Die Suche nach einer Erklärung für das zunehmende Erstarken der Rechten in Osteuropa hat die Künstlerin Ilona Németh zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Geschichte der Zuckerproduktion, nicht nur in Osteuropa, gebracht. In ihrem nunmehr auch in Buchform vorliegenden Ausstellungsprojekt Eastern Sugar bereitet sie diese historisch auf: beginnend bei der Versklavung von Menschen für den Abbau von Zuckerrohr über den Anbau der Zuckerrübe bis hin zu den osteuropäischen Zuckerfabriken, ihrer Privatisierung nach dem Mauerfall und deren Ende durch eine EU-Zuckerquote im Jahr 2006/07.
Aufgewachsen im slowakischen Dunajská Streda war die Künstlerin, die später länger in Ungarn lebte, Zeugin der tiefgreifenden Transformationen, die die Privatisierung der lokalen Zuckerfabrik durch ein französisch-britisches Joint Venture nach dem Fall des Kommunismus mit sich brachte. Anstelle von ehemals „Juhocukor“ („Südzucker“) prangte bald der Name „Eastern Sugar“ über der Empfangshalle in Dunajská Streda und anderen Zuckerfabriken, deren Geschichten die Künstlerin in Form von Interviews mit den damals in den Fabriken Tätigen, mit Texten von Ökonom*innen und Soziolog*innen, mit historischem Bildmaterial und Fotoessays (gemeinsam mit Olja Triaška Stefanović) dokumentiert.
Bis auf zwei Standorte, das machen die Bildbeiträge deutlich, sind heute von den ehemals 15 Zuckerfabriken in Tschechien, der Slowakei und Ungarn nur noch die Ruinen übrig: demolierte Zuckersilos, Schornsteine, riesige Skelette von Produktionshallen, betonierte Wagontrassen, aber auch Speisesäle und administrative Gebäude, deren Einrichtung – wie jene in der Zuckerfabrik in Kaba – seit der Schließung im Jahr 2007 völlig unberührt blieb.
Die Ursachen für den Niedergang der Zuckerindustrie sieht Németh in einer Vielzahl von Faktoren. Da war der gierige Expansionsdrang westlicher Investor*innen, die selbst die EU-Zuckerquote für sich zu nutzen wussten, aber auch eine verfehlte Art der Privatisierung, der sogenannten Coupon-Privatisierung, die – obwohl eine Idee des Volkskapitalismus – letztlich doch nur gewieften und/oder korrupten Einzelnen in die Hände spielte.
In ihrem Gespräch arbeiten Fedor Blaščák, Aktivist, und Rado Bato, Journalist, die Fehler auf, die bei der Neuverteilung des Volksvermögens durch gängige, wiewohl kriminelle Praktiken gemacht wurden, etwa des „Tunneling“, wo zum Zweck der Minimierung der finanziellen Verbindlichkeiten der Muttergesellschaft ein undurchsichtiges Netzwerk neuer Firmen gegründet wurde – inklusive Offshore-Konstruktionen, die es ermöglichten, Profite abzuschöpfen, obwohl die Mutterfirmen mit riesigen Bankdarlehen belastet waren.
Blaščák weist darauf hin, dass es eigentlich jahrzehntelange Überlegungen gab, wie man das sozialistische Modell reformieren könnte, und genau da setzt auch das Interview der beiden Co-Herausgeber*innen, Maja und Reuben Fowkes, mit Johanna Bockman, Professorin für Soziologie und Global Studies, an: „Neoliberal Capitalism was not the Only Option“ titelt der Beitrag, in dem sie sich auf sozialistische Ökonom*innen bezieht, die in „echten“ Wettbewerbsmärkten, in der Reorganisation sozialistischer Institutionen durch Vergesellschaftung, im Zulassen nicht-staatlicher Unternehmen oder in Formen der Selbstverwaltung durch Arbeiter*innen Potenzial für Reformen sahen.
Nach einer anfänglichen Euphorie setzte sich jedoch bald das Narrativ (geprägt von David Lipton und Jeffrey Sachs) durch, wonach die sozialistische Ökonomie am Boden läge und es besser wäre, die Ruinen zu beseitigen und neu zu beginnen. Bockman beschreibt die staatlich initiierte „Schocktherapie“ folgendermaßen: Die Unternehmen wurden an kapitalistische Eigentümer verkauft, das Wohlfahrtsystem abgebaut, massenhaft Arbeiter*innen entlassen und so die Märkte, die Politik und die Gesellschaft neu ausgerichtet.
Für Menschen, die bis dahin von den sozialistischen Werten überzeugt waren, war die Anpassung umso schwieriger, schreibt Joanna Sokołowska, die in ihrem Text ebenfalls das Trauma beschreibt, das die Menschen aufgrund der „unerwarteten, systematischen und allesumfassenden Natur des Wandels“ durchlebten. Das emanzipatorische Potenzial der Gleichheit, das einst mit dem Kommunismus verknüpft war, wurde aktiv ausgelöscht, und das nicht nur in den ehemals sozialistischen Ländern, schreibt die Kuratorin im Muzeum Sztuki in Łódź: „Post-socialism is a global condition, for the memory of communism has been eroded with the memory of class, social conflict, and the the social character of reality.“
Beispielhaft für diese Entwicklung, die die Populisten mit ihren einfachen Freund-Feind-Schemata (EU, LGBTQ etc.) und mythologisierten Geschichtsbildern für sich nutzten, beschreibt Edit András, wie Viktor Orbán Ungarn in eine illiberale Demokratie verwandelt hat.
Dazu gehört sein Geschichtsbild, wonach Ungarn Opfer zweier Okkupationen, nämlich der durch die Nazis und jener der Sowjets, war. Dass Orbán die ungarische Gesellschaft sukzessive an seine Sichtweise gewöhnte, hat Ilona Németh bereits 2013 zum Gegenstand einer Aktion gemacht, die der scheibchenweisen „Entpolitisierung“ der ungarischen Literatur, Theater und Museen galt.
Genau dort, also in Kunst und Kultur, schreibt Edit András, werden aber die Werte einer Gesellschaft ausgehandelt. Ihre Auseinandersetzung mit der Orbán’schen Verdrehung der Realität endet deswegen auch in einem flammenden Plädoyer für künstlerische Projekte wie Eastern Sugar, die die Komplexität globaler Zusammenhänge ins Feld führen, um mit den vereinfachenden Erzählungen der „allgegenwärtigen populistischen Mentalität und den von ihr geschaffenen falschen Illusionen“ zu brechen.