Drei Tage nach Beginn der Invasion Russlands in die Ukraine, am 27. Februar 2022, nahm ich mit Hunderttausenden Menschen in Berlin an einer der weltweit stattfindenden Großdemonstrationen teil. Mit vielen anderen auf dieser Antikriegsdemo in den Straßen Berlins „mitzulaufen“, eventuell noch Fotos von den vielen selbstgebastelten Protestschildern zu machen, um sie in den sozialen Medien zu teilen, war eine einfache symbolische Geste.
Interessanterweise wurde in den ersten Tagen des Krieges in den Medien die These verbreitet, die Proteste gegen die Invasion Russlands und die „enorme Solidaritätswelle“ mit der Ukraine könnten Druck auf politische Entscheidungsprozesse ausüben. Als Beispiel für die politische Wirksamkeit der verschiedenen in den sozialen Medien zirkulierenden Ausformungen – von symbolischen Solidaritäts- und Protestbekundungen bis hin zur Organisation konkreter Hilfe – wurde unter anderem die unerwartete und schnelle Zustimmung zu einem Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Verfahren genannt.
Die Gründe für den Druck – so wird mithin suggeriert – lägen in den heute ubiquitären digitalen Kommunikationstechnologien. Das liegt nahe, insbesondere wenn man sich die seit Kriegsbeginn exzessiv über diverse soziale Plattformen verbreiteten Bilder und Videonachrichten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ansieht. Sie sind ein vielseitig einsetzbares, verstärkendes Instrument im Krieg: Die Videos sprechen den Menschen in der Ukraine Mut zu, fordern von der Weltöffentlichkeit Unterstützung oder wollen die globale Öffentlichkeit mit empörenden Aufnahmen mobilisieren. Hinzu kommen die vielen, oft über Instagram oder andere Plattformen gestreamten Gespräche und Interviews mit Kulturschaffenden, Aktivist*innen, Journalist*innen und anderen aus der Ukraine, die uns – in Echtzeit – informieren und dafür sorgen, dass wir im Bilde bleiben über einen durch und durch illegitimen Krieg.
In dieser komplexen Gemengelage, die einen Gegendruck erzeugen will, möchte ich mich hier jener Artikulation von Protest widmen, die, so die These, parallel einen im Zusammenhang mit der affektgeleiteten Partizipationskultur der sozialen Medien stehenden Transformationsprozess durchmacht.
Artikulation von Protest meint eine spezifische Performativität von Körpern, die, empfänglich für die auf sie einwirkenden und für nicht akzeptabel befundenen Kräfte (Druck), etwas tun, das sie sonst nicht tun, um diesen Kräften etwas entgegenzusetzen. Im Protest, könnte man sagen, ist der Körper Austragungsort widerstrebender Kräfte.
Protest kann unterschiedliche Formen annehmen. Noch vor wenigen Jahren überschlugen sich die Medien angesichts singulärer, spektakulärer Proteste von Frauengruppen, die unter den Namen Pussy Riot und Femen1 bekannt wurden. Mittlerweile lässt sich jedoch eine Tendenz beobachten, die wegführt von solch spektakulären Protesten, welche auf die Wirkung des Schocks setzen, um Aufmerksamkeit zu generieren, hin zu Selfie-Protesten, in deren Mittelpunkt eine handgeschriebene Botschaft auf einem generischen Protestschild oder einem bloßen Zettel steht.
Dass in den letzten Jahren vergleichsweise wenig von solch spektakulären Protesten zu hören und zu sehen war, steht zum einen im Zusammenhang mit den repressiven politischen Realitäten wie jenen in Russland. Zum anderen hat es etwas mit den Protesten als Ausdrucksform einer durch digitale Technologie gestützten Partizipationskultur zu tun, wie das Beispiel der Femen-Proteste zeigt: Exemplarisch sei hier an die „medial wellenschlagende“ Aktion während des gemeinsamen Rundgangs der damaligen Bundeskanzlerin Merkel mit dem russischen Regierungschef Putin auf der weltweit größten Industriemesse in Hannover 2013 erinnert, deren Partnerland damals Russland war. Die Bilder und Videos im Netz vermitteln noch heute einen guten Eindruck der transgressiven Aktion: Umgeben von seriös erscheinenden Anzugträgern, ausgerechnet auf der Tribüne von Volkswagen, sprangen junge Femen-Aktivistinnen über die Absperrung, riefen „Fuck the dictator“ und rannten, sich entkleidend, auf Putin los, während Bodyguards versuchen, sie aufzuhalten.
Es ist jedoch das mittlerweile ikonische Pressefoto, das den wichtigen Moment fixiert, in dem Putin die mit hochgereckten Armen und nackten, bemalten Brüsten ihm direkt gegenüberstehende Aktivistin anschaut. Der leicht irritierte Blick Putins führt auf die Fährte der Logik des Protests: Jener von Femen zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihr Nicht-einverstanden-Sein mit der politischen Realität in gesellschaftliche Konventionen überschreitenden, inszenierten Aktionen artikulieren. Die Aktivistinnen treten mit einer Geste des Protests auf die öffentliche Bühne bzw. kreieren diese mit ihrem provokativen Verhalten. Wesentliches Werkzeug ist dabei der eigene Körper, der unterschiedliche Signale sendet: Selbstbestimmt ziehen sich die Aktivistinnen aus und empören sich gegen „Putin, den Diktator“ – sie schreiben ihre Meinung, ihre Wut, auf ihren eigenen Körper bzw. schreien sie aus ihm heraus. Dieser erscheint damit nicht mehr nur als sexualisiertes Objekt, sondern erweist sich als politischen Protest artikulierendes, „extrem“ handelndes Subjekt.
Wenn Femen-Aktivistinnen öffentlich oben ohne erscheinen,2 spekulieren sie auf den voyeuristischen Blick des Gegenübers: Während der nackte Körper die Lust am Schauen befriedigt, wird diese von der politischen Botschaft auf dem Körper gebrochen, gestört, unterlaufen. Mit dieser Verbindung von Sexualisierung und Politik setzen Femen in ihrem Protest bewusst auf die Kraft der Provokation. Die Strategie liegt spezifisch darin, sich dabei Formen des Hysterischen anzueignen und emanzipatorisch zu wenden, um so eine Öffentlichkeit aufzurütteln. Das heißt, sie kalkulieren die mediale Aufmerksamkeit mit ein, die dem vermeintlich hysterischen und erotisch aufgeladenen Verhalten geboten wird, um ihre politische Botschaft zu verbreiten.
Derlei aktiv-aggressives Handeln, das die eigene Sexualität als Aufmerksamkeitsgenerator einsetzt, wird von den einen als emanzipatorisch gewürdigt, von anderen als hysterisch abgekanzelt – vor allem, wenn es sich bei den Protestierenden um Frauen handelt.
„Hysterie“ meint in diesem Zusammenhang die irritierende, übermäßige Inszenierung des eigenen Körpers – eine extreme und extrem wandelbare, pathosgeladene Körpersprache. Gemeint ist aber auch die Bemalung des eigenen Körpers mit politischen Botschaften, die als potente Aneignung und Drehung eines im Zusammenhang mit der Geschichte der (weiblichen) Hysterie stehenden Phänomens verstanden werden kann: dem Dermografismus. Während man im 19. Jahrhundert unter anderem Taubheiten, sprich Störungen der Empfindsamkeit der Hautoberfläche als wesentliches Merkmal der hysterischen Symptomatologie betrachtete, wurde die Hautoberfläche zugleich als extrem empfänglich für von außen kommende Reizungen und Eindrücke angesehen. Auch diese besondere Empfindlichkeit der Haut wurde historisch mit dem weiblichen Geschlecht und seinem vermeintlich leicht erregbaren Nervensystem in Verbindung gebracht. Die Hysterikerin produzierte demnach nicht nur wandelbare Verhaltensauffälligkeiten, deren Grund unerkannt blieb, sondern zeigte sich auch empfänglich für Stigmatisierungen, das heißt von anderen auf die Haut geschriebene Zeichen. Jene erschienen zunächst als rote, dann weiße Verfärbungen und Wölbungen, die als Ausdruck einer instabilen inneren, vermeintlich weiblichen Disposition pathologisiert wurden.3 Femen drehen diese Symptomatik um: Auf ihrer Haut erscheint nicht der spektakuläre Effekt der Berührung – und des Blicks – des Anderen auf sie. Im Gegenteil, die Aktivistinnen schreiben ihre politische Botschaft selbstbestimmt – und an die Öffentlichkeit gerichtet – auf ihre Haut.
Selfie-Protest und Protest-Selfie
Heute scheint sich diese Form des Protestes, der effektvoll performende Körper, der sich so eine mediale Bühne schafft, zu einer anderen hin zu verschieben: Dem sich nun nicht mehr als Schockwaffe inszenierenden Körper wird ein einfaches Protestplakat an die Hand gegeben, auf dessen Botschaft, sofort erfassbar, reagiert werden soll. In der schnellen Akkumulation der Reaktionen liegt sein Potenzial.
Am aktuellen Protest von Femen gegen „Putins Krieg“, bei dem sich die Botschaft teilweise vom nackten Körper als dessen Träger löst, lassen sich diese Strategieverschiebungen gut erkennen: Drei Frauen stehen nebeneinander, nackt bis auf die Unterhosen, vor der russischen Botschaft in Berlin. Ihre Körper sind mit politischen Botschaften auf Russisch, Ukrainisch bzw. Englisch beschrieben. Sie recken ihre Arme nach oben und halten je ein Schild mit einem Wort. Zusammen ergeben die drei Schilder „Stop Putin’s War“ – das ist so einfach wie klar. Mein Blick oszilliert zwischen nackten, bemalten Körpern und den einfachen Protestschildern mit ihrer klaren Botschaft. Letztere erfasse ich gewissermaßen reibungslos, ohne abgelenkt und irritiert zu werden. Ihr stimme ich einfach zu oder eben nicht. Nichts kompliziert diesen schnellen, einfachen Akt – bis mein Blick wieder zum bemalten, halbnackten Körper zurückkehrt. Es ist ein Protest, der widersprüchliche Signale sendet: einerseits die auf Schockwirkung setzende Inszenierung des eigenen Körpers der Aktivistinnen, andererseits die konventionelle Form des Protestplakats, die wir von Demonstrationen kennen.
Für Schlagzeilen sorgte dieser Protest als einzelner nicht – das muss er auch nicht. Denn die Logik solcher Proteste, die gleichzeitig (wenn auch nicht exklusiv) als Posts in den sozialen Medien erscheinen, zielen auf Partizipation, Klicks, Schwarmbildung, auf einen viral gehenden Hashtag, oder anders formuliert: auf Akkumulation durch Nachahmung, Kommentierung, Bearbeitung und Teilung, um Sichtbarkeit zu generieren. Es handelt sich dabei um einen Protest in der Form eines (erweiterten) „Selbstporträt[s] mit einer handgeschriebenen politischen Nachricht, das sich mit vielen anderen der gleichen Art in sozialen Netzwerken zu einem Selfie-Protest zusammenfügt“4. Selfie-Proteste setzen sich aus vielen unter einem Hashtag versammelten Einzelbildern, den Protest-Selfies, zusammen und bilden einen virtuellen Schwarm.5
Dem Körper kommt in dieser Protestform eine andere Rolle zu: Er provoziert nun nicht mehr mit extremen Verhaltensweisen, sondern erscheint als (Über-)Träger der eigenen Empörung. Empörung wird hier als eine spezifische Affiziertheit verstanden, die sich an einem Gegenstand oder einer Situation entzündet. Interessant ist dabei die Form, in der sich der Protest artikuliert: Im Protest-Selfie bezieht der Körper öffentlich Position gegenüber einer politischen Situation. Dabei artikuliert der Körper seinen Protest nicht mit transgressivem, übertriebenem Verhalten. Im Gegenteil, er verhält sich prinzipiell eher unauffällig in seiner Empörung. Allein durch das Protestplakat unterscheidet sich das Protest-Selfie von gewöhnlichen Selfies. Mit der Aneignung der Selfie-Form überträgt sich auch dessen Logik: Das Protest-Selfie, auch als einzelnes, ist immer potenziell eins von vielen, es ist wesentlich situativ und kommunikativ. Die Aspekte der Relationalität, des Temporären und der Pluralität unterscheiden es von einem Porträt, dem die Repräsentation des Selbst zentral ist.
Nun verweist gerade das Situative des Protest-Selfies, sprich der Aufnahmeort, auf das bei diversen Kundgebungen sehr unterschiedliche Risiko, etwas, was die politische Exponiertheit des protestierenden Körpers betrifft. Femen, die sich in Berlin gegen Russlands Aggression wenden, gehen dabei ein weit geringeres Risiko ein als die in Russland protestierenden Menschen, deren Bilder online zirkulieren. Offensichtlich wird das an Bildern aus Russland, die Protestierende mit Schildern zeigen, die von Polizisten abgeführt werden.
Auch die russische TV-Journalistin Marina Owsjannikowa ging mit ihrem Protest im russischen Staatsfernsehen ein hohes Risiko ein: Während der Live-Übertragung der Nachrichten lief sie hinter der Nachrichtensprecherin mit einem Protestplakat durch das Bild. Auch sie wählte die einfache, spontan wirkende Form des Protest-Selfies, um einerseits der russischen Bevölkerung mitzuteilen, dass Russland einen Krieg in der Ukraine führte, der ungerecht und falsch sei, und um sich andererseits an eine globale Öffentlichkeit zu wenden, und zwar mit dem auf Englisch geschriebenen Satz: „Russians against the war.“
Auch dies lässt sich als eine Art Protest-Selfie verstehen, obwohl es sich dabei um nichts anderes als einen traditionellen Plakatprotest handelt. Der Protest richtete sich nicht an die Menschen im Nachrichtenstudio, vielmehr ging es um die Übertragung eines Nachrichtenbildes, in dem der Protest eine von der russischen Propaganda abweichende Botschaft – als Störung – sichtbar macht. Der Protest existiert nur als übertragenes Bild. Darin verhält sich die TV-Journalistin oppositionell zu der Staatsdoktrin, an deren Verbreitung sie bis dahin selbst Teil hatte und die hier – im selben Bild – von der Nachrichtensprecherin im Vordergrund präsentiert wird. Die „Propagandawaffe“ Staatsfernsehen wird – mit einem einfachen Protestplakat – gegen sich selbst gerichtet. Formen des Hysterischen braucht es hier nicht, um dem Protest eine Bühne zu geben. Die Aufmerksamkeit ist dem Protest qua seiner Intervention in einer populären Nachrichtensendung sicher.
Das (Video-)Bild verbreitete sich in seiner Form als Protest-Selfie rasch in den sozialen Medien. „Viralität“ entsteht meist dann, wenn mit dem Bild ein Nerv getroffen wird: Timing, Situation und Botschaft müssen sich in einer Weise verbinden, die eine globale Öffentlichkeit affiziert und sie sofort auf den Post reagieren lässt. Zur Protestverstärkung wird hier gewissermaßen ein kollektives Empörungspotenzial angezapft, das durch die Visualisierung der Anzahl und Art der Affektäußerungen auf der Benutzeroberfläche der Social-Media-Plattformen zusätzlich unterstützt wird. In dieser unmittelbaren und potenziell unterscheidungslosen kommunikativen Vernetzung von weltweit partizipierenden Akteur*innen, die durch Algorithmen verstärkt und ästhetisch gelenkt wird, liegt ein Potenzial für politischen Gegendruck, wobei das Risiko einer damit beförderten Eskalation und gesellschaftlichen Spaltung nicht zu unterschätzen ist.
Während der singuläre Künstler*innenprotest auf eine öffentliche Debatte zielt, wollen Protest-Selfies in erster Linie politisch mobilisieren. Die Einfachheit der mittels Protest-Selfies geteilten Botschaften findet ihre Entsprechung in der Spaltungsarchitektur der sozialen Medien. Das kann in der aktuellen Kriegssituation, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht, ein potentes Mittel sein. So gesehen läge das Versprechen des Protests der russischen TV-Angestellten in der Kombination von globaler kommunikativer Vernetzung und einer weithin populären Form. Er funktioniert als Teil einer sich konstituierenden Protestgemeinschaft – als sich konsolidierender Gegendruck – gegen Russlands Krieg.
[1] Femen, 2008 in Kiew gegründet, waren zunächst angetreten im Kampf gegen Sextourismus und gegen die Diskriminierung von Frauen in der Ukraine; bald folgten Proteste gegen politische Machthaber, allen voran Putin.
[2] Sie schreiben dabei eine ikonografische Tradition weiblichen Protests fort, von Lady Godiva über Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk (1830) bis zum sogenannten Busenattentat auf Theodor W. Adorno 1969 in Frankfurt.
[3] Vgl. Georges Didi-Huberman, Graphische Ekstase, in Silvia Eiblmayr et al. (Hg.), Die verletzte Diva. Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 2000, S. 288–290.
[4] Michelle Akanji, Protest-Selfie. Zwischen Selbstdarstellung und Protest-Identität, in: Museum für Gestaltung Zürich (Hg.), Protest. Eine Zukunftspraxis. Zürich 2018, S. 176.
[5] Vgl. ebd., S. 177.