Heft 2/2022 - Hysterien
Die dänische Konzeptkünstlerin Stine Marie Jacobsen befasst sich in ihrer Arbeit, insbesondere in dem Projekt Direct Approach, mit der Entschlüsselung von Gewalt in all ihren komplexen Erscheinungsformen. Individuelle und kollektive Wahrnehmung werden darin anhand von Horrorfilmen untersucht. Eine partizipative Interviewmethode sowie Reenactments filmischer Szenen sollen zu einem Dialog über Gewalt führen, wie er von Jacobsen auch in Workshops an unterschiedlichsten Institutionen erprobt wird.
Annie Kurz: Mit deinem Projekt Direct Approach möchtest du einen künstlerischen Zugang ermöglichen zum Dialog über Gewalt in Film und Realität. Du arbeitest dabei partizipativ. Das Direct Approach Guide Book (2014) zeigt auf, wie eine Plattform für das Gespräch über Gewalt erstellt werden kann. Wie sieht diese Methode genau aus?
Stine Marie Jacobsen: Die Methode besteht in einer detaillierten Interviewtechnik. Die Idee entstand aufgrund der schlichten Problematik, dass ich nach Deutschland umgezogen war. Ich merkte, dass mein dänischer Zugang, um über die deutsche Geschichte zu sprechen, manchmal zu direkt war. Dän*innen sind bekannt für ihre Direktheit bei schwierigen Themen. Ich wollte also eine abstraktere Methode erschaffen, um mit Deutschen über die gewalttätige Vergangenheit des Landes sprechen zu können. So kam ich auf die Idee, eine Filmszene als Plattform für das Gespräch zu benutzen. Dazu habe ich sechs Hauptfragen erstellt: 1. Was ist die gewaltsamste Filmszene, die du jemals gesehen hast? Diese soll ausschließlich aus der Erinnerung beschrieben werden. 2. Erzähl mir mehr – hier stelle ich ganz viele Detailfragen. 3. Wen würdest du eher spielen; Opfer, Täter*in oder Zuschauer*in? 4. Wieso möchtest du diese und nicht eine andere Person spielen? 5. Würdest du dich auch so benehmen, wenn die Filmszene real wäre? 6. Erinnert dich diese filmische Gewalt an Gewalt in der Realität? Wenn ja, wie? Wenn nein, wieso nicht? Damit schließt sich der Gedankenkreislauf.
Das Ganze ist eine Prozedur, mit der ich erreichen möchte, dass diese Person zu einer Introspektion gelangt, einer Reflexion, einem Echo ihrer eigenen Wahrnehmung. Damit sie sich nach dem Gespräch fragt: „Meine ich das wirklich so?“ Je mehr man über eine fiktionale Szene oder eine halbwegs realistische Szene spricht, desto realer wird sie, indem man seinen gesamten moralischen Begriffsapparat aktivieren muss. was wiederum an die Realität dieser Person gekoppelt ist. Meine Aufgabe ist es, aktiv zuzuhören und die Sprecher*innen nicht zu unterbrechen. Was am Ende entsteht – eine Ausstellung, ein Podcast oder ein Film –, hängt vom jeweiligen Ort ab.
Kurz: Indem du mit Fiktion arbeitest, öffnest du das Gespräch. Die Teilnehmenden scheinen ganz frei und offen zu sein für deine Fragen. Warum aber die Rollenwahl und das Reenactment?
Jacobsen: Das hängt damit zusammen, dass das, was wir sagen, nicht immer das ist, was wir tun. Nur ein Reenactment kann diese Dichotomie zeigen, denn unsere Körper sprechen meist eine eigene Sprache. Hier stelle ich eine Verbindung zu dem her, was wir über Anti-Gewalt-Training wissen. Ich verbinde sozusagen die Praxis mit der Theorie. Die Rollenwahl hat auch den Grund, dass ich die Teilnehmer*innen dazu bringen möchte, etwas zu wählen und sich dann zu fragen, wieso sie das getan haben. Manchmal sind sie über ihre Wahl geschockt. Dabei kann man die Bewegung ihrer Gedanken geradezu beobachten, als eine Art Selbstbewusstsein des Körpers. Gedanken sind wie Reflexe, und ein Gespräch, wie ich es führe, ist ungeschützt – man sagt Dinge wie aus einem Reflex heraus.
Kurz: Hattest du anfangs Bedenken, dass ein Reenactment oder ein Gespräch über gewaltvolle Szenen psychisch belastend sein könnte, vor allem für die jungen Menschen?
Jacobsen: Mir war es von Anfang an klar, dass dieses Projekt nicht für Personen unter 13 Jahre gedacht ist. Die Direct-Approach-Methode ist auch nicht für Personen mit PTSD (Post-Traumatic Stress Disorder) geeignet. Das musste ich schon oft erklären, wenn mich Institutionen eingeladen haben, um mit Geflüchteten oder mit Kindern zu arbeiten. Das Projekt ist nichts für Menschen, die gerade aus einem Krieg kommen – da sollte man eher Sport zusammen machen oder gemeinsam essen gehen. Am Anfang des Projekts habe ich mich auch mit Psycholog*innen in Berlin und Antwerpen beraten: Die Meinungen waren sehr ähnlich, dass ich niemanden zwingen dürfe, über Dinge zu sprechen, über die sie nicht reden wollen. Meine Methode ist in diesem Sinne sehr „antispektakulär“. Niemand muss in den Gesprächen über Privates reden, sondern in erster Linie eine Filmszene analysieren. Das passiert sozusagen metakognitiv, und man hat gleichsam die Filmszene als Schutz – man kann selbst wählen, wie nahe man der Realität kommen möchte. Unter diesen Bedingungen kann es sogar kathartisch sein, über schwierige Themen zu sprechen. Im Laufe der Zeit ist mir dann bewusst geworden, dass das kaum noch möglich ist in der heutigen Gesellschaft, die regelrecht Angst hat vor schwierigen Gesprächen und nicht wirklich zuhören kann.
Kurz: Später warst du auch in Ländern, in denen Gewalt zum Alltag gehört.
Jacobsen: Ja, ich kam 2014 damit nach Kolumbien, danach in den Libanon und in die Ukraine. Dort habe ich Leute getroffen, die wirklich Schreckliches erlebt haben. Diese Menschen wollten oftmals ihre realen Erlebnisse teilen und explizit darüber sprechen. Wichtig ist, dass sie das freiwillig tun. Das merken wir heute auch bei Menschen aus der Ukraine, die sehr persönliche Dinge und Gefühle zum Beispiel über Facebook teilen. Reale Gewalt isoliert dich. Das Teilen kann helfen, damit umzugehen.
Gewalterfahrungen sind insgesamt sehr unterschiedlich. Manche kennen sie tatsächlich nur aus Filmen, vielleicht auch, weil sie jünger sind. Gewalt ist etwas, das wir mehr und mehr erleben, je älter wir werden. Außerdem werden das Ausmaß und die Art von Gewalt, der man begegnet, auch von dem Ort definiert, an dem wir leben. Gewalt findet auch innerhalb von Familien statt bzw. richtet sich bisweilen gegen eine*n selber. Mit Direct Approach möchte ich zeigen, dass Gewalt nichts Absolutes, sondern etwas sehr Kompliziertes ist.
Kurz: Gewaltszenen sind in Filmen oder Videogames heute fast schon eine Selbstverständlichkeit. Sehr vereinfacht gefragt: Sind gewaltvolle Filme ein legitimer Versuch der Verarbeitung von Ängsten, oder siehst du sie selbst als Gesten der Gewalt?
Jacobsen: Beides. Ich denke, man muss genau hinschauen und hinterfragen, welche Intention der Film verfolgt – ob er beispielsweise Propaganda beinhaltet. Filme haben ja eine gewisse „Bildungskraft“, wie Alain Badiou sagt. Filme geben uns mögliche Identitäten und interpersonelle Beziehungen vor. Sie machen Vorschläge, wie wir uns verhalten können. Manchmal sind diese filmischen Vorgaben eben gewalttätig.
Besonders problematisch finde ich es, wenn Menschen (oft sind es Frauen) objektiviert werden. Wenn sie Opfer werden, ohne eine eigene Identität zu haben. Dies gilt es, kritisch zu hinterfragen. In den USA nennt man das „visual illiteracy“ – die meisten Menschen sind nicht ausgebildet, um Bilder lesen und interpretieren zu können. Direct Approach möchte auch diese Fragen stellen: Was schaue ich mir da eigentlich an, und was macht das mit mir? Ich mag zum Beispiel Michael Hanekes Funny Games: Darsteller*innen drehen sich um, schauen in die Kamera und fragen: „Wollt ihr mehr sehen?“ Das ist schockierend, weil Haneke damit zeigt, dass er das alles macht, weil wir es sehen wollen. Ganz viele Filme streben dieses Meta-Level der Reflexion jedoch gar nicht an.
Kurz: Denkst du, dass Filme Menschen beeinflussen können, gewalttätig zu werden?
Jacobsen: Das hat man bisher nicht beweisen können, wir wissen eigentlich nur, dass der Puls steigt, wenn wir gewaltvolle Filme sehen. Wirkliche Gewalt ist kurz und „leer“, es gibt keine Musik dazu, und sie dauert nicht so lange wie in theatralischen Filmszenen. Ich würde eher sagen, Gewalt kommt von innen, von einem geschädigten, affektiven Ort her, vielleicht bekommt sie im Film nur eine klarere Form.
Es gibt ein berühmtes Interview mit dem Filmemacher Alejandro Jodorowsky, worin der Interviewer fragt, ob er vielleicht zu viel Gewalt zeige, wie manche kritisierten. Jodorowsky entgegnet ironisch: „Ich mag Gewalt, ich liebe Gewalt!“ Er meint damit, dass die Kritiker*innen nicht erkennen, dass er nur die Realität widerspiegelt. Für Jodorowsky ist Poesie Gewalt, weil sie die Realität zeigt. Nicht die Kunst, sondern die Realität gilt es zu kritisieren. Es ist unsere Verantwortung, das anzuschauen und zu analysieren.
Kurz: Weil du sagtest: „Gewalt kommt von innen.“ Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan erklärte in einem Interview 1977, dass Gewalt immer die Suche nach Identität sei – „Violence […] is always a quest for identity and the meaningful“.1 McLuhan fasst den Begriff von Gewalt also sehr weit. Er würde zum Beispiel auch ein Fußballspiel als gewalttätig bezeichnen. Würdest du ihm nach Jahren der Gewaltforschung zustimmen?
Jacobsen: Um ehrlich zu sein, nein. Er meinte auch, dass Leute keine Identität hätten, wenn sie zum Beispiel an der Front sind: „When you live out on the frontier, you have no identity“, aber auch da würde ich nicht zustimmen. Ich glaube, man kann sehr starke patriotische Gefühle entwickeln, wenn man in Grenzgebieten oder Konfliktzonen lebt. Ganz grundlegend betrachtet ist Identität eine Illusion, die wir selber aufbauen. Sie ist ein Narrativ, das wir über bzw. mit uns selbst erarbeiten und kontinuierlich verhandeln. Auch Gewalt sollte nicht in einem absoluten Sinn verstanden werden. Alle Menschen sind potenziell gewalttätig – gegen sich oder gegen andere. Gesetze seien gewalttätig, meint Christoph Menke,2 weil sie von einer kleinen Gruppe für die Mehrheit verfasst werden. Was McLuhan vielleicht vergisst, ist, dass die Suche nach Identität ein Privileg ist.
Kurz: 2019 hat dich Direct Approach in die Ost-Ukraine geführt. Die Realität war damals schon geprägt von Horror und Gewalt. Seit mehreren Monaten sehen wir unerträgliche Bilder der Zerstörung und erleben mörderische Gewalt an unschuldigen Menschen. Wie kam es zu deiner Reise nach Mariupol und dem Filmdreh dort?3 Und bezogen auf das Projekt: Was konntest du von und mit den Menschen in der Ukraine lernen?
Jacobsen: Bei der ersten Riga Biennale traf ich jemanden vom dänischen Kulturinstitut. Ich arbeitete dort an einem Peace-Building-Projekt mit lettischen und russischen Kindern, bei dem wir eine dritte, gemeinsame Fantasiesprache entwickelten. Der dänische Direktor fragte mich, ob ich mir ein Peace-Building-Projekt auch in der Ost-Ukraine arbeiten würde. Damals wusste ich zwar von der Krim, aber sonst nicht viel über den Konflikt. Sie fuhr ich also 2019 nach Mariupol, und bereits damals war es sehr prekär dort. Die Menschen in der Stadt fühlten sich vergessen. Sie sprachen damals schon von Krieg, als der Rest der EU das Ganze noch als „bewaffneten Konflikt“ bezeichnete. Ich musste Sicherheitsdokumente lesen um zu erfahren, was zu tun sei bei Bomben- oder anderen Angriffen. Oder im Fall, dass wir gekidnappt werden. Ich war sehr verängstigt und habe dann entschieden, dass ich mit jemandem vor Ort zusammenarbeiten musste, mit jemandem, der den Konflikt kennt. Ich bin dann auf Yulia Hontaruk gestoßen, die seit 2014 vor Ort als Journalistin auch mit Soldaten arbeitet.
Gelernt habe ich viel über den Konflikt bzw. den Krieg und wie unter diesen Umständen Patriotismus entstehen kann. Wenn jemand konstant bedroht wird, das eigene Land zu verlieren, verstärkt sich das nationale Gefühl. Ich glaube, diese Identitäten sind sehr stark – vielleicht sogar versteinert. In dieser Situation kann es schwierig sein, Gewalt als etwas Komplexes zu verstehen – die Welt vereinfacht sich zu einem „sie gegen uns“. Solche generellen Polarisierungen und Vereinfachungen sehen wir vermehrt auch in der Gesellschaft.
Kurz: Müsste die Gesellschaft besser gebildet werden? Diskursive und pädagogische Methoden finden immer stärker Eingang in die Kunst. Wie siehst du diese Entwicklung?
Jacobsen: Ich mache mir immer wieder Sorgen, dass Bildung auch ausgehend von der Kunst zu einer Art kolonialen Gehirnwäsche werden kann. Oder dass die Kunst dabei nur ein Serviceorgan wird, wodurch sie an Freiheit und Unabhängigkeit einbüßt.
Kurz: Im Hinblick auf die Gewalt in der Ukraine und auch andere Kriege entsteht in der Zivilgesellschaft zunehmend eine Stimmung der Hilflosigkeit und der Ohnmacht. Was uns bleibt, sind Wut und vor allem Protest. Dein Projekt Group-Think bereitet junge Menschen genau darauf vor. Wie geschieht das?
Jacobsen: Group-Think ist ein Projekt über das „Recht, sich zu versammeln“ und die Frage nach direkter Demokratie. Hier braucht es neue Modelle für die Zukunft. 2019 wurde ich von der Manifesta in Marseille eingeladen, um ein Projekt für Schulen zu entwickeln. Ich habe die Schüler*innen direkt gefragt: „Was wollt ihr mit einer Künstlerin machen?“ Ein Drittel etwa sagte: „Sport!“ Die anderen, sie waren politisch interessiert, etwa in Richtung Black Lives Matter oder #MeToo, wollten Demos organisieren. Ich hatte also diese Echos im Kopf – Sport und Proteste – und fragte mich, warum die beiden nicht zusammenlegen. Sozusagen „Protestsport“ zu machen. Ich dachte mir: Warum ist das kein Thema an Schulen? Wir begannen also, uns über Sicherheit in größeren Gruppen Gedanken zu machen. Wie bildet man Formationen, und wie hält man sie zusammen? Es ging dabei auch um Erste Hilfe. Group-Think darf aber auch als Sport gesehen werden – man muss nicht unbedingt Proteste veranstalten oder auf die Straße gehen. Ich wollte Sport und Bewegung neu denken als etwas, das gemeinsam gedacht und gemacht werden kann. Weg von der Idee „Der Stärkste gewinnt“, hin zu einer sensibleren Mobilisierung der Gruppe. Das kam sehr gut an in Marseille. Wir haben damals Grundübungen entwickelt, die gewissermaßen Open Source sind. Sie verändern sich immer wieder, je nachdem, wo das Projekt gerade realisiert wird. In manchen Ländern ist es schwierig, mit Protest und Demos zu arbeiten, weil es dieses Recht schlichtweg nicht gibt.
Wichtig ist mir, dass das Projekt nicht antagonistisch oder aggressiv verstanden wird. Ich bin selbst keine Aktivistin. Vielmehr basiert Group-Think auf meinem Interesse an ziviler Partizipation, es geht dabei um kollektive Intelligenz. Manchmal bin ich in Sorge, dass diese Art Ausbildung als Antagonismus verstanden werde könnte, aber da kommt mir dann The Beautiful Risk of Education von Gert Biesta in den Sinn.4 Darin wird Ausbildung zu etwas Riskantem: Wenn wir in Schulen nicht über schwierige Themen sprechen können – wo dann?
http://stinemariejacobsen.com
http://www.direct-approach.org/workshop/
[1] Marshall McLuhan im Interview 1977; https://www.marshallmcluhanspeaks.com/media/mcluhan_pdf_11_fNfqnAl.pdf.
[2] Vgl. Christoph Menke, Kritik der Rechte. Berlin 2015.
[3] Der Film Direct Approach entstand in Kollaboration mit der ukrainischen Filmemacherin Yulia Hontaruk und dem Danish Cultural Institute. Er wird 2022 bei der Riga Biennale gezeigt im Rahmen des Education Outreach Project – RIBOCA Repository of Knowledge. Zuvor wurde er auf der Momentum Biennale 2019 gezeigt.
[4] Vgl. Gert J. J. Biesta, The Beautiful Risk of Education. London 2014.