menschen schreiben müssen, die Ideen zum Ausdruck bringen können – was alle bis auf etwa 0,01 Prozent der Menschheit ausschließt.“4 Dass ausgerechnet jemand, der sich selbst für einen Ideenromancier hält, so etwas behauptet, bedeutet wohl, dass Huxley solche Bloßstellungen genoss. Andererseits muss man bedenken, dass Kontrapunkt des Lebens 1928 erstveröffentlicht wurde. Die Bezeichnung der Leser*innen als „Menschheit“, die man ihrer Denkfähigkeit nach sortieren kann, und das Quantifizieren nach Prozentpunkten verweisen auf die Tendenz Huxleys, die die Menschheit schon wenige Jahre später in eine noch viel problematischere Richtung führen sollte.
Immerhin unterscheidet sich, wie David Bradshaw schreibt, „die wissenschaftliche Utopie, die Huxley vor, während und nach dem Schreiben von Schöne neue Welt wiederholt öffentlich einforderte, kaum von der hierarchischen, aseptischen, farbcodierten Welt im Jahr 632 nach Henry Ford, wie sie im Buch beschrieben ist“. Noch zwei Wochen vor der Erstveröffentlichung des Buchs 1932 sprach der Autor von „notwendigen eugenischen Maßnahmen, um den schnellen Untergang des westeuropäischen Menschen zu verhindern“. „Die Erwähnung staatlicher genetischer Maßnahmen zur Manipulation der Gesellschaft“ bekommt zudem eine andere Schattierung, wenn man bedenkt, dass zu Huxleys Familie zahlreiche Wissenschaftler gehörten. Dementsprechend war er sich „nicht sicher, ob das, was er zwischen April und August 1931 schrieb, eine Satire, eine Prophezeiung oder doch eine Blaupause war“.5
Bedeuten die vielen „vielleicht“ womöglich, dass sich Huxley damals dem Faschismus annäherte? Die Antwort ist: politisch nein, aber literarisch ja, denn er hat diese Denkweise als Romancier in einem Roman festgehalten. Huxleys Dystopien sind keine kühlen Kritiken aus moralisch überlegener Position oder aus steriler Distanz. Denn darin unterscheidet er sich von vielen Schriftstellerkolleg*innen: Er lässt seinen inneren Dämon sprechen. Und der spricht überzeugend. Huxley bedient nämlich nicht nur den Humor, sondern behandelt seine Figuren liebevoll nach dem Motto: „Ist an dem, was dieser Typ sagt, vielleicht doch etwas Wahres dran?“6 Als Ideenromancier wandelt er auf dem schmalen Grat zwischen „vielleicht ist das doch ein sinnvolles Projekt“ und „vielleicht ist es eine Katastrophe, über die wir uns zwar lustig machen, die wir dann aber doch lieber lassen sollten“. Aus diesem Grund ist Huxleys Dystopie auch so einprägsam. Wenn sie heute teilweise verwirklicht zu sein scheint, dann wohl deshalb, weil die Teile, die wahr geworden sind, jene sind, die wir wirklich mögen, oder bei denen wir nicht zögern mitzumachen.
1946 indessen war der Gedanke, man solle den inneren Dämon sprechen und die dämonische Sichtweise formulieren lassen, um sich dem Nationalsozialismus entgegenstellen zu können, nicht mehr vertretbar. Die ganze Welt meinte, sie hätte „dem Dämon lange genug zugehört“. Der Dämon hatte gesprochen, getobt, gestöhnt, andere stöhnen lassen, gewütet und geschrien, bis seine Stimme zuletzt gebrochen war. Und er war besiegt worden, und zwar nicht mit Worten, sondern mit dem Stock. Deswegen war aber sein Wort noch nicht durch ein Gegenwort entkräftet. Dass er erneut sprach, konnte also auch bedeuten, er würde wieder erstarken und diesmal so stark werden, dass er nicht mehr mit dem Stock zu besiegen wäre.
Der Zweite Weltkrieg, das Ausmaß der Brutalität der Nazis, gefolgt von der Barbarei der Atombombe und die ganze Komplizenschaft der Wissenschaft mit dem Krieg, brachten Huxley dazu, sein Werk zu überdenken. Obwohl er aus einer Wissenschaftlerfamilie stammte, gehörte er zu jenen Fortschrittskritiker*innen, die vom Zweiten Weltkrieg desillusioniert waren. Sein Großvater, der Biologe und Anthropologe Thomas Henry Huxley, war nicht nur ein großer Anhänger der Evolutionstheorie Charles Darwins gewesen, sondern hatte auch regelmäßig in die öffentlichen Polemiken zu diesem Thema eingegriffen. Er verhalf Darwins Ideen gemeinsam mit anderen zu allgemeiner Akzeptanz. Aldous’ Bruder Julian Huxley wiederum war einer der zentralen Denker der Evolutionsbiologie. Die Balance zwischen Naturwissenschaft und Kunst tritt bei Aldous, der die Wissenschaft als Insider kritisierte, deutlich zutage.
Huxley schrieb biopolitische Romane. Dabei hat er wohl die genaue Betrachtung der Evolution in seiner Familie auf die Utopie übertragen. Er fragte sich, wie es nach den Veränderungen, die das 20. Jahrhundert mit sich brachte, mit unseren Gesellschaften weitergehen könnte. Er fragte, wie sich die sozialen Beziehungen, die Sexualität und der Gebrauch neuer Drogen entwickeln würden und wie sich das Verhältnis zwischen sozialen Hierarchien und technologischen Entwicklungen gestalten könnte. All diese Gedanken erprobte er vor allem in seinen belletristischen Werken, die ein gewisses Maß an Unsicherheit enthielten.
Doch dann verfasste Huxley 1946 ein Vorwort für die Neuausgabe von Schöne neue Welt bei Harper & Brothers in New York. Mit diesem Essay, in dem Huxley sein Interesse an Eugenik und social engineering zur Zeit der Abfassung des Romans mit keinem Wort erwähnt, manipulierte er gleichsam, wie das Buch nach dem Zweiten Weltkrieg in gesellschaftspolitischer Hinsicht gelesen und interpretiert werden sollte. Er versuchte, die politische Richtung des Buchs zu bestimmen, indem er selbst den Rahmen seiner Interpretation absteckte. Dazu lenkte er die Aufmerksamkeit von dessen Auswüchsen auf inhaltliche Mängel – wobei er ruhig kritischer hätte sein können und Alternativen hätte vorschlagen können. Die meisten Unzulänglichkeiten, die von der fehlenden Behandlung der Atomfrage bis zum Vorschlag eines „dritten“ Wegs reichten, machte er erst in Affe und Wesen (1946, dt. 1959) und Eiland (1962, dt. 1973) wett.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Vorwort von Huxley aus dem Jahr 1946 wesentlich dazu beigetragen hat, dass das Buch als kritische Dystopie gelesen wurde und innerhalb seines Genres weiter an Bedeutung gewann.7 Genau diese Anmutung eines künstlerischen Paradoxons ist es, die seinem Werk die Tiefe des Widerspruchs verleiht. Huxley war in die Denkweise seiner Zeit verstrickt, und genau das ebnete seinem Roman den Weg, ein Klassiker des 20. Jahrhunderts zu werden.8
Huxley schrieb das neue Vorwort auch deshalb, weil weder er noch die Welt 1946 die Ambivalenz des „nicht [Sicherseins], ob das eine Satire, eine Prophezeiung oder eine Blaupause ist“, akzeptieren konnte. Von nun an konnte niemand mehr ernsthaft mit Eugenik flirten. Das dämonische Projekt war kein Projekt mehr, und dämonische Wünsche konnten nicht mehr geäußert werden. Eine Diskussion über monströse Pläne, in die menschliche Evolution einzugreifen, kam schlicht nicht mehr infrage. Aus, vorbei, diese Ambivalenz gab es nicht mehr. Das Zeitalter der unumstößlichen Gewissheit hatte begonnen.
Welche Kontextkrisen haben wir heute?
In ihren Ausführungen zur zunehmend offensichtlicheren Krise der Kunstwelt aufgrund der Pandemiebeschränkungen weisen Liam Gillick und J. J. Charlesworth darauf hin, dass die typische „zeitgenössische Kunstkritik“, die sich als Kritik an Großveranstaltungen wie Biennalen und großen Institutionen wie Museen und Galerien versteht, verstummt ist. Die Pandemie hat den Biennalen und Kunstmessen vorübergehend ein Ende gesetzt und auch die Museen weitgehend stillgelegt.9 Daher gibt es auch nichts zu kritisieren, und die Kunstproduktion läuft seit geraumer Zeit ohne größere Kunstevents und aktive Megainstitutionen weiter. Dies bietet indessen die Gelegenheit, um über kontextuelle Krisen jenseits der Institutionen nachzudenken, da die Produktions- und Ausstellungsformen auch ohne Großveranstaltungen problematisch bleiben.
Die hermetische Sprache der Kunst, auch art speak genannt, neigt zur Unklarheit. Man genießt es zwar, unverständlich zu sein, möchte aber nicht unklar sein und mag die eigene Unklarheit auch nicht. Gegnerische Standpunkte sollten deutlich hervortreten, nur ihre Diskussion darf unklar bleiben. Es soll eine Art Pseudospannung erhalten bleiben, doch jenseits der bloßen Rhetorik existieret tatsächlich so etwas wie intellektuelle Ambivalenz, was Ängste entstehen lässt. Obwohl die Vorstellung, dass Literatur und Kunst sich von genau dieser Angst nähren, theoretisch gut klingt, führt sie in der Praxis zu Unwohlsein.
Kann man nun die düster widersprüchliche Nähe eines Schriftstellers zur Eugenik hinnehmen? Im Endeffekt führt Letztere zur rücksichtslosen Theorie, die Menschheit „heilen“ zu wollen, als würde man eine Tierart evolutionär fit machen. Damit baut Eugenik eine Brücke, die direkt zum Bösen führt. Sie ist unserer Meinung nach nicht nur falsch, sie ist mehr als falsch, nämlich unethisch und skrupellos.
Das Gefühl, grundsätzlich auf der richtigen Seite zu stehen (wie es Huxley wohl hatte, als er 1946 sein Vorwort schrieb), setzt voraus, dass man sich Gedanken macht, bevor man schreibt. Wenn aber Ideen abgewirtschaftet haben, kommt es nur noch darauf an, auf welcher Seite man steht. Dies ist im heutigen politischen Klima häufig der Fall und insbesondere in der Kunstwelt bis auf die Knochen zu spüren. Erst ergreift man voreilig Partei, und erst danach werden deren Prämissen langsam entwickelt oder übernommen.
Das Schlimme am Zwang, sofort Partei ergreifen zu müssen, ist, dass er bei allen Beteiligten den Humus für (neue) Ideen austrocknet. Fragen, die sich aus den zugrunde liegenden Ideen ergeben könnten, werden verhindert oder für ungültig erklärt. Dass es heute so schwierig geworden ist, auch nur eine*n Künstler*in zu finden, der oder die sich bei einem wichtigen Thema „auf die falsche Seite“ stellt, ist an sich schon bezeichnend. Allen ist offenbar klar, dass eine Position außerhalb des Konsenses ein Stolperstein in der Karriere ist. Die Botschaft geht an sämtliche Akteur*innen in der Kunstwelt. Bleibt in der Spur! So manifestieren sich die Konsenskultur und ihre Beschränktheit konkret. Es geht darum, den Dämon zum Schweigen zu bringen – und zwar so elegant und unmerklich wie möglich.
Will man nicht völlig vulgär und banal werden, muss man auch den Dämon mitunter zu Wort kommen lassen. Auch in der Kunst sollte der Dämon bisweilen aufstehen und sprechen dürfen. In der Kunst zeigt sich der Dämon dort, wo er die Konsenskultur durchbricht. Um ein einfaches Beispiel zu bringen: Was die Naturzerstörung durch den Menschen angeht, ergreifen wir zuerst Partei und denken erst dann darüber nach. Daraus folgt, dass es sehr unwahrscheinlich ist, jemals an einer Ausstellung teilzunehmen, die die Frage stellt, ob die Natur vielleicht nicht besser doch zerstört werden sollte.
Doch wenn man den Dämon sprechen lässt, heißt das nicht zwangsläufig, dass man ihm zustimmt. „Man muß die bösen Geister bekämpfen“, sagt August Strindberg in seinem deliranten Buch Inferno.10 Der Ich-Erzähler wähnt sich bei jedem seiner Schritte von unbekannten Mächten beobachtet, die sich bisweilen sogar auf seine Seite schlagen. Er macht dabei auf ein wichtiges Erlebnis aufmerksam. Wenn es irgendwo ein böses Ereignis gibt, so erzeugt sein Weitererzählen neues Unheil.11 Man kann also mit dem Bösen keine Scherze treiben. Im Horrorfilm Candymans Fluch (Regie: Bernard Rose, 1992) erscheint der unheilvolle Candyman – eine Art Dämon – jedes Mal, wenn man seinen Namen ausspricht, während man in einen Spiegel schaut. Erst wenn man also den Namen dessen aussprichst, den man nicht erwähnen darf, und wenn man dies noch dazu vor dem Spiegel tut, das heißt, während man sich selbst anblickt, weckt man ihn auf.
Den Teufel und seine Anwälte zum Schweigen zu bringen, mag moralischen Schutz versprechen. Doch ist die Rede des Dämons ja keine Zier. Sie ist nicht elegant, sie hat keine Farbe, sie ist keine eskapistische Prosa, keine Zuflucht in eine andere Welt. Es geht ihr vielmehr darum, das Böse als Idee zu identifizieren und zu hören – in dieser Welt und zugleich in anderen möglichen Welten. In einer Welt aber, die sich um Wahrheit nicht mehr schert, kommt es nur auf die Partei an, die man ergreift, und nicht auf Ideen. Es ist die Welt der Gewissheit. Gegen sie ist einzig die Ambivalenz ein – wenn auch unzuverlässiges – Gegenmittel. Vielleicht sollte man es gerade deshalb mit ihr versuchen.
Die Redensart „den Anwalt des Teufels spielen“ bezieht sich auf Situationen, in denen wir den Dämon zu Wort kommen lassen. In dieser Metapher hat der Advokat jedoch eine berufliche Beziehung zum Teufel. Der Anwalt des Teufels ist die Vernunft, die versucht, die Argumente des Teufels neutral abzuwägen und jene Punkte zu finden, bei denen er recht haben könnte. Der Advokat des Teufels legitimiert sich durch seine Opposition zum Teufel. Denn wenn wir – dank des advocatus diaboli, unserem teuflisch gesinnten Freund in uns selber – die Argumente des Teufels verstehen, können wir ihn vielleicht auch besiegen.
Die Ambivalenz Hitlers
Außerdem spricht der Dämon nicht nur über das Böse. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb der Dichter İlhan Berk ein merkwürdiges Gedicht mit dem Titel „Dünyada Bir Nehir“ („Ein Fluss in der Welt“, 1952 erstmals in einem Buch veröffentlicht). Das lyrische Ich spricht dort von Mussolini und Hitler im Zusammenhang mit seiner eigenen Einsamkeit: „Ich meine, auch ich war / einsam wie Hitler / In dieser Welt war auch ich / einsam wie Mussolini.“12
Nun wissen wir aber, dass Berk ein Dichter war, der den vulgären Nationalismus, den er nicht einmal durch die Brille des Sozialismus oder des Fortschritts interessant fand, scheute. Wenn er sich in Mussolini oder Hitler versetzt, ist es, als würde er ihre Denkmäler gerade deswegen aufsuchen, weil sie als Dämonen schon gefallen sind. Berk schreibt, als die Vampire schon gepfählt sind und nichts Böses mehr tun können. Da in dem Gedicht die Rede davon ist, so einsam wie Hitler und Mussolini zu sein, liegen die beiden Genannten mutmaßlich nach ihren jeweiligen Niederlagen einsam in den letzten Zügen. Die Rede ist also vom Gefühl, allgemein besiegt und verlassen und nicht mehr von Menschenmengen umgeben zu sein.
Was die Kultur der Gewissheit sicher nicht möchte, ist eine derart einfühlsame Annäherung an die Gefühle von Monstern, und schlimmer noch, an ihre Einsamkeitsgefühle. Es ist bemerkenswert, dass Berk, der als Autor recht früh Tieren und Gegenständen literarisch den Vorrang vor Menschen gab und wusste, dass nicht nur Menschen Gefühle haben, sich seiner eigenen Einsamkeit über die von Mussolini und Hitler näherte, welche als Platzhalter für die größtmögliche Einsamkeit dienen. Natürlich könnten die Anhänger*innen der großen Gewissheit fragen: „Na und, sollen wir jetzt Dämonen bemitleiden?“ Wenn ich die Einsamkeit von Hitler und Mussolini mit meiner eigenen vergleiche, führt das dann womöglich noch zu anderen Ähnlichkeiten, die ich mir nicht aussuchen kann?
İlhan Koman und die Aufnahme des anderen 1961 beschrieb der türkischstämmige Künstler İlhan Koman (geboren 1921 in Edirne, gestorben 1986 in Stockholm), der vorwiegend in Schweden lebte und arbeitete, in einem Brief den Inhalt, den ein Kunstwerk seiner Ansicht nach haben sollte: „Dieser Inhalt soll wie das Glied einer Kette sein, an die jederzeit ein neues Glied geknüpft werden kann.“ Und er fügte hinzu: „So wie bei wissenschaftlichen Begriffen. Trotzdem würde ich gerne Kunst machen, die das andere aufzunehmen imstande ist.“13
Aber was ist dieses andere? Koman plädiert hier eindeutig für Offenheit gegenüber dem Unbekannten. Aber wer würde das nicht? Alle Künstler*innen könnten dies für sich in Anspruch nehmen. Künstler*innen, die sich in die Grauzone zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten wagen, sind in jedem Fall ein Gewinn. Das Unbekannte wird in Wirklichkeit aber nur gewagt, wenn es auch gut aussieht. Und das ist heute leider recht selten geworden.
Übersetzt von Thomas Raab
[1] İlhan Berk, Dünyada Bir Nehir, in: ders., Toplu Şiirler. Istanbul 2003, S. 92–93.
[2] Brian Cox mit Andrew Cohen, Forces of Nature. London 2017.
[3] David Bradshaw, „Introduction“ sowie „Aldous Huxley (1894–1963)“, in: Aldous Huxley, Brave New World. Reading 2004, S. V–XXVI.
[4] Aldous Huxley, Kontrapunkt des Lebens. Aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka. München 2017, Kap. 22.
[5] Bradshaw, ebd.
[6] Der türkische Dichter Ece Ayhan (1931–2002) drückte sich so aus, wenn er sich jemandem in der Literatur, aus anderen Künsten oder in der Politik anzunähern versuchte, der etwas anderes als er selbst vorbrachte.
[7] Aldous Huxley, „Foreword“, in: Huxley, Brave New World (s. Anm. 3): S. XXIV–XXXVIII.
[8] Bradshaw, ebd.
[9] Liam Gillick/J. J. Charlesworth, The state of things to come: scenarios under which contemporary art meets its end, in: Art Review, 72/5 (September 2020), S. 48–53.
[10] August Strindberg, Inferno. Übers. v. Christian Morgenstern. Berlin: Hyperionverlag [1919].
[11] Ebd., S. 84.
[12] İlhan Berk, ebd. In Şeytanla Konuşmalar (dt. Gespräche mit dem Teufel) spricht, ficht und diskutiert der Autor Hilmi Ziya Ülken ebenfalls mit dem Teufel. Der Teufel behauptet dort sogar, dass das englische Wort „German“ vom türkischen „Cermen“ käme. Vgl. Hilmi Ziya Ülken, Şeytanla Konuşmalar. Istanbul 2016, S. 125.
[13] Necmi Sönmez, İlhan Koman Sözlüğü. Istanbul 2021, S. 45.