Heft 1/2022 - Netzteil


Multimediale Freakshows

In bildgewaltiger Kombinatorik inspiziert Rui Zhang die menschliche Wahrnehmung und Kommunikation

Bettina Maria Brosowsky


Das Ausstellen von biologischen Selten- und Besonderheiten, in ihrer aktuellen, populärkulturellen Variante als Freakshow bezeichnet, hat eine lange und problematische Tradition. Spätestens seit dem Mittelalter wurden besonders große oder extrem kleine Menschen sowie andere, von der gängigen Norm abweichende körperliche Phänomene auf Jahrmärkten zur Schau gestellt und bedienten dort ein voyeuristisches Publikum. Im 19. Jahrhundert kamen dann sogenannte Völkerschauen mit kolonialer Perspektive in Mode: Angehörige fremder Ethnien, Personen aus fernen Ländern wurden als Menschengruppen gemäß ihrer vorgeblich urwüchsigen Prägung, etwa als Kannibalen, vorgeführt oder mussten sich während charakteristischer Handwerkstätigkeiten und Tänze präsentieren – ein Menschenzoo, der oft in entsprechenden Einrichtungen wie etwa Hagenbecks Tierpark in Hamburg angesiedelt wurde.
Ein kulturalisiertes Wesen besonderer Art beschäftigt die chinesische Künstlerin Rui Zhang seit ihrer Kindheit: das Vasenmädchen. Sie begegnete ihm erstmals in einem traditionellen chinesischen Zirkus. Das Mädchen wurde, so will es die Mär, kurz nach der Geburt von seiner Mutter in eine Vase gesteckt, so dass sich nur der Kopf (und damit der Intellekt) entwickeln konnte, während der Körper in dem Gefäß verkümmerte. Das Schicksal des Vasenmädchens berührt, selbst wenn es sich im Detail nicht erklären lässt – aber: Es scheint intelligent, stellt seinem Gegenüber Fragen und eröffnet einen Dialog. Es wirkt so als ein subtiler, erkenntnisstiftender Spiegel der Betrachtenden. Dass es sich bei dem Vasenmädchen lediglich um eine (optische) Täuschung handelte, erkannte Rui Zhang zwar genau, sie wollte aber weiterhin an die reale Existenz dieses fiktiven Wesens glauben. Und so wurde die in ein Gespräch verwickelte Person, das kommunikative Gegenüber des Vasenmädchens, allmählich zum Alter Ego der Künstlerin, oder wie sie es selber unter Verwendung eines philosophischen Topos des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan ausdrückt, es ist ihr „kleines Anderes“, a little other.
Rui Zhang wurde 1989 in der industriell geprägten Provinz Anhui nahe Shanghai geboren. Schon während der Schulzeit erhielt sie an einem speziellen Gymnasium intensiven künstlerischen Unterricht, der auf die harte Selektion an der Central Academy of Fine Arts in Peking vorbereiten sollte. Dort absolvierte sie bis 2010 ein Studium der bildenden Kunst, Schwerpunkt Ölmalerei. Seit 2012 lebt sie in Deutschland, hat ihr Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig fortgesetzt. Sie diplomierte 2017 mit Auszeichnung und schloss 2018 ihr Meisterschuljahr bei Wolfgang Ellenrieder ab. Ihre erste Professorin in Deutschland, die aus Bukarest gebürtige Videokünstlerin und Filmemacherin Aurelia Mihai, legte ihr die Animation nahe, für weitere Impulse in der Malerei und wohl auch installativer Formate sorgte Ellenrieder. Rui Zhang ist mittlerweile in virtuellen Welten ebenso zu Hause wie in der Malerei und Zeichnung, der raumbezogenen Arbeit, dem Objekt sowie handwerklichen Drucktechniken. Sie kombiniert diese Medien, auch unter Infragestellung des jeweiligen Genres, etwa, wenn sie Serigrafien übermalt und sie so zu künstlerischen Unikaten erhebt. In der Regel durchdringen sich Analoges und Digitales zu schillernden, motivstrotzenden, chaotischen bis verstörend dystopischen Sujets und Bildräumen.
Aufgewachsen um die Jahrtausendwende in einer chinesischen Kultur globaler Neuorientierung, mittlerweile aber auch durch die divergenten, westlichen Lebenswirklichkeiten geprägt, hat Rui Zhang ein feines Sensorium für die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung und Kommunikation in unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen entwickelt. So läuft ihre digitale Kommunikation, wenn sie, wie im letzten Sommer, nach über drei Jahren zum ersten Mal wieder in China ist, ausschließlich über VPN. Gleichzeitig war sie erstaunt, wie relativ frei sich die Menschen im halböffentlichen Raum der Straße zur politischen Situation zu äußern wagen und auch, wie international professionalisiert die Kunst- und Ausstellungsszene in Shanghai mittlerweile auftritt.
Da wundert es wenig, wenn sich auch das Gespräch mit dem Vasenmädchen zunehmend differenziert und durchaus komplizierter gestaltet. Ihre mehrteilige Video-Klang-Installation I do not think you really hear me, die Rui Zhang letzten Herbst im Kunstverein Wolfsburg in ihrer Einzelausstellung Wonderful talking machine zeigte, demonstriert diese Verschiebung. Dem computergenerierten Vasenmädchen sitzt eine androgyne, ebenfalls dem Computer entsprungene Figur gegenüber, die eigentlich auf deren Fragen antworten will. Dabei soll beispielsweise die bürokratische Sprachbarriere bei der Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland thematisiert werden. Man vernimmt aber nur die Fragen des Vasenmädchens, keine Antworten des Gegenübers. Erst wenn man auf einem der bereitgestellten, kubisch weißen Hocker Platz nimmt, erfährt man die Erwiderungen: als taktile Übersetzungen durch einen niederfrequenten Bass Shaker, der den Hocker leicht vibrieren lässt.
Was bedeutet aber diese reale wie metaphorische Wortlosigkeit für den Status der menschlichen Kommunikation? Ist es so, wie Vilém Flusser es einmal in seiner phänomenologischen Untersuchung zur Geste des Sprechens ausdrückte, dass wir mittlerweile nur noch „reden“, weil wir verlernt haben zu „sprechen“? Wir haben aber zu sprechen verlernt, weil es nichts zu verschweigen gibt, keine Mauer des Schweigens, die das Wort zu durchbrechen hätte, sondern nur eine Stille, die zerredet wird. Aber vor der Inflation des Worts muss es ein Gewicht des Sprechens gegeben haben. Denn Worte sind Tentakeln in Richtung anderer, die Absicht der Sprechenden ist es, ein intersubjektives Verstehen zu ermöglichen. „Die Geste des Sprechens ist nicht nur eine epistemologische, sondern auch eine ästhetische Geste“, so Flusser in seinem Buch Gesten (1991).
So gesehen, offenbaren dann auch die großen zweidimensionalen Werke von Rui Zhang in ihrem explosiven Neben- und Durcheinander von Architekturelementen und anatomischen Zeichnungen, technischen Gerätschaften und menschlichen Körpern, von chinesischen Schriftzeichen und fragmentarischen Slogans in lateinischen Lettern, von expressivem Graffiti-Gestus und altmeisterlich fotorealistischer Maltechnik in einer Art künstlerischer Freakshow einen Zustand der Phänomene, der kaum noch ein kommunikatives Miteinander zu kennen scheint. Mitunter kommt es gar zu gewaltsamen Verschmelzungen einzelner Bildelemente, so als hätte sich etwas ein anderes angeeignet oder einverleibt. Die Bilder geben also große Rätsel auf, würde man sie semantisch sezieren und entziffern wollen. Aber vielleicht sollte man sie gar nicht in so westlich rationaler Weise zu lesen versuchen, denn scheint nicht ihre Qualität auf einer anderen Ebene zu liegen? Um noch einmal Vilém Flusser zu Wort kommen zu lassen: Er sah die Bedeutung der Geste des Malens, die er natürlich auch untersucht hatte, in dem zu malenden Gemälde selbst. Diese Geste ist in die Zukunft gerichtet, das Gemälde ist die erstarrte, gefrorene Geste. Sie ist vor allem aber ein Exempel unteilbarer Freiheit im Erkennen, dass anderes und andere mit uns in der Welt sind.
Rui Zhangs Bildgewalten wären der Versuch, die Welt mit anderen Augen zu sehen, ohne normierende Beschränkungen durch östliche wie westliche Traditionen. Die Welt erstrahlt in ihren konkreten Phänomenen – und sei ihr Aufeinandertreffen auch noch so nervenaufreibend.

www.zhangrui.art