Heft 2/2022 - Netzteil


Brüche im Gemeinsamen

Das Stuttgarter Festival Fragile Solidarity, Fragile Connections begab sich auf die Suche nach neuen – und alten – Solidaritäten

Dietrich Heißenbüttel


„Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht“: Das „Solidaritätslied“ von Bertolt Brecht und Hanns Eisler, geschrieben für den Film Kuhle Wampe, ruft die „Völker dieser Erde“ zur Einigkeit auf. Die Stärke der historischen Arbeiterbewegung bestand in der Fähigkeit, durch Streiks Druck auszuüben. Seit Arbeiter*innen in den wohlhabenden Ländern gut verdienen und Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagert oder durch Automatisierung verzichtbar werden, ist die Solidarität, die global so vielleicht nie existiert hat, brüchiger geworden.
Was aber hat die industrielle Nahrungsmittelproduktion, von der Agnes Cameron und Gary Zhexi Zhang in ihrem Vortrag „Soft Bread, Hard Times. A History of Food Texture Modification“ auf dem Stuttgarter Fragile Solidarity-Festival sprechen, mit Solidarität zu tun? Sicher: „… beim Hungern und auch beim Essen“ heißt es in dem „Solidaritätslied“ weiter. Und die Industrialisierung hat die Verhältnisse im Nahrungsmittelbereich neu sortiert. Aber wie kommt hier die Solidarität ins Spiel? Deutlicher wird dies im Gespräch der Kuratorin Anca Rujoiu mit der indonesischen Künstlerin Elia Nurvista, die sich mit ihrer Bakudapan Food Study Group in einer Vielzahl von Medien des Themas annimmt. Der Putsch des Diktators Suharto öffnete 1965 das Land für internationale Agrarkonzerne, die Bauern wurden von ihrem Land vertrieben. „But there is a solution“, heißt es in einem leicht punkigen, animierten Musikvideo: „Eat the rich!“
Fragile Solidarity, Fragile Connections lautete der vollständige Titel des fünftägigen Festivals der Akademie Schloss Solitude. Wobei es auf die Bezeichnung Festival nicht ankommt – ein Wort um zu kennzeichnen, dass es sich bei der Veranstaltung nicht um einen Kongress handelte, sondern darum, in verschiedenen Formaten Einblicke in künstlerische Ansätze, Vorgehensweisen und Langzeitrecherchen zu geben; in einer Ausstellung, Workshops und Talks, die zum Teil dieselben Projekte aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Dass diese mal besser, mal eher entfernt zum Thema passen, liegt am Zustandekommen des Festivals, das eher einen Versuch darstellt, Beiträge aus mehreren Calls zu verschiedenen Themen innerhalb eines einzelnen Konzepts zusammenzubinden.
Ausgangspunkt waren die Web Residencies. Es gibt sie seit 2016, um junge Künstler*innen und andere zu fördern, die im Netz unterwegs sind. Dreimal im Jahr gibt ein Kurator, eine Kuratorin oder ein Team ein Thema vor und wählt Bewerber*innen oder Kollektive für ein vier- bis achtwöchiges Stipendium aus, das sich ausschließlich online abspielt und mit 750 Euro dotiert ist. Der letzte Call ging von Rujoiu aus und stand unter dem Motto: „Solidarity is a verb“. Am Festival, das Denise Sumi und Jasmine Figueroa kuratiert haben, nehmen aber auch Web Residents aus anderen Calls teil, etwa dem vorangegangenen zum Stichwort „Mutations“ oder dem aktuellen, kuratiert vom Kollektiv dgtl fmnsm.
Nun sind Online-Meetings in den letzten zwei Jahren zum Standardmodus der Kommunikation geworden. Doch gerade dadurch ist umso deutlicher hervorgetreten, dass physische Begegnungen im realen Raum durch nichts zu ersetzen sind. Das Festival war nicht das erste, aber mit Abstand das größte Vor-Ort-Treffen der Web Residents: ungefähr 50 an der Zahl, an fünf Tagen und mehreren Orten in Stuttgart, allen voran dem Festivalzentrum im Projektraum des Kunstvereins Wagenhalle. Ein Zeichen der Solidarität seitens der Akademie, ihrer Stipendiat*innen und Beschäftigten an die weltweite Community der Netzstipendiat*innen. Ein großes Post-Corona-Fest: Gelegenheit zum Austausch über Ideen, Probleme und Arbeitsweisen.
Dafür hatte das Dresdner Designerinnenduo Die blaue Distanz unter hohem Aufwand eine gelungene Umgebung geschaffen. Ein niedriges, hellblaues, halbmondförmiges Podium war umgeben von runden Teppichen mit Sitzkissen, die wie große runde Tische und ein Podest an der Wand für jeden und jede die passende Sitzgelegenheit boten: ein offener Zugang, der die erwünschten flachen Hierarchien nicht nur symbolisieren, sondern herstellen sollte. Anregungen aus der Clubkultur sieht darin Thomas Dumke verarbeitet, der die Designerinnen eingeladen hatte. Dazwischen eingestreut, gaben verschiedene Stationen Einblicke in Arbeiten, die auch in Workshops und Talks vorgestellt wurden. Vier Tage Aufbau, umfangreiche Technikinstallationen für nicht mehr als vier Tage Programm.
Hackerstrategien; Commoning; Juan Pablo Garcia Sossas dezentrales Netzwerk der Tropen als Gegengewicht zur technologischen Übermacht des Nordens: Das Thema der Solidarität kam in den Beiträgen auf unterschiedliche Weise zur Sprache. Mac Andre Arboleda präsentierte webbasierte Strategien der jungen Generation der Philippinen, um mit einem extrem harten Lockdown und einer sich neu anbahnenden Diktatur umzugehen: Ein spielerischer Zugang zu einem eminent politischen Thema. Anna Engelhardt interpretierte den Krieg in der Ukraine als russischen Kolonialkrieg.
Aber wie Eszter Szakács bemerkte, die zum Team der letztjährigen Kiew Biennale gehörte, bleibt es unbefriedigend, einfach nur auf die Aktualität der Ereignisse zu reagieren: Der Krieg macht mit einem Schlag alles wieder zunichte. Es bedarf grundlegenderer Analysen. Ansätze dazu boten vor allem zwei Gesprächsrunden: Der New Yorker Künstler und Aktivist Grayson Earle begab sich mit der Historikerin Margret Frenz auf die Suche nach dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart: dem einzigen, der in Deutschland stattgefunden hat, und vor Ort nahezu vergessen. Vor 60.000 Zuhörer*innen sprach damals Rosa Luxemburg auf dem Cannstatter Wasen. Dabei hatte Stuttgart zu jener Zeit gerade mal 260.000 Einwohner*innen. Earle hat als Solitude-Stipendiat vor dem Schloss rote Fahnen gehisst und würde an der Festwiese gern eine Gedenkstätte installieren. Wie Frenz hervorhob, war die Solidarität damals jedoch keinesfalls hierarchiefrei: Zuerst kamen die Männer, dann die Frauen und zuletzt, als einzige Vertreter*innen der kolonisierten Welt, ein Inder und eine Inderin.
Szakács wiederum, zugeschaltet vom Aufbau der documenta, und, von London aus, Naeem Mohaiemen beleuchteten die Vierten Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August 1953 in Bukarest. Das Stadion, in dem diese stattfanden, wurde eigens zu diesem Anlass erbaut, dazu eine Siedlung, in der Simina Neagu aufwuchs, die das Gespräch moderierte. Auf den Festspielen lernten sich John La Rose aus Trinidad und Paul Joseph aus Südafrika kennen. Doch was heißt das, wenn sich zwei Aktivisten der „Dritten Welt“ im kommunistischen Rumänien begegnen? Wie weit reichte die Solidarität? Verfolgte der Ostblock nicht selbst eine machtpolitische, imperiale Agenda? Szakács und Mohaiemen interessieren sich für die „Flaws“, die Fehler, Brüche und Schwachstellen der damaligen Diskurse. Denn letztlich lassen sich neue Wege der Solidarität nur finden, wenn man versteht, warum die früheren Ansätze, der kommunistischen Welt ebenso wie der Blockfreien, gescheitert sind. Allerdings werden diese, eben aufgrund dieses Scheiterns, heute nur noch wenig beachtet oder als obsolet abgetan. Heute etwa in Algerien an Frantz Fanon zu erinnern, bedeutet nicht, eine Gloriole um ihn zu errichten, sondern zu reflektieren, warum sich die Verhältnisse nicht in die gewünschte Richtung entwickelt haben. Erst so lassen sich seine Ansätze wieder produktiv machen.

Fragile Solidarity, Fragile Connections. A Digital Solitude Festival, 10. bis 14. Mai 2022, Akademie Schloss Solitude, Kunstverein Wagenhalle, Württembergischer Kunstverein, Merz Akademie, Stuttgart.