Gereiztheit und Erregung sind zwei Schlüsselphänomene der Gegenwart, die an einer Vielzahl von Schauplätzen ihr Unwesen treiben. Dabei sind diese Begriffe höchst variabel und dehnbar, wenn man an das weite Spektrum denkt zwischen eklatantem Unrecht, das es legitimerweise anzuprangern gilt, und reflexhafter Abwehr jeglicher als Zumutung empfundener Fremdwahrnehmung. Die Welt, wie sie uns nicht länger gefällt, ist zu einer endlosen Reibungsfläche geworden. Wobei die Reibung, ja das Aufreibende, längst in das wahrnehmende Subjekt hineinverpflanzt ist, während die Ursachen des Sich-Aufreibens mit Vorliebe anderen zugeschrieben werden.
Der im Februar vom Zaun gebrochene russische Angriffskrieg verschärft diese Lage noch einmal dramatisch. Zwar besteht kaum Zweifel daran, wer hier Aggressor und wer der Angegriffene ist. Doch die Effekte dieses unbestreitbaren Völkerrechtsverstoßes könnten divergenter nicht sein: von kriegstreiberischem Anfachen der Katastrophe über abwägende „Wie kommen wir hier wieder raus?“-Ansätze bis hin zu pazifistischem Eifer, der die verheerenden Kriegsrealitäten aus den Augen zu verlieren droht. Und vielerorts erregte, die Gegner*innen harsch aburteilende Radikalreaktionen. Eine wahrlich „hysterische“ Gemengelage, um das Leitmotiv dieser Ausgabe aufzugreifen.
Hysterische Erscheinungen verblüffen uns immer wieder, auch weil sie jede bzw. jeder an sich selbst beobachten kann. Es handelt sich dabei meist um ein Überreagieren (worauf auch immer), das aus den Tiefen subjektiver wie kollektiver Affektlagen herzurühren scheint. Allein dieses komplexen Gefüges rational habhaft zu werden, stellt eine schwierige Angelegenheit dar und wirft eine Reihe von Fragen auf: Lässt sich „das Hysterische“ in sinnvoller Weise als Kategorie zur Analyse der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Individuen heranziehen? Wie könnte eine Neudefinition des Begriffs aussehen? Und welche Ausdrucksformen rund um Erregtheit und Enervierung zeichnen sich seit geraumer Zeit im kulturellen Feld besonders markant ab?
Das Themenheft Hysterien, das in Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung Offenbach (Lehrgebiet Soziologie und Theorie der Medien) entstanden ist, geht diesen Fragestellungen nach. Versucht wird, hinter die vielfältigen Manifestationen von Aufgebrachtheit und Empörung, von Gereiztheit und Erregung zu blicken – und anhand von Einzelstudien Regelhaftigkeiten hinter diesem phänomenologischen Wildwuchs auszumachen.
Auf der einen Seite, man könnte sie den Pol der empirischen Symptomanalyse nennen, bedarf es dazu einer Bestandsaufnahme moderner und nachmoderner Störungen. Diese werden medizinisch heute meist in erweiterten Begriffen wie Konversionsstörung, Dissoziationsstörung oder histrionische Persönlichkeitsstörung gefasst. Auf der anderen Seite, jener der Gesellschaft, gilt es, Zuschreibungen wie „Erregungsgesellschaft“, „Moral- und Tugendpanik“ bzw. allerlei Neologismen, die mit „Hyper“ beginnen, zu hinterfragen. Wie lassen sich diese individuellen Symptomatiken und das Feld sozialer Störungen wechselseitig erhellend verbinden? Gibt es Bilder solcher Verknüpfungen, die sich analytisch zu den heute immer rascher vonstattengehenden Medienhysterien verhalten? Können künstlerische Urszenen bzw. Hysteriebearbeitungen hier produktive Abhilfe verschaffen?
All dem versuchen sich die Beiträge dieser Ausgabe in eingehender Weise zu widmen. Marc Ries legt in seinem Eingangstext dar, nach welchen Kriterien sich unterschiedliche Erscheinungsformen des Hysterischen in Bezug auf die Gegenwartskultur auseinanderhalten lassen. Geht es zum einen um die Diagnose einer weitreichenden „Zivilisationskrankheit“, so muss zum anderen auch einem ironisch-subversiven Gebrauch des Hysterischen Rechnung getragen werden, wie er beispielsweise in den hier besprochenen Musikvideos anschaulich wird. Popkulturelle Phänomene sind aber nur ein Schauplatz einer ungleich vielgestaltigeren Symptomlage, die sich der Gesamtgesellschaft in all ihren Verzweigungen und Schichtungen zu bemächtigen begonnen hat.
Der Krieg und seine Folgen bilden einen weiteren Fokus der hier angedachten Hysterieanalyse. Christine Würmell setzt sich mit aktuellen Protestformen auseinander und konstatiert einen Übergang von ehemals spektakulären, öffentlichen Inszenierungen hin zu einer Verbreitung des stillen Selfie-Protests, der gleichwohl ein hohes Erregungspotenzial in sich trägt. Ob Protest-Selfies ein probates Mittel gegen einen übermächtigen Gegner darstellen, lässt sich mit Blick auf die (ukrainische) Situation vor Ort nicht hinreichend klären. Aus erster Hand berichtet der Künstler Nikita Kadan über seine Erfahrungen unmittelbar nach dem Kriegsausbruch bzw. unterschiedliche Ebenen von Zeugenschaft; im Dialog mit Noit Banai erläutert er, inwiefern der Krieg sich als eine „Performance“ von nationalistischer Hysterie verstehen lässt.
Seit Längerem schon setzt sich die Künstlerin Stine Marie Jacobsen mit verschiedenen Formen von Gewalt auseinander, wie sie im Gespräch mit Annie Kurz im Hinblick auf ihre Interviewserie Direct Approach darlegt. Ziel ist eine Entschlüsselung des Schreckens in allen möglichen Facetten, stets mit Bedacht auf die individuellen Hintergründe ihrer Auskunftgeber*innen. Weniger der bedeutungsmäßigen Decodierung als der profunden Fakteneruierung ist der Ansatz von Forensic Architecture gewidmet. Maria Sitte nimmt eine aktuelle Arbeit der Gruppe zum Anlass, um nach der unterschwellig darin zum Tragen kommenden Empörungs- bzw. Anklagedimension zu fragen.
Schließlich wählt Julia Hainz ein berühmtes historisches Gemälde, das Jean-Martin Charcot bei der Vorführung seiner Hysterieauslegung zeigt, als Ausgangspunkt, um nach gegenwärtigen Entsprechungen dazu wie auch entscheidenden Abweichungen davon zu suchen. Dem Problem, wie sich einer immer noch gängigen „Feminisierung“ alles Hysterischen entgegenwirken lässt, stellt sich auch Karina Nimmerfall in ihrer Fiktion über weibliche bzw. künstlerische Resilienz. Hier wie in den übrigen Beiträgen der Ausgabe wird deutlich, welch immense Erscheinungsvielfalt – und damit vielleicht auch Kritikpotenzial – in den zahlreichen gegenwärtigen Spielarten der Erregung und des Außer-sich-Seins angelegt ist.