Heft 2/2022 - Netzteil


Eingreifen heißt ordnen

Eine Retrospektive zeichnet Richard Kriesches jahrzehntelange Befassung mit Medienwirklichkeiten nach

Milena Dimitrova


Die Ausstellung Richard Kriesche. a solo exhibition: a solo presence im Museum der Moderne Salzburg zeichnet das Werk Richard Kriesches als Pionier der Medienkunst und Person des öffentlichen Lebens in Österreich, geordnet nach Themen und Werkgruppen seit den 1960er-Jahren, nach. Der Kunstbegriff, auf dem das Werk beruht, geht von einer Verschränkung von Technologie und gesellschaftlicher Realität aus sowie von einer Kunst, die auf gesellschaftliche Gegebenheiten über die jeweils aktuelle Medientechnologie antwortet. In den Worten Kriesches: „wenn wir uns nicht nur allgemein die frage nach der kunst oder dem ende der kunst in der postindustriellen gesellschaft stellen, dann müssen wir nach den voraussetzungen von kunst in ihrer beziehung zum gesellschaftlichen umfeld fragen, dann müssen wir die frage nach kunst auf den gemeinsamen nenner der gesellschaftlichen grundbedingungen stellen. dieser gemeinsame nenner heisst heute information. demnach sind die avancierten kunstformen jene, die nicht nur den gesellschaftlichen wandel bezeichnen und zeichenhaft festhalten, sondern jene, die auf den informationsmodernen gesellschaftsbezogenen bedingungen aufbauen.“1
Diese Art von Gesellschaftsbezug und das Ineinandergreifen sozialer und technologischer Gegebenheiten zeigt beispielsweise die Arbeit self-space (2022). Sie bildet den Auftakt der Ausstellung und schildert, nicht ohne Ironie, die gesellschaftlichen Implikationen heutiger technologischer und medialer Entwicklungen (etwa von „Datafizierung“ und Elekronisierung) bzw. das Wirken der medialen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. self-space ist eine interaktive Installation, die man als Besucher*in durchschreitet und in der man einen unsichtbaren Datenabdruck hinterlässt. Vor dem Verlassen des Raums bekommt man diesen als individuelle Hexadezimalzahl, die aus der persönlichen Datenspur errechnet wird, präsentiert – von einem Drucker, der aus dem Dunklen auftaucht, wenn über ihm plötzlich eine Lampe angeht.
Die künstlerischen Avantgarden, etwa der Dadaismus, dessen Werke auf die Wirklichkeit selbst verwiesen und so die „gesellschaft […] in angst und schrecken bezüglich ihrer kulturellen befindlichkeit“2 versetzten, sind ein wichtiger Bezugspunkt in dieser Art der gesellschaftlichen Analyse. Der spezifische Charakter der künstlerischen Herangehensweise liegt darin, die Gesellschaft durch das Vorhalten eines Spiegels gleichsam zu terrorisieren: Einzig anhand der Informations- und Medienwirklichkeit lässt sich die gesellschaftliche Wirklichkeit durchdringen. Dasselbe gilt für die Informations- und Medienkunst. Medienwirklichkeit und Medienkunst sind dabei über das Prinzip des Terrors miteinander verbunden.3
Kriesche versteht sich infolgedessen auch in der Tradition einer autonomen bzw. freien Kunst, die „aus der Kunst aus- und in den Alltag einzieht“4. Unmittelbar ersichtlich ist dieser Anspruch, in die soziale und mediale Realität einzugreifen, in seinem Beitrag zu den Kunstspots für die Schuhmarke Humanic, die 1973–75 und 1986 im österreichischen Fernsehen liefen. Inhaltlich stehen sie in keinem Zusammenhang zum Schuhkonzern, vielmehr experimentierten sie stark mit Form und Ton. Einer dieser Spots trägt den Titel „Eingreifen heißt ordnen“, in einem anderen scheint der Schriftzug „Humanic greift ein“ auf.
Immer wieder gab Kriesche (Video-)Kameras Leuten in die Hand, die ansonsten medial nicht (re-)präsentiert sind oder als Künstler*innen auftreten. Im Projekt Humane Skulpturen (1980) bat er Bauern, Fotografien anzufertigen, die skulpturale Momente in ihrem Arbeitsalltag festhalten. Im Projekt karlau, arbeit mit strafgefangenen (1974) richteten Gefängnisinsassen ihre Botschaften durch Videoperformances an die Öffentlichkeit. Zum Einzug in den Alltag gehörte auch die Schaffung alternativer Distributions- und Informationskanäle (mit Kollegen gründete er die poolerie, eine Mediengalerie, und gab die Zeitschrift pfirsich heraus) oder die Besetzung von Nischen im öffentlichen Fernsehen. In TV-Aktionen wurde das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit verhandelt und dem Publikum nähergebracht.
Wie bei neuen Medien üblich wurde in den 1970er-Jahren in das Medium Video die Hoffnung gesetzt, die künstlerischen Produktionsmittel zu revolutionieren.5 Projekte aus dieser Zeit zielten daher, etwa in Closed-Circuit-Arbeiten, auf die Analyse, Dekonstruktion und Umwandlung der Sender-Empfänger-Struktur ab. Für die Closed-Circuit-Installation TV-Tod (1974/2000) sitzt Kriesche mit einem Assistenten vor einem Bildschirm, auf dem das Videobild der beiden zu sehen ist. Sein Assistent schießt auf den Bildschirm und macht durch diesen Akt die Apparatur, die nun die Videoaufnahme nicht mehr abspielen kann, als solche sichtbar. Das Reale wird von einem Kreislauf von Bildern erzeugt, und dieser kann von der Kunst, wenn sie eingreift, verdeutlicht werden.
Kriesche geht es darum, die Struktur des Mediums, seine Schaltstellen, ästhetisch herauszuarbeiten und anhand von Kunstwerken an die Oberfläche zu holen.6 Die dem Medium inhärente Macht, auf seinen jeweiligen sozialen, politischen und ökonomischen Kontext einzuwirken, wird so verstanden, dass sie aus der Struktur des Mediums selbst beschreibbar und fassbar wird. Auch für die heutige Zeit, in der die Wirkung von digitalen Medien und Technologie auf den Alltag schwer überschaubar geworden ist, kann diese Strategie der Analyse und Sichtbarmachung der den Technologien inhärenten und zugrunde liegenden Strukturen, deren Code oder Wirkprinzip sowie ihre Übersetzung in die Ästhetik aufklärerisch wirken.
Kriesches „telematische Skulpturen“ zielen auf die Sichtbarmachung des Datenlärms und den alles erfassenden Datenhintergrund, der mit der Digitalisierung einhergeht. Telematische Skulptur 4 wurde im österreichischen Pavillon auf der Venedig Biennale 1995 gezeigt. Eine Eisenbahnschiene, die an einem Ende einen Computermonitor trägt, war an die Datenströme des Internets angeschlossen, die sie unmerklich nach vorne bewegten. Ein Einloggen in TS 4 brachte sie vorübergehend zum Stillstand. Kurz vor Ende der Biennale drückte der Monitor die Wand des Pavillons durch.
Die Sichtbarmachung von Codes ist schon in Kriesches frühen Arbeiten konkreter Kunst angelegt, denen ein mathematisches Prinzip zugrunde liegt. Eine Grundstruktur und ein Ergebnis, das diesen frühen Arbeiten verwandt ist, weist die Werkgruppe datenwerk: mensch (2003) auf. Zur Sichtbarmachung des entschlüsselten menschlichen Genoms sind vier Farben jeweils einer der vier DNA-Basen zugeordnet, woraus ein Porträt des Künstlers erstellt wird. Waren die frühen Arbeiten rein „ästhetisch codiert“, steht hinter den neueren hingegen ein technologischer oder digitaler Code.7
Kriesche spricht von der „Macht des Faktischen“, gegen die die Kunst anzutreten hat und die alle anderen, bislang als autonom gedachten Werte außer Kraft gesetzt hat.8 Damit steht er in der Tradition von Herbert Marcuse, der beschreibt, inwiefern das Individuum immer mehr einer positivistischen, von den gegebenen Bedingungen untermauerten und so unbestreitbar wirkenden Logik, unter anderem der Effizienz, unterstellt ist, was eine kritische Haltung erschwert. Hatte die industrielle Logik einst nur innerhalb der Fabrik Einfluss auf dieses, so ist ihr das Individuum nun als Ganzes untergeordnet.9 In diesem Sinne ist eine Arbeit wie 14 min im leben von … (1977), die auf fünf Bildschirmen eine Frau an fünf Wochentagen bei der Arbeit in einer Fabrik zeigt, aktueller denn je.

Richard Kriesche. a solo exhibition: a solo presence, Museum der Moderne Salzburg, 26. März bis 2. Oktober 2022.

 

 

[1] Richard Kriesche, digital suicide bombers. medienkunstTERRORIE zur INFORMATIONSMODERNE, in: Robert Höldrich (Hg.), MEDIENKUNST. Beiträge zur Ringvorlesung 2004. Graz 2005, S. 9.
[2] Ebd., S. 12.
[3] Ebd., S. 9.
[4] Axel Köhne, „all melts into a cloud.“ Interview mit Richard Kriesche, in: Günther Holler-Schuster (Hg.), medienblock-richard-kriesche. Neue Galerie Graz 2016, S. 34.
[5] http://www.medienkunstnetz.de/themen/medienkunst_im_ueberblick/gesellschaft/2/
[6] Köhne, S. 35.
[7] Ebd., S. 36.
[8] Ebd.
[9] Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1964). München 2004.