Heft 1/2022 - Artscribe


Wolfgang Tillmans – Schall ist flüssig

27. November 2021 bis 24. April 2022
mumok / Wien

Text: Dietmar Schwärzler


Wien. Die titelgebende Arbeit von Wolfgang Tillmans in der von Matthias Michalka im mumok kuratierten Ausstellung Schall ist flüssig hängt im Raum an einer Hauptwand in direkter Blickachse beim Betreten des Ausstellungsraums, wenngleich die Fotografie von diesem Standpunkt aus noch nicht wirklich wahrnehmbar ist. Sie zeigt eine nicht besonders prägnante Naturlandschaft, im Vordergrund ganz scharf flache, ruppige Steinformationen, die durch hellgrünes Gras umspielt sind. Dahinter tut sich, erst auf den zweiten Blick unscharf, in Dunkelgrün, im Verlauf einer klassischen Farbenlehre, ein dicht bewachsenes Waldstück auf. Mit etwas Abstand vor dem Bild stehend ist zu erkennen, dass es stark regnet, wenngleich der Regen nicht wie üblich als Striche abgebildet ist. Ganz nah dran schaut die Fotografie dann plötzlich wie eine Malerei aus. Schon diese neue Arbeit zeigt viel von dem, was ein Bild als Schauplatz für Interpretationen und Wahrnehmungsmuster leisten kann bzw. wie Tillmans Fotografie denkt: nämlich als veränderbare, stets neu konstituierende, aber auch technisch gestaltete Größe, die immer wieder durch unterschiedliche Beziehungssetzungen neu gedacht und gesehen werden muss. Seit gut über 30 Jahren erweist sich die fotografische Praxis des Starfotografen, dem hierzulande endlich eine umfassende Schau gewidmet ist, als Spielfeld und Kristallisationspunkt für Bezüglichkeiten. Bekannt wurde Tillmans als Chronist der Subkultur seiner Generation, der Rave-, Club- und Schwulenszene, eine Innenperspektive, aus einem Akt des Involviertseins und Involviertwerdens. Sein Blick auf queere, zu jener Zeit oft schwule Lebenswelten, ist häufig ein unmittelbarer, changierend zwischen dokumentarischem Auge und zärtlich inszenierter Zuneigung, die sich punktuell mit Fokus auf sensitive Körperfragmente – Nacken, Ohr, Rücken, aber auch zwischen die Beine – oder ungewöhnliche Körperansichten manifestiert. Seine Fotografien erschienen vielfach als Bildstrecken in dem für die 1980er- und 1990er-Jahre prägenden Modemagazin i-D, in den Lifestyle-Journalen Tempo, Prinz, Interview oder den legendären Schwulenmagazinen Butt oder Honcho. Bei dem 2020 eingestellten Musik- und Popmagazin Spex agierte er kurzfristig sogar als Co-Herausgeber, seine Fotografien waren für dessen Look wegweisend. Dieser Hintergrund bzw. die damit einhergehende Arbeitspraxis ist deutlich in den Ausstellungskonzeptionen von Tillmans erkennbar, die Hängung nimmt er immer selbst vor.
Ein ganz wesentliches Charakteristikum ist das für jeden Raum eigens konzipierte Display, das sich in der Grundidee der In-Beziehung-Setzung über die vielen Jahre nicht rasend verändert hat, aber immer noch erstaunlich gut funktioniert. Dies beinhaltet die Wahl und Auseinandersetzung mit unterschiedlich großen und kleinen Formaten, Druck-, Kopier- bzw. Entwicklungsprozesse, unterschiedliche Rahmen oder ungerahmt, die Fotografien mit Architektenklammern gepinnt oder mit Scotch Tape an die Wand geklebt und natürlich dem Ort, an dem die Arbeiten im Raum platziert werden. Vor allem die Kombination der Bilder aus unterschiedlichen Werkgruppen – Porträts, Kleidungsstücke, abstrakte Arbeiten, Architekturaufnahmen, Stillleben, Landschaftsbilder, astronomische Beobachtungen, politische Demonstrationen etc. – eröffnet eine multiple Betrachtungsform, die in alle Richtungen weist und ein zutiefst humanistisches Bild zeichnet. Besonders augenscheinlich lässt sich dieses Zusammenspiel von Bildsujets auch in seiner Videoinstallation Book for Architects (2014) beobachten, in der Stills auf zwei Wände rhythmisch projiziert werden. Klassische Hierarchien, wie groß/klein, gepinnt/gerahmt oder in Augenhöhe bzw. oben, unten oder auf der Notausgangstür platziert, werden unterwandert bzw. durch die Variation befragt. Prominente wie Tilda Swinton oder Patti Smith reihen sich im Kleinformat in die Bildgruppen ein, ohne aber dadurch unwichtiger zu werden, vielmehr um das Porträt oder Bild daneben als gleichwertig zu betonen. Die Anordnungen der Arbeiten im Ausstellungsparcours, die Wandinstallationen wie Editorials sortiert, lassen sich mit dem „Flow“ in einem exzellent gemachten Magazin vergleichen, der im Raum, ohne die Beschränkungen auf Seiten im Publikationsformat, nach unterschiedlichen Ordnungssystemen choreografiert ist. Einmal sind es skulpturale Überschneidungen im Bild, dann harmonisierende in Schwarz-Weiß gehaltene Gruppen oder Farbflächen, die sich im darauffolgenden Foto wiederfinden oder durch Kontraste akzentuiert werden. Ein andermal sind unterschiedliche Personen im Sitzen (Blick in die Kamera), Stehen (Blick auf die Seite), Liegen (Blick nach unten) kombiniert oder vier übereinander gehängte Körperansichten (primär Rücken) ergeben im Zusammenspiel eine Drehbewegung. Einzelne Werkgruppen, wie bspw. die ohne Kamera hergestellten Silver-Arbeiten, in denen unbelichtetes Fotomaterial unterschiedlich farbigen Lichtquellen ausgesetzt wird und Rückstände von Chemikalien oder Wasser im Entwicklungsprozess zu Kratzern oder Schlieren führen, werden nicht gebündelt präsentiert, sondern im Raum verteilt und erzielen dadurch eine wesentlich prägnantere Wirkung. Andere Werkgruppen (zum Beispiel Porträts oder Kopierarbeiten) wiederum bleiben bei sich, nicht selten durch andere Bildsujets kommentiert oder ergänzt. Das Zusammenspiel der Größenverhältnisse und Präsentationsmodi spiegelt sich auch in der Verbindung von Zeitachsen wider. Tillmans kombiniert gerne neuere mit älteren Arbeiten, wodurch Kontinuitäten oder Vorlieben deutlich, aber auch neue Verbindungen kreiert werden. In einer Bildgruppe betreibt er eine Strukturierung von Zeit, neben Fotos ist auf schlichten A4-Zetteln zu lesen: „Oscar Niemeyer starb 2012 im Alter von 104 Jahren. 104 Jahre vor seiner Geburt war das Jahr 1803.“ Oder: „15 Jahre nach den ersten AIDS-Fällen in 1981 machte die Einführung der Dreifachtherapie AIDS in Ländern der Ersten Welt zu einer behandelbaren chronischen Krankheit. 15 Jahre danach, im Jahr 2011, starben weltweit 1,7 Millionen Menschen an den Folgen von AIDS.“ Hinter dem Ausdruckverleihen dieser global gesehenen Ungerechtigkeit und Ungeheuerlichkeit steht auch ein Sich-mit-der-Welt-in-ein-Verhältnis-Setzen, wenngleich diese Übersetzungsarbeit bei Tillmans nur selten auf direktem Wege oder in auf den ersten Blick erfassbaren Form passiert. Biografische Akzente oder Selbstporträts sind in die Ausstellung lediglich eingeflochten, nicht leicht dechiffrierbar, obwohl in dem konkreten Beispiel bekannt ist, dass der Künstler Jochen Klein, der damalige Partner von Wolfgang Tillmans, 1997 an den Folgen von AIDS starb, seine eigene HIV-Infektion machte er vor etlichen Jahren öffentlich. Tillmans präferiert den offenen, ja geradezu ehrlichen Blick, der unter anderem Erinnerungen oder Gefühlszustände in der Betrachtung hervorruft und eine produktive Destabilisierung der Wahrnehmung forciert.
Im Untergeschoss wird die Idee des Editorials via einer für ein Modemagazin konzipierten Bildstrecke nochmals weitergeführt, im mumok kino das Studioalbum Moon in Earthlight von Tillmans als Film installiert. Der Film versammelt 19 Tracks, die durch emphatisch gesungene Zeilen wie „You are insanely alive“ oder „Are we late for the webinar“ gute Laune versprühen, mitunter eine gewisse Form von Melancholie atmen. Bestechend schlicht zeigt sich die visuelle Ebene der kompilierten Musikvideos, getragen von einem fein austarierten Gefühl für (alltägliche) Effekte. Den Ansatz der Reduktion wählte Tillmans bereits 2002 für sein Mäusevideo „Home and Dry“ der Pet Shop Boys, das im Kontrast zu sämtlichen damals vorherrschenden Marktlogiken stand. In dem auf Vimeo zu findenden Künstlerporträt IF ONE THING MATTERS (Heiko Kalmbach, 2008) kommentiert Tillmanns den damaligen Dreh mit seinem wohl nach wie vor geltenden Grundsatz: „Damit wieder mal belegt ist, dass nur Dinge, die nah am Herzen sind, irgendetwas bringen und ausgedachtes Zeug, eben nur ausgedachtes Zeug ist.“