Heft 1/2022 - Lektüre
Nach langer Arbeit hat Helmut Draxler ein Buch vorgelegt, dass den Kunsttheoretiker und -kritiker als souveränen Historiker zeigt. Besonders beeindruckt bin ich von den Kapiteln 3 bis 6 des Buchs. Draxler bezieht hier die traditionell unterschiedenen Bereiche seines enormen Gegenstandsfelds, der niederländischen Malerei zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert, auf vier „spekulative Bildbegriffe“, die zwischen der Materialerschließung und der kunsttheoretischen Reflexion vermitteln. In das Bild als Schwelle beschreibt er den altniederländischen Bildtyp, der anders als das Alberti’sche Fenster eine intime Nähe des Dargestellten evoziert: Das Bild ist eine Übergangszone zwischen einem (oft sakralen) Gehalt und der empirischen Wirklichkeit, der es in seiner emphatischen Handwerklichkeit selbst angehört. In der vom Konfessionsstreit zerrissenen Welt der Mitte des 16. Jahrhunderts und unter Bedingungen der Produktion für einen differenzierten Bildermarkt in den kapitalistischen Zentren spezifiziert sich diese Schwelle zum Ort der Aushandlung moralischer, politischer und epistemischer Antagonismen. In diese verwickelt sich, wie Draxler im Anschluss unter anderem an Victor Stoichitas Das selbstbewußte Bild (1998) zeigt, der zweite Bildtyp, das antagonistische Bild – mit strategischer Absicht, um seine eigene Stellung zwischen Demonstration und Täuschung auszuloten. Unter dem Titel des analytischen Bildes schließlich wird die Malerei der nördlichen (republikanisch-protestantischen) Niederlande (von ca. 1600 in Haarlem bis zu Vermeer), unter dem des synthetischen Bildes die dynastisch-katholische „flämische“ Malerei des 17. Jahrhunderts (bes. Jan Bruegel und Rubens) diskutiert, wobei Analyse und Synthese sich ebenso auf mediale Bedingungen der Malerei wie auf ihre Gegenstandsseite beziehen.
Die ca. 330 Seiten bestehen aus vielen differenzierten Werkanalysen, die argumentativ verknüpft, im zeithistorischen Kontext verankert und auf die „spekulativen“ Leitbegriffe des jeweiligen Kapitels bezogen werden. Unangestrengt wechseln die Blickdistanzen – von knappen philosophiehistorischen Hinweisen (etwa zur „analytischen“ Methode von Descartes) über die Charakteristik der leitenden Bildbegriffe bis zu den detaillierten Werkanalysen. Diese sind Kondensate langer Seharbeit, von der am meisten mit dem Blick auf die Gegenstände profitiert werden kann. (Die Fußnoten des sparsam bebilderten Bands enthalten Links zu guten Bilddateien.) Von subtilen Details bis zur Konstellation philosophischer Grundbegriffe wird das Ganze in einem kühlen, unaufgeregt stilllosen Stil vorgebracht, der sich Tempo und Nachdruck scheinbar ganz vom Gegenstand vorgeben lässt. Die Kapitel gehören zur besten kunsthistorischen Prosa, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.
Dennoch ist das Buch letztlich etwas ganz anderes als eine besonders prägnante und klug geordnete „Geschichte“ der niederländischen Malerei. Ohne das Material zu „aktualisieren“ oder auf eine überzeitliche Form- oder Theoriefrage zu beziehen, will Draxler die niederländische Malerei und ihre (Wirkungs-)Geschichte für das Verständnis der Kunst der Moderne und Gegenwart nutzbar machen. Dieses Vorhaben ist in den theoretischen Abschnitten des Buchs (Vorwort, zwei Einleitungen, Schluss) entfaltet. Für den dabei leitenden Begriff der Moderne ist für Draxler der „Mangel“ eines „ontologischen Grund[es]“ der (politischen) Repräsentation zentral, ein Mangel, der von den vielfältigen „symbolischen“ Vermittlungsinstanzen kompensiert wird, die modernen Gesellschaften diskursiv aufbereitete Sinnhorizonte anbieten. In der niederländischen Malerei, die in der behandelten Epoche die stabile politisch-religiöse Funktion verliert und deshalb zunehmend an einen Allgemeinbegriff von Kunst appelliert, sieht Draxler strukturelle Voraussetzungen dieser Konstellation. Die „Unbestimmtheit“ von Kunst in der Moderne fasst er nicht formalistisch verengt als Verlust der Gattungsdisziplin oder als Diversifikation von Materialien und Verfahren, sondern als die Labilisierung des Wahrheitsanspruchs von Kunst, den diese, „autonom“ geworden, nur mehr zur offenen Diskussion stellen kann. Die Beziehungen der niederländischen Malerei zur so verstandenen Moderne werden daher auch nicht in der Form von „Einflussgeschichten“, sondern auf einer diskursgeschichtlichen Ebene verfolgt – in der Absicht, Blockaden und erstarrte Schemata der modernen Kunstkritik aufzulösen – etwa begriffliche Oppositionen wie die von Repräsentation und Reflexion oder von Theatralität und Absorption, die in der niederländischen Malerei noch in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit greifbar sind.
So macht das Buch eine Vorgeschichte von konzeptuellen und kontextreflexiven Verfahren der Kunst der Moderne und Gegenwart sichtbar, während die heroischen Narrative der Überwindung (der Perspektive, der Repräsentation, Tradition) grundlegend relativiert werden. Vor allem aber trägt die diskursgeschichtliche Rahmung dazu bei, dass der Zeitenabstand als konkreter geschichtlicher Zusammenhang fassbar wird und so die Gegenstände in ihrer spezifischen Historizität und ihrer aktuellen Relevanz zugleich erfahrbar werden. Ein eventuell subversiver Gebrauchswert des Buchs für die Gegenwart geht, würde ich prophezeien, mehr noch als von dem im Grundriss dargelegten theoretischen Programm, von der Präsenz und Fragwürdigkeit aus, die diese Gegenstände – die niederländischen Gemälde – in Draxlers insofern doch nicht nur historiografischer, sondern kritisch evaluierender Behandlung gewinnen.