Heft 1/2022 - Free Speech


Komponierte Befreiung

Zur Rolle des „freien Spiels“ in Musik, Kunst und vielem mehr

Christian Höller


Freiheitsansinnen, komplett anders gedacht als in der mittlerweile üblich gewordenen Auslegung als hemmungsloser, alles Andersmeinende negierender Egotismus. Freier Ausdruck, nicht bloß als reflexhafte Abwehr gegen hegemoniale Strukturen, sondern als deren versuchsweise, das Autoritäre daran überwindende Demokratisierung. Freies Spiel schließlich, das sich nicht in individualistischen Spontanimpulsen ergeht, sondern eine komplexere, auch dem Kollektiv verpflichtete Kommunikationskraft entfaltet.
All das umreißt grob jene historische Konstellation, die ab den späten 1950er-Jahren in Bereichen wie Free Jazz, Improv und „freier Musikproduktion“ wirksam wurde. Die zugleich auch – weitaus weniger beachtet – verschiedenste Felder der Kunst zu durchdringen begann, wiewohl die Austauchbeziehungen zwischen Musik und bildnerischem Bereich vielfach in beide Richtungen gingen. Und die bis heute fortlebt, wie jüngst eine Ausstellung in der Bergen Kunsthall (Norwegen) unter dem Titel File Under Freedom versiert aufgezeigt hat.
File Under Freedom zählt zu jenen seltenen Beispielen, die mühelos Historisches und Gegenwärtiges miteinander zu verknüpfen verstehen, ohne dabei in eine geschmäcklerische Klitterung zu verfallen – sich die Historie zurechtbiegen, wie sie einem aus aktueller Sicht gerade gefällt. Vielmehr lässt die Schau vielerlei Resonanzen zwischen Vergangenem und Heutigem zu – Schwingungen, die nicht immer in Harmonie aufgehen bzw. den versammelten Arbeiten durchgehend ihre eigene, oft renitente Strahlkraft belassen. Dabei ist das vertretene Spektrum weit gestreut, von raren Free-Jazz-Dokumenten und daran angelehnter abstrakter Kunst über Beispiele grafischer Notation und für Bühnensettings gedachten Textilarbeiten bis hin zu aktuellen künstlerischen (filmischen) Annäherungen an die Geschichte der freien Improvisation. Was sie alle miteinander verbindet – und zugleich im Verhältnis zueinander ausdifferenziert –, ist ein just heute nötiges Korrektiv: den zugrunde liegenden Freiheitsgedanken nicht individualistisch verkürzt zu deuten, sondern im Hinblick auf kollektive, ein größeres Gemeinsames mitbedenkende Anliegen.
Die implizite Grundthese lautet: Freies Improvisieren ist nicht die Antithese von Komposition – wiewohl sich der Aufbruch der radikalen Improv-Szene in den 1960er-Jahren zu einem guten Teil in Abgrenzung von vor-notierter, also „geschriebener“ Musik vollzog. Das freie Spiel stellt vielmehr eine andere, höherwertige Form des Komponierens dar. Oder wie es einer der Gewährsmänner der Ausstellung, der in ihr auch vertretene Musiker/Maler Roscoe Mitchell einmal auf den Punkt gebracht hat: „If one wants to be a good improviser, one has to know how composition works so one can execute it in real time.“ Mitchell, seines Zeichens Mitbegründer des Art Ensemble of Chicago und der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), wusste, wovon er sprach: Haben die über 100 Alben, auf denen er zu hören ist (zumeist als Saxofonist), sowie die Malereien, die er gleichfalls seit den 1960er-Jahren kontinuierlich produziert, nie aufgehört, Freiheit als strukturbedingt zu begreifen – und genau diese Dialektik von innen her auszuloten.
Ein anderer historischer Eckpfeiler der Schau, der radikale Improvisationsansatz von Alvin Curran bzw. der 1966 von ihm in Rom gegründeten Gruppe Musica Elettronica Viva (MEV), wird – nebst umfassenden Archivalien – in Form eines filmischen Porträts aufbereitet. In Eric Baudelaires When There Is No More Music to Write, and other Roman Stories (2022) kommt Curran ausgiebig zu Wort und erklärt, wie der Geist der Zeit es notwendig erschienen ließ, Musik nicht länger auf Papier zu komponieren, sondern live, spontan, in Echtzeit entstehen zu lassen. Auf diese Weise sollte eine egalitärere Beziehung zum Publikum hergestellt und darüber hinaus eine umfassendere Auflehnung gegen den Status quo artikuliert werden, in dem jegliche Transzendenz des etablierten Systems ausgeschlossen schien. Curran beschwört die Kraft der spontanen Musik als „imaginärer Transportmechanismus an Orte, an denen man nie zuvor gewesen ist“. Baudelaire liefert dazu archivarische Fundstücke und Momente filmischer Abstraktion, die so weitgesteckt sind, dass darin auch eine Episode rund um die Entführung des Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden 1978 Platz findet. Auch für Baudelaires (von Currans Klangästhetik ausgehender) Annäherung gilt: Freies Spiel meint nicht das beliebige Assoziieren von Bildern, sondern den kontinuierlichen Akt kompositionsgeleiteter Grenzerweiterung.
„Den Schwarzen mangelt es in erster Linie an Disziplin“, wird Sun Ra in Emilija Škarnulytės Filmskizze Abshalom the Prophet (2022) zitiert. Weswegen er, Ra, vom Saturn auf die Erde herabsteigen musste, um den Schwarzen die Kunde einer – disziplinierten, eben nicht bloß „freigeistigen“ – afrofuturistischen Erlösung zu überbringen. Erzählt wird das Ganze von Abshalom Ben Shlomo (ehemals Virgil Pumphrey), der eine Zeit lang Sun Ra’s Arkestra angehörte und inzwischen als Angehöriger der Schwarzen Hebräer in der Negev-Wüste lebt. Sun Ra mag einer der naheliegendsten Kandidaten für eine Ausstellung wie File Under Freedom sein, und doch überraschen auch hier einzelne Artefakte. So zeichnen die großformatigen Fotografien von Ming Smith ein quasi-ätherisches Bild von Ra als einem Sternenwesen, dessen Konturen sich im Hier und Heute nicht wirklich fassen lassen. (Ra starb 1993, die Fotos stammen aus dem Jahr 1978.) Und die Künstlerin/Filmemacherin Cauleen Smith ließ 2011 eine High School Marching Band Sun Ra’s berühmtes „Space is the Place“ in den regennassen Straßen von Chicago performen – ein Marsch, den sie auf Video festgehalten hat und der gleichfalls Ra’s Diktum von der disziplingeleiteten Befreiung unterstreicht. (Dass auch Sun Ra’s legendäre 1973er-LP Discipline 27-II anhand der Original-Druckplatten des Covers vertreten ist, mag angesichts der teils überbordenden Archivalien in der Schau zunächst etwas untergehen, stellt aber dennoch einen wichtigen Fingerzeig hinsichtlich des medienübergreifenden „freien“ Produzierens dar, um das es hier geht.)
Einer, der dieses sparten- und medienübergreifende Produzieren auf das Eindrücklichste praktiziert hat, ist der 2021 verstorbene Free-Jazz-Schlagzeuger Milford Graves. Graves war ab Mitte der 1960er-Jahre, unter anderem mit dem New York Art Quartet, in Erscheinung getreten und blieb bis an sein Lebensende in unterschiedlichsten Ensembleformationen – weit über die Musik hinaus – aktiv. File Under Freedom widmet ihm und seiner vielgestaltigen „Rhythmuspraxis“ einen eigenen Bereich: So sind neben ausgewählten Performances (auf Video) auch Graves’ Herzrhythmusforschungen, seine Beschäftigung mit Akupunktur und alternativen Heilmethoden, die Entwicklung einer eigenen Martial-Arts-Variante (Yara) und vor allem auch seine Zeichnungen und Collagen präsent. Letztere zeigen den Ausnahmemusiker als bereits von der Krankheit gezeichnet, in Form von krakeligen Einschreibungen und verquer-vitalistischen Vignetten aber immer noch am Funktionieren des großen rhythmischen Ganzen (sprich des Universums) interessiert. Solcherlei Anspruch auf ein kosmisches, über das unmittelbare Jetzt hinausreichendes Verstehen ging bei Graves Hand in Hand mit einer Perkussionsphilosophie, die im Schlagzeugspiel mehr sieht als ein den Ensembleklang unterfütterndes „beat keeping“. Im Trommeln – und allem, was konzentrisch damit zusammenhing – sah Graves eine eigenständige improvisatorische Größe, ein kosmosübergreifendes Befreiungsmoment. Etwas, wovon sein expressiv bemaltes Schlagzeug ebenso Zeugnis ablegt wie sein umfassendes zu entdeckendes zeichnerisches Vermächtnis.
Einen weiteren Schwerpunkt der Ausstellung bildet das gemeinsame Werk von Don und Moki Cherry. Seit Kurzem wiederentdeckt – federführend war dabei Blank Space in New York1 –, eröffnen die versammelten Arbeiten Einblicke in das Funktionieren des „Organic Music Theatre“. So nannten die Cherrys, gemeinsam aktiv von 1967 bis 1976, ihre Performancesettings mit eigens angefertigten Kostümen, transportablen Bühnenbildern (meist aus Mokis Tapisserien bestehend), einem zusehends „globaleren“ Musikkonzept – und einer damit einhergehenden Lebenspraxis, die zwischen niedrigschwelligen Workshops (etwa für Kinder) und großen Bühnen bzw. Museen pendelte. 1971 lebten – und musizierten – die Cherrys mehrere Wochen in einer speziell für sie errichteten geodätischen Kuppel im Rahmen der Ausstellung Utopia and Visions im Stockholmer Moderna Museet – eine Art live, vor Ort gelebter Kristallisationspunkt der von ihnen projektierten „Organic Music Society“. In der Bergen-Schau ist davon eine von der Decke hängende, weiche Stoffskulptur von Moki Cherry enthalten, die zusammen mit den rundum versammelten Stickereien, teils mit surrealen, aber stets freundlich-bunten Fratzen versehen, den transgressiven gestalterischen Impuls hinter diesem Konzept verdeutlichen. Die Cherrys hatten sich ab 1970 in einem alten Schulhaus in Südschweden niedergelassen, wurden vielfach vom schwedischen und norwegischen Fernsehen hofiert (auch davon Zeugnisse in der Schau) – und praktizierten ihre organische Musik mit zahlreichen lokalen Free-Music-Größen (etwa Jan Garbarek, wovon die Cherry-Forschung bislang wenig wusste, nun aber anlässlich der Ausstellung allerhand Aufschlussreiches erfährt).
Überhaupt legt File Under Freedom ein großes Augenmerk auf die Skandinavien-Bezüge des hier umrissenen Felds – nicht so sehr anhand der vielen Free-Jazz-Pioniertaten in dieser Region, sondern am Beispiel einiger außerhalb Skandinaviens kaum bekannter Künstler*innen. Eine davon ist Sidsel Paaske (1937–80), die gemeinsam mit den Cherrys und Garbarek musizierte, darüber hinaus aber durch ihre Malereien und Papierarbeiten einen lebhaften Eindruck in der Schau hinterlässt. Paaske produzierte zum einem grafische Notationen (teils 40 Meter lang), zum anderen abstrakte Kompositionen, die wie rhythmisierte Kondensate einer umfassenderen Musikbeschäftigung wirken. Auch bei ihr stellt das Kompositorische, auf Basis erst noch zu entschlüsselnder Parameter, das Hauptportal eines transmedialen Befreiungsdenkens dar.
Weitere regionale Entdeckungen in der Schau sind Olle Bonniér und Svein Finnerud (Letzterer im Free-Jazz-Bereich mit seinem Trio ein Begriff). Bonniér (1925–2016) hatte bereits 1949 eine grafische Musiknotation unter dem Titel Plingaling, bestehend aus kleinen farbigen Punkten, erstellt. Noch minimalistischer, aber in ihrer Reduktion durchaus bestechend, nimmt sich sein Score for Invisible Sound (1984) aus, der auf sechs weißen Blättern nahezu unmerkliche strichförmige Einschreibungen ausbreitet. Ebenfalls zeichnerisch, aber um einiges dichter komponiert, sind die Papierarbeiten des norwegischen Pianisten Svein Finnerud (1945–2000). Finnerud arbeitete mit dichten Schraffuren, teils auch mit feinteiligen organigrammartigen Skizzen, deren improvisatorisches, „unfertiges“ Moment genügend Spielraum für atonale Umsetzungen lässt. So sie tatsächlich je als Notationen für Live-Klänge dienten, die bei Finnerud so wie bei den meisten Proponent*innen der freien Szene mehr von momenthafter Kompositorik denn von vorab verschriftlichen Mustern geprägt waren.
„The only way you can really achieve something is if you’re not working so much from a pattern“, sagt der 96-jährige Bildhauer Thaddeus Mosley, der mit drei „skulpturalen Improvisationen“ (wie er sie nennt) in der Schau vertreten ist. Mosleys handgeschnitzte Hommagen an Jazzgrößen wie Thelonius Monk beleben mit ihrer Dynamik aus hölzerner Schwere und gewagter Balance einen weiteren Hauptraum. Darin sind auch bildnerische bzw. skulpturale Varianten des „freien Spiels“ vertreten, etwa Peter Brötzmanns seit Beginn seiner Karriere „nebenher“ produzierte Assemblagen oder Matana Roberts’ (auch sie in erster Linie Musikerin) aquarellierte Düstercollagen, der – auf der Rückseite der Bilder versteckt – kleine Soundkomponenten beigefügt sind. In diesem Bereich der Ausstellung schwingen Echos anderer Werke mit: So lassen Lisa Alvarados freihängende geometrische Malereien entfernt an Moki Cherrys ungleich fluidere Tapisserien denken; indessen evozieren die superben Ölbildkompositionen von Zak Prekop (auch er eine kleine Entdeckung) das Wechselspiel von wilder Spontaneität und durchdachter Strukturalität, wie es auch die Bilder von Sidsel Paaske auszeichnet. Dass der Spirit der „freien“ Musik künstlerisch nicht notgedrungen in abstrakte Expression münden muss, sondern Platz für weitaus mehr Gestaltungsoptionen lässt, wird durch das hier vertretene Formenspektrum nachdrücklich unterstrichen.
Zuletzt bleibt noch der politische Aspekt (Protest, Selbstermächtigung, neue Weltentwürfe), der sich wie ein roter Faden, nicht immer auf Anhieb ersichtlich, aber nichtsdestotrotz medienübergreifend wirksam, durch die Ausstellung zieht. Bestes Beispiel dafür sind die kunstvoll gebauten Regenmacher von Douglas R. Ewart (so wie Roscoe Mitchell lange Zeit Mitglied der Chicagoer AAMC). Ewart erweist mit Truth Is Power, The Tongue Is Mightier Than The Sword (2019) neun teils vergessenen Black-Power-Aktivist*innen die lange Zeit versagt gebliebene Ehre. Und mit dem aus Kuchenformen (!) zusammengesetzten Regenstab George Floyd Bundt Staff (2020) erinnert Ewart an ein äußerst düsteres Kapitel rassistischer Polizeigewalt (der 2020 ermordete Floyd hatte im gleichen Viertel von Minneapolis wie Ewart gelebt). Das „Idiophon“, wie der Künstler die mittels der Backformen bewusst trivial bestückte Stabskulptur nennt, kann jederzeit als Musikinstrument aktiviert werden. Nicht nur um den Protest gegen die unfassbare Einzeltat perkussiv auszuagieren, sondern um ein allgemeineres Befreiungsansinnen geltend zu machen: „There are hundreds of George Floyds throughout Planet Earth who are murdered, because of their color, ethnicity, ‚Race‘ and designated cast, and economic standing on a daily basis“, schreibt Ewart und bringt damit die Essenz des hier bemühten Freiheitsdiskurses auf den Punkt.
Freiheit, so das Fazit, kann nur als kollektiv komponierte, das Partikulare zugleich überschreitende und bewahrende Aufhebung gelingen. Oder sie wird – in Form von individualistischer Zersplitterung – nie und nimmer gelingen.

File Under Freedom, Bergen Kunsthall, 5. Februar bis 27. März 2022; alle im Text enthaltenen Zitate stammen aus der Ausstellungsbroschüre.

 

 

[1] Hier fand 2021 die Ausstellung Organic Music Societies: Don and Moki Cherry statt (aktuell zu sehen im ARGOS Brüssel); dazu erschien ein ausnehmend guter, gleichnamiger Sammelband (https://blankforms.org/publication/blank-forms-06-organic-music-societies/); 2021 zeigte Corbett vs. Dempsey Chicago die Schau Moki Cherry – Communicate, How? Paintings and Tapestries 1967–1980; bereits 2016/17 war im Moderna Museet Stockholm Moment – Moki Cherry zu sehen gewesen.