Heft 2/2022 - Hysterien


Das ganze Ausmaß der Katastrophe

Gespräch zwischen Nikita Kadan und Noit Banai über Hysterie und Zeugenschaft im Zuge des Ukraine-Krieges

Noit Banai


Der ukrainische Künstler Nikita Kadan hat die russische Invasion im Februar von Kiew, später dann von dem westukrainischen Ort Iwano-Frankiwsk aus miterlebt. Im Online-Gespräch mit der in Hongkong lehrenden Kunsthistorikerin Noit Banai, das Ende März im Rahmen einer Veranstaltung an der Universität für angewandte Kunst Wien stattfand, erläutern die beiden unterschiedliche Ebenen von Zeugenschaft und die speziellen Herausforderungen, denen sich eine gegenwartsrelevante Kunstproduktion angesichts der Lage gegenübersieht. Zentral kommt darin auch zur Sprache, welche Mittel und Wege es gibt, um in dieser katastrophischen Situation nicht einer paralysierenden Schockstarre zu erliegen oder sich von drohenden Hysterisierungswellen fortreißen zu lassen.

Noit Banai: Wir treffen uns hier online am 35. Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine, eines Krieges, den man auch als zeitgenössische Zurschaustellung nationalistischer Hysterie bezeichnen könnte. Nach Sigmund Freud und Josef Breuer kommt das Krankheitsbild der Hysterie dann zum Vorschein, wenn der Erinnerung an ein Trauma oder einen inneren Konflikt nichts Angemessenes entgegengesetzt wird und sie sich stattdessen in physische Symptome „verwandelt“. Es tut weh, diesen Ausbruch an brutalen und irrationalen Symptomen gegen die Bevölkerung der Ukraine mitansehen zu müssen, und es ist schwierig, bei dem Patienten – sei es Wladimir Putin oder der russische Nationalstaat – das vermeintliche persönliche oder historische Trauma zu diagnostizieren, das die aktuelle Invasion ausgelöst hat.
Heute, wo wir diese nationalistische Hysterie quer durch alle medialen Formen beobachten, erscheint es umso interessanter, einen „Augenzeugen“ zu hören, der seine sehr persönliche phänomenologische Erfahrung des Mittendrinseins im Geschehen mit uns teilt. Was bedeutet es für dich, in dieser Hinsicht als „Zeuge“ zu fungieren?

Nikita Kadan: Wer die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß erlebt, eignet sich nicht mehr als Zeuge. In Kiew haben wir nur einen Bruchteil davon erlebt: Bombenangriffe und zerstörte Häuser, das Leben im Keller, Vertreibung. Das ist schon sehr viel, aber längst nicht das, was die Menschen in Mariupol durchgemacht haben. Wenn man mitten im Geschehen ist, geht es nur noch ums nackte Überleben. Und manchmal braucht es ein wenig zeitlichen Abstand, um sich zu dem Erlebten äußern zu können. Aber die Welt ist natürlich ständig begierig nach neuen Bildern und Berichten.

Banai: Ich würde gern deine künstlerische Praxis in unsere Diskussion miteinbeziehen. Mir scheint, dass viele deiner Arbeiten von der Prämisse ausgehen, dass Objekte, Bilder und Monumente materielle Zeugnisse von Momenten historischer Gewalt darstellen. Stimmt das? Und könntest du uns in diesem Kontext mehr über die verschiedenen Arbeiten erzählen, in denen es um die Anstiftung zu Pogromen in der Ukraine geht?

Kadan: Ich habe drei Bilderserien zum historischen Pogrom 1941 gegen die jüdische Bevölkerung in Lwiw gemacht: The Chronicle, Pogrom und Mutilated Myth. Außerdem gibt es eine Arbeit mit dem Titel Architecton of Lysa Hora, die in Zusammenarbeit mit Dana Kosmina entstanden und dem Pogrom in einer Roma-Siedlung 2018 in Kiew gewidmet ist. Aktuell sind wir in der Ukraine mit neuen Pogromen und Massenmorden konfrontiert – diesmal vonseiten der Besatzer*innen.

Banai: Eine der zentralen Fragen, die wir uns hier stellen sollten, lautet: Was kann die Kunst in diesem Kontext tun?

Kadan: Auf lange Sicht kann die Kunst mit der neuen Sensibilität der Kriegszeit arbeiten. Krieg macht die Welt transparent. Krieg macht die tiefgründigsten Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens sichtbar. Kunst kann sie benennen, ihnen eine Form geben.
Auf kurze Sicht können wir die militärische Aggression bekämpfen, indem wir ihre katastrophalen Folgen sichtbar machen und so um Unterstützung werben. Wie bei den Projektionen an den Gebäudefassaden des Museumsquartiers in Wien, Artists for Ukrainehttps://www.mqw.at/artists-for-ukraine). Es geht darin um einfache Botschaften: Bitte unterstützt die Ukraine, bitte sorgt für humanitäre Hilfe, bitte setzt eure Regierungen unter Druck, damit diese Sanktionen gegen die Russische Föderation erlassen, bitte macht euch wirtschaftlich von Russland unabhängig! Sehr praktische Dinge. Und wir müssen nichts weiter tun, als eine große gelbblaue Fahne zu schwenken, damit alle diese Haltung sehen können. Normalerweise würden wir keine nationalistischen Symbole verwenden. Das gilt für fast alle Künstler*innen, die an dieser Ausstellung beteiligt waren. Die meisten Leute aus der Ukraine, die an dem Projekt mitgearbeitet haben, sind eher weltoffen und ziemlich links. Und jetzt stehen wir hier mit einer Staatsflagge in der Hand. Aber wir müssen das tun! Wir müssen das tun für die Menschen, die sich in den Kellern ihrer Häuser verstecken, für die Menschen, die in völlig zerstörten Städten wie Mariupol ausharren. So gesehen bewegen wir uns auf zwei Ebenen: auf einer recht einfachen, bei der es darum geht, die Aufmerksamkeit der Welt neu zu verteilen, und auf einer anderen, einer tieferen, die sich auf die neue Transparenz der Welt in Kriegszeiten bezieht.

Banai: Was du beschreibst, ist für viele, die die Balkan- und Jugoslawienkriege miterlebt haben, wahrscheinlich nicht neu. Auch der Ausbruch dieser Kriege hat Fragen aufgeworfen in Bezug auf die Machtverhältnisse zwischen dem sogenannten Zentrum und der Peripherie sowie die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich einen gemeinsamen Raum namens „Europa“ vorstellen zu können. Auch sie führten zur öffentlichen Zurschaustellung moralischer Empörung – bis entsprechend gehandelt wurde, dauert es jedoch recht lange, wenn man so will.
Ich nehme beides wahr, diese jüngere Geschichte der Kriegsführung sowie eine sehr viel längere Geschichte der Spaltung von Bevölkerungen nach ethnischen Gesichtspunkten in der Gestaltung Europas, und das vor allem in den ehemaligen Gebieten der Habsburgermonarchie, die einst viele Kulturen umfassten, wie zum Beispiel Jugoslawien. Mittlerweile sind diese multikulturellen Räume zu einem einzigen nationalistischen Grauen geworden. Das lässt mich an 2019 denken, als ich deine Arbeiten in Bukarest bei der Veranstaltung Upon Us All Equally (7. bis 9. November 2019, https://www.erstestiftung.org/en/events/upon-us-all-equally/) gesehen habe, in deren Rahmen Künstler*innen nach ihren Zukunftsvorstellungen gefragt wurden. Damals sagtest du: „Ich interessiere mich vor allem dafür, wie wir Dinge kollektiv erinnern. Ich möchte an eine flache, nicht staatlich dominierte Erinnerungspolitik glauben, an die Idee der Selbstorganisation von Erinnerungen. Die Zukunft wurde verschoben. Die Geschichte wurde von unterschiedlichen, auf der ganzen Welt verstreuten faschistischen Ortsgefängnissen namens ‚Nationalgeschichte(n)‘ arretiert.“ Dein Statement – das von der Vorstellung einer Erinnerungskultur jenseits der Beschränkungen des Nationalstaats ausgeht – nahm in gewisser Weise das gegenwärtige Paradoxon vorweg, dass man in der Ukraine nationalgeschichtlich argumentieren muss, um die Nationalgeschichte zu überwinden.
Ein weiterer Aspekt, den du angesprochen hast, betraf die Koexistenz multikultureller, multiethnischer, multisensorischer menschlicher Verbindungen und Solidaritäten und auch die Notwendigkeit der Transparenz, wenn man den Horror der aktuellen Spaltung verschiedener Gemeinschaften dem sogenannten Zentrum ins Bewusstsein rücken will. Ich spreche gerade von einem anderen Zentrum bzw. einer anderen Peripherie aus zu dir: Ich bin in Hongkong, und hier kommen ganz andere Fragen zum Krieg in der Ukraine auf. Damit möchte ich nur verdeutlichen, dass es diesbezüglich viele Räumen, Peripherien bzw. Überschneidungen von politischen und künstlerischen Interessen gibt. In diesem Kontext würde es mich interessieren, ob es in den früheren Momenten der Radikalisierung und Nationalisierung in Europa irgendetwas gibt, das du speziell ansprechen möchtest. Wie bewertest du den aktuellen Krieg und den Akt der Spaltung der Bevölkerung im Verhältnis zu diesen früheren nationalistischen Kriegen und Ausschreitungen in Europa?

Kadan: Zunächst einmal kann ich nur aus meiner eigenen Erfahrung sprechen. Aber als sie mit der Bombardierung Kiews begonnen haben, als sich vor den wenigen Apotheken, die noch geöffnet waren, lange Schlangen die Straße entlang bildeten, mit älteren Menschen, die keine Medikamente bekommen konnten, da habe ich tatsächlich an Sarajevo gedacht. Ich habe mich gefragt, wie lang all das wohl dauern wird. Vielleicht brauchte ich ein paar historische Beispiele, und das erste, das mir in den Sinn kam, war Sarajevo. Ich weiß, dass die Ukraine eine Menge Aufmerksamkeit aus dem Westen bekommt, vielleicht, weil ukrainische Städte ähnlich aussehen wie westliche Städte, zumindest die im Westen der Ukraine. Wir haben beispielsweise ein bisschen Jugendstilarchitektur, wir haben die gleichen Einkaufszentren und jede Menge Werbung in den Straßen. Sicherlich wirkt das in der Ukraine alles etwas barbarischer und geschmackloser, aber es lässt sich einfacher vergleichen –anders als Orte im Nahen Osten oder in Nordafrika, an denen eine Dauerkatastrophe herrscht und die so anders aussehen, dass sie für viele Leute im Westen sehr fremd wirken. Also, ja, ich habe an andere Orte gedacht. Ich habe an die Erfahrung libanesischer Künstler*innen gedacht, die ich kennengelernt habe, an Menschen aus Palästina. Der direkte Kontakt gibt mir ein Gefühl von Realität, ganz anders, als es die Bilder in den Medien oder sozialen Netzwerken tun.

Banai: Sammelst du Bilder der Gegenwart für die Zukunft?

Kadan: Ja, das tue ich. Leute aus dem Westen können das zwar auch tun, aber ich weiß, was eine bestimmte Szene bedeutet, welche Funktion ein bestimmtes Gebäude hatte, wo es steht etc. Ich kann die Fotos und Videos, die jetzt für alle verfügbar sind, vielleicht besser deuten. Ich bekomme viele Anfragen – Leute schreiben mir auf Instagram Nachrichten wie: „Ich mache gerade ein Kunstprojekt darüber, was Leute in einem Kriegsgebiet essen. Kannst du dein Abendessen beschreiben? Kannst du ein paar Fotos machen? Schick mir ein bisschen Foodporn aus dem Kriegsgebiet, und ich mache daraus irgendwo in Deutschland eine Installation.“ Oder: „Es wäre toll, wenn du Tagebuchaufzeichnungen darüber machen könntest, was du gerade in Kiew erlebst, denn ich würde das gern zusammen mit Leuten aus meinem Unikurs veröffentlichen. Könntest du mir vielleicht jeden Tag ein Video mit all dem schicken, was um dich herum passiert?“ Und so weiter. Manchmal fällt es mir schwer, nett zu bleiben und zu sagen: „Sorry, aber dafür habe ich gerade nicht die Zeit oder Energie.“

Banai: Ich kann mir die voyeuristische Pornografie um dich herum, in diesem Krieg und in Bezug auf den Bilderkonsum, gut vorstellen. Das hat höchstwahrscheinlich damit zu tun, dass die Welt ständig Bilder konsumieren, zugleich aber auch eine Art moralischen Raum schaffen muss. Dieser moralische Raum ermöglicht es den Menschen, sich gut zu fühlen bzw. sich als die Guten zu empfinden. Ist es das, worauf du anspielst?

Kadan: Ganz genau. Ich möchte da nicht zu stark urteilen und das Thema aufbauschen. Es gibt auch Leute, die mir Nachrichten schicken wie: „Wir haben 20 schusssichere Westen gekauft … Iron Shields Number Five.“ Sie kennen sich aus und wissen, wo sie das hinschicken müssen. Sie wissen, was gebraucht wird und was zu tun ist. Das ist toll. Andere fragen einfach: „Wie können wir euch unterstützen?“, und ich schicke ihnen einen Link zu einer Organisation in der Tschechischen Republik, die Medikamente sammelt und an die ukrainische Grenze bringt. Die haben eigene Autos und liefern Medikamente in ukrainisches Gebiet – perfekt, besser geht’s nicht.

Banai: Du hast Sarajevo erwähnt. Susan Sontag war 1993 während der Belagerung in Sarajevo und hat dort Samuel Becketts Stück Warten auf Godot inszeniert. Ist das etwas, worüber du aktuell nachdenkst? Liest du Sontags Essays?

Kadan: Ja. Ihre Analyse, wie wir das Leiden anderer betrachten, spielt für das, was ich mache, eine große Rolle. Damit möchte ich auf das zurückkommen, was ich eingangs gesagt habe: dass wir keine vollständigen Zeug*innen sind, dass ich bloß ein „Teil-Zeuge“ bin, eine Art halber Zeuge. Um es mit Primo Levi zu sagen: Ich bin gesund und am Leben und habe nicht die volle Erfahrung gemacht – und doch bin ich in gewisser Weise nah dran. Beim Betrachten historischer Fotos sehe ich Dinge, die ich nicht berühren kann, aber die sehr, sehr wichtig sind. Dinge, die in der Kunst, ja in den Köpfen der Menschen nicht reflektiert wurden, denn nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte im Osten die Doktrin des sozialistischen Realismus, und so unterlag die Darstellung des Leidens einer gewissen ideologischen Kontrolle. Echte Erfahrungen wurden einfach nicht dargestellt. Heute können wir uns auf historische Bilder beziehen, aber wir müssen sie im Kontext der heutigen Auseinandersetzungen mit der Politik der Vergangenheit, der Erinnerungspolitik nutzen. Durch die Arbeit mit Fotos von Opfern aus dem Jahr 1941 kann ich die Leute außerhalb der Ukraine besser verstehen, die mit Fotos aus der Ukraine arbeiten. Ich kann nachvollziehen, dass sie sich ganz eigene Gedanken machen, sie sehen etwas Wichtiges, und es gibt Dinge, die nur sie sagen können. Es geht nicht nur darum, etwas zu bezeugen, sondern auch um die Fähigkeit zur Reflexion, Analyse, Klarstellung. Und wer aus dem akademischen Apparat des Westens kommt, kann manchmal mehr über die Bilder aus Mariupol sagen als Künstler*innen, die das Glück hatten, die Bombenangriffe überlebt zu haben, die aber vor dem Krieg nicht Teil der internationalen Kunstszene waren, deren Erfahrung eher konservativ war – ja, sie haben die Bomben überlebt, aber was machen sie danach? Vielleicht greifen sie eine Ikone von Jesus und Siva auf oder fangen an, realistisch zu malen. Derartige Kunstwerke wären als Beweismittel sehr wichtig, würden aber vielleicht nicht so zur Erhellung der Situation beitragen wie eine Arbeit von Forensic Architecture oder von in der postkonzeptuellen Tradition arbeitenden Künstler*innen, die über perfekte analytische Instrumente verfügen.

Banai: Das passt gut zu der Frage, die gerade aus dem Online-Publikum gestellt wurde: „Ist es überhaupt möglich, die Unmittelbarkeit dieser katastrophischen Ereignisse in Kunst zu verwandeln?“

Kadan: Die Möglichkeit besteht, aber es geht immer darum, wo du dich, wo sich dein Körper in dieser Konstellation befindet. Wie genau sieht deine Erfahrung aus? Welche ethische Position vertrittst du? Was ist deine sozioökonomische Stellung? Du musst auch das sichtbar machen, vor allem, wenn es um die katastrophischen Erfahrungen anderer geht – du solltest präsent sein, dein gesamtes moralisches Unbehagen sollte präsent sein. Wir können uns das als eine Skala von Dringlichkeit und Reflexion vorstellen, als ein Koordinatensystem mit Punkten, die die Dringlichkeit und die Reflexion markieren und Raum dazwischen: Wie ordnen wir diese oder jene Aussage, dieses oder jenes Kunstwerk auf dieser Skala ein? Kunst ist hier möglich, aber wer sich an diesen Ort begibt, darf sich nicht in Sicherheit wiegen. Du kannst nicht beides haben, Sicherheit und Vertrauen in deine Worte. Jetzt, wo ich nicht in Kiew bin, sollte man mir vielleicht weniger vertrauen als zu der Zeit, als ich in Kiew war. Und wenn ich in Mariupol wäre, sollte man mir mehr vertrauen, als wenn ich in Kiew wäre. Aber in Kiew habe ich mehr Möglichkeiten zu reflektieren und zu analysieren, mit einem bestimmten Objektiv und meiner eigenen Optik zu arbeiten. Würde ich eine Residenz in Wien oder Berlin antreten, hätte ich mehr Raum zum Reflektieren, würde aber vielleicht weniger Vertrauen in meine Erfahrung genießen. Dazwischen gibt es viele Möglichkeiten, aber stets auch konkrete Konstellationen, in die ich involviert bin. Vielleicht ist das eine Regel: Dein Platz, dein Zuhause sollte sichtbar sein, und die ganze Sachlage sollte transparent bleiben.

Banai: Eine weitere Frage aus dem Publikum lautet: „Könntest du etwas näher auf die Umverteilung von Aufmerksamkeit zwischen Zentrum und Peripherie eingehen? Hast du in deiner Arbeit diesbezüglich etwas bewusst verändert? Und welche Veränderungen kann oder sollte es deiner Meinung nach in der Kunst geben?“

Kadan: Das Erste, was ich in dieser Hinsicht versucht habe, hatte gar nichts mit Kunst zu tun, sondern mit meiner Kommunikation mit den westlichen Medien: Ich habe ihnen nicht nur gesagt, wo ich bin, was hier los ist oder was in der Ukraine benötigt wird, sondern habe versucht, über das Dilemma der Schließung des ukrainischen Luftraums zu sprechen. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, dass die Leute glauben zu wissen, was es heißt, eine gefährliche rote Linie zu überschreiten oder eine offene Konfrontation zwischen der NATO und Putin zu verursachen, mit all den Ängsten vor einem Dritten Weltkrieg. Und ich hinterfrage das, die Tatsache, dass wir der Preis sind, der hier und jetzt für die Sicherheit des Westens gezahlt wird. Dass wir für billiges Gas für Europa verkauft werden.
Ich wollte, dass die Zielgruppe dieser Medien versteht, dass es hier um unsere gemeinsame Selbstverteidigung geht, dass es selbst aus einer sehr pragmatischen Sichtweise, selbst dann, wenn wir alle ethischen Fragen außer Acht lassen, einen rationalen Grund dafür gibt, unsere gemeinsamen Interessen gegen Putins Aggression zu verteidigen. Mir wurde klar, dass ich dadurch in eine Forderungsposition geriet, eine Angriffsposition, die nicht sehr höflich ist. Das ist der einfachste Aspekt dessen, was ich unter einer „Neuverteilung der Aufmerksamkeit“ verstehe. Dabei geht es nicht nur um die Menge an Aufmerksamkeit für die Ukraine oder Syrien. Ich weiß, dass viele Leute im Nahen Osten jetzt fragen, warum die Ukraine im Gegensatz zu ihnen so viel Aufmerksamkeit erhält. Das kann ich voll und ganz verstehen, und ich würde an ihrer Stelle dasselbe sagen. Aber vielleicht gelingt es uns, einen gerechteren Umgang miteinander zu finden, ohne um Aufmerksamkeit zu wetteifern, ohne unsere jeweiligen Katastrophen auf den „Markt“ zu tragen.
Die Neuverteilung der Aufmerksamkeit betrifft also nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität dieser Aufmerksamkeit. Und ich habe dies als Erstes über die Kommunikation mit den Medien umgesetzt, dann aber auch über die Kunst: Im Grunde mache ich jetzt das, was ich vor dem 24. Februar auch getan habe, ich arbeite genauso wie früher. Wenn einige Kunstinstitutionen neue Bilder wollen, schlage ich vor, stattdessen den früheren Bildern dieses Krieges mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Diese früheren Bilder waren eine Vorwarnung. Das Problem war eher das Publikum. Jetzt stellen sie keine Vorwarnung mehr da, sondern eine neue Art von Realismus. Der pure Realismus eines Krieges, der bereits seit acht Jahren im Gang ist, zumeist jedoch im toten Winkel geblieben ist, unsichtbar für den Rest der Welt. Also entwickle ich meine früheren Arbeiten weiter, meine frühere Darstellungsweise. Den Hunger nach neuen Bildern will ich nicht befriedigen. Wir sollten lieber die alten Bilder analysieren.

Banai: Du schlägst also eine dekoloniale Geste vor, eine dekoloniale Ethik bzw. Praxis. Dekolonialität ist die Anerkennung der Tatsache, dass man lange über etwas gesprochen hat, aber niemand wirklich zugehört hat. Sie unterstreicht, dass die Bilder, Vorwarnungen und Artikulationen sichtbar und lesbar waren, aber aufgrund der kolonialen Matrix im Osten wie im Westen – einer Art doppelter kolonialer Matrix – nicht wahrgenommen wurden.
Das bringt mich zu einer Frage, die [online] aus Hongkong gestellt wird: „Wo stehst du in Bezug auf die internationale Linke – angesichts dessen, wie sich bestimmte Vertreter*innen der Linken in China und Russland eine antiimperialistische Rhetorik zu eigen gemacht haben, im Wesentlichen, um sich selbst ein neues Image als Verfechter*innen der internationalen Linken zu geben?“

Kadan: 2014 habe ich den Kontakt zu mehreren Leuten aus der internationalen und postsowjetischen linken Szene abgebrochen. Vor allem zu Leuten, die der Partei Die Linke mit ihrem ganzen antiamerikanischen und prorussischen Pseudo-Antiimperialismus nahestehen. Der Gedanke, ein böses Imperium gegen ein anderes böses Imperium zu unterstützen, ist ein Fehler im linken Denken an sich. Ein entscheidender Fehler. Praktische linke Politik hat heute keinen Einfluss mehr. Nach dem Scheitern des nicht-demokratischen Sozialismus im 20. Jahrhundert befindet sich die Linke in ziemlich schlechter Verfassung und versucht mitunter, sich einem der mächtigen Player anzuschließen, um ihre Position im Spiel der Weltpolitik zu stärken. Aber alle, die sich entschieden haben, das russische Regime im Kampf gegen den westlichen Kolonialismus und Imperialismus zu unterstützen, haben damit den Faschismus unterstützt. Es ist doch offensichtlich: Putin unterstützt finanziell antieuropäische, extrem nationalistische und rechtsextreme Parteien in Europa. Er unterstützt auch linke Parteien mit einer antiwestlichen oder antiamerikanischen, NATO-feindlichen Agenda, die russische Interessen vertreten und sehr geschickt sind im sogenannten „What-aboutism“. Sobald man auf die Verbrechen in der Russischen Föderation zu sprechen kommt, echte, konkrete Verbrechen, ohne jeden symbolischen Aspekt, einfach nur auf die Zahl der Getöteten, antworten einige Leute von der Linken sofort mit: „Denk doch nur mal daran, was Amerika getan hat“ [„what about …?“]. Natürlich sollten wir auch darüber sprechen, was Amerika getan hat, aber wir sollten beides voneinander trennen. Man kann diese Diskussionen gern anstoßen, doch man sollte sie nicht dazu nutzen, um über unsere jetzigen Probleme zu spekulieren oder über die russischen Bomben, die auf ukrainische Häuser fallen. Vielleicht werden wir diese vergleichenden Diskussionen irgendwann später führen – wenn die Russische Föderation aufgehört hat, ukrainisches Gebiet zu bombardieren und zu beschießen.

Übersetzung aus dem Englischen: Anja Schulte & Gaby Gehlen

Nikita Kadan ist Künstler und Aktivist und lebt in Kiew. Er beschäftigt sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der Ukraine und deren Grundlagen im Sowjetkommunismus.
Noit Banai ist Professorin für Kunst und Theorie an der Hong Kong Baptist University. Zuvor lehrte sie an der Universität Wien, der Universität für angewandte Kunst Wien und der Universität Singidunum in Belgrad.

Das Gespräch fand am 31. März 2022 im Rahmen der Veranstaltung Entry Point: Conversations with Ukrainian Artists statt, organisiert von den Fachbereichen Angewandte Fotografie & zeitbasierte Medien sowie Social Design der Universität für angewandte Kunst Wien (https://entrypoint.info/conversations/). Wir danken Masha Sizikova und Orest Yaremchuk für die Zurverfügungstellung des von ihnen erstellten Transkripts.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen, Anja Schulte