Heft 1/2022 - Lektüre
Philosophie und Lust unterhalten schon immer enge Verbindungen. Was in der Antike als fruchtbares Begehren erscheint, wird allerdings im Christentum fanatisch negiert. Im Zuge der Aufklärung änderte sich das zwar wieder, es dauerte jedoch weitere Epochen, bis der Existentialismus mit Jean-Paul Sartre erstmals die Berücksichtigung der Sexualität als „notwendig“ erkannte und die Erektion von Penis und Klitoris (sic!) zur Sprache brachte. Simone de Beauvoir war dann die Erste, die der Vulva eine eigene Bedeutung verlieh, und ihr Werk Das andere Geschlecht ist auch derjenige historische Moment, den Catherine Malabou als entscheidenden Wendepunkt im theoretischen Selbstverständnis der Frau begreift.
Denn Beauvoir bezieht nicht nur gegen die Rolle der Frau als zugleich ängstigendem und vom Mann zu unterwerfendem Wesen entschieden Stellung, sondern weist darüber hinaus die Theorie vom Geschlechterkampf, die auf Hegels Dialektik von Herr und Knecht beruht, als unzulänglich zurück. Während die Vagina als genaues Pendant zur männlich aneignenden Lust und dem Primat der Fortpflanzung dienendes Organ verstanden werden kann, ist es nach ihrer Auffassung die Klitoris, die sich dieser Logik widersetzt, indem sie unabhängig vom eindimensionalen Triebziel lustvolle Empfindungen ermöglicht.
Diesem Insistieren auf einem genuin weiblichen Organ begegnete die erst im Lauf der Frauenbewegung entstandene Gendertheorie mit dem Vorwurf des Essentialismus – in dem Versuch, „Weiblichkeit“ als rein soziale Konstruktion zurückzuweisen. Wenn Malabou dem ein „Feminines“ entgegenhält, das sehr wohl an das Vorhandensein eines Organs (und seiner Verdrängungsgeschichte) gebunden ist, bestreitet sie jene Rollenbilder und die Erfindung ihrer angeblich natürlichen Grundlagen keineswegs (auch Beauvoir hat das nicht getan); sie sieht jedoch im weiblichen Körper ein besonderes Vermögen, eine somatische Qualität, die einen Unterschied macht, und tritt für deren Widerstandspotenzial ein.
Von da aus durchläuft der Text in Kurzform eine Reihe von Marksteinen feministischer Theorie. Es versteht sich, dass auch die Auseinandersetzungen innerhalb der Psychoanalyse hierbei nicht fehlen können. Freuds Erforschung der Sexualität implizierte zwar die Erkundung jenes „dunklen Kontinents“, den die Frau mit ihren beiden Sexualorganen darstellte, dennoch konstruierte er seine Theorie entlang des Phallus. Einige seiner Schüler*innen kamen zu anderen Schlüssen, widersprachen etwa der Theorie des „Penisneids“. Ein eigenes Kapitel widmet Malabou dem von Jacques Lacan organisierten Kongress über weibliche Sexualität, auf dem Françoise Dolto 1960 widerstrebend das Primat des Penis anerkannte, indem sie die Notwendigkeit betonte, dass das Mädchen die klitorale Lust zugunsten der vaginalen aufgibt. Lacan verachtete die Theorie Simone de Beauvoirs, und seine Schüler*innen wagten ihm offenbar nicht zu widersprechen.
Die kurz behandelten Positionen von Luce Irigaray und Carla Lonzi, aktueller die von Paul B. Preciado, gehören einer Reihe vehementer Einsprüche gegenüber dieser Arroganz an und repräsentieren einen Prozess weiblicher Subjektivierung, den die offizielle Psychoanalyse offenbar bis heute nicht akzeptieren kann, wie den aktuellen Erfahrungsberichten von Preciado mit bestürzender Deutlichkeit zu entnehmen ist.
Nicht weniger wichtig dürfte aber der Umgang mit der Klitoris sein, der jenseits westlich geprägter „Normalität“ zu registrieren ist: Die verbreitete Praxis der Klitorisbeschneidung – aktuell davon betroffen sind 200 Millionen Frauen, 44 Millionen jünger als 15 Jahre – wird vonseiten der WHO seit den 1970er-Jahren als „Verstümmelung“ verurteilt. Die Opfer sprechen selten darüber, da der soziale Druck dies nicht zulässt. Wenige Erfahrungsberichte, wie jene der Afroamerikanerin Alice Walker, schildern die damit verbundenen, beinahe tödlichen Schmerzen und die lebenslange Traumatisierung. Allerdings wird auch hier neuerdings ein Zweifel laut: ob nicht die Benennung „Verstümmelung“ ihrerseits eine Form der Stigmatisierung und Herabsetzung, sowohl der Betroffenen als auch von deren Kulturen sei. Ist also womöglich die Sprache der Emanzipation eine weitere Form kolonialistischer Missachtung? Und was ändert sich in diesem Geflecht von Fremd- und Selbsteinschätzungen durch jene Formen der unfreiwilligen operativen Umwandlung von Sexualorganen, deren Ausmaß durch die Aufmerksamkeit für Transgenderthemen erst seit Kurzem überhaupt deutlich wurde?
Um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sich einem freien Umgang mit der Lust entgegenstellen, wird sich also die Philosophie selbst weiter hinterfragen müssen. Malabou nimmt diese Herausforderung nicht zuletzt im Verfolgen der Spur an, die mit Jacques Derridas unnachgiebiger Dekonstruktion der „Phallogokratie“ als herrschender Denkweise begonnen hat und die Selbstgewissheiten, die aus der Leugnung des Schmerzes der anderen gewonnen werden, zu Fall zu bringen versucht. Ihr Plädoyer für eine klitorale Zone des Logos nutzt das Potenzial der Philosophie, Binarismen zu transzendieren, und bildet dafür selbst ein plastisches Beispiel. Die Klitoris erlaubt es demnach, den Abstand zwischen Begehren und Befriedigung zu verselbstständigen – sie wäre ein Sinnesorgan, das Gelegenheiten registriert, verfestigte Phantasmen in Fluss zu bringen.