Meine erste Reise als Redakteur der neu gegründeten Zeitschrift springer – Hefte für Gegenwartskunst, die damals noch im Springer Wissenschaftsverlag erschien, führte nach Prag. Uns war klar, dass wir nicht nur die neuen Ansätze der postkolonialen feministischen und dekonstruktivistischen Theorie, die damals im deutschsprachigen Raum nur in Wissenschaftspublikationen verfügbar waren, für unsere Leser*innen und für den Kunstdiskurs verfügbar machen wollten, sondern auch eine ästhetische Welt, deren Leben jenseits des Eisernen Vorhangs allenfalls durch die westlich-liberalen Reflexe der sogenannten Dissident*innen sichtbar waren und durch ein paar triumphale Ausstellungsprojekte wie Europa Europa etc. gleich nach 1989. Wir hatte in deren Katalogen die Texte von Jiří Ševčík gelesen, die zu den differenziertesten und informiertesten zu gehören schienen. Jiří war ein führender Theoretiker der tschechischen visuellen Kultur, dessen Wirken mehrere Künstlergenerationen beeinflusste und der in einer Reihe von Bereichen Einfluss hatte. Ich traf ihn damals im Messepalast, der zum Museum Moderner Kunst umgestaltet worden war – einer Inkunabel der europäischen rationalen Architektur der 1920er-Jahre. Jiří leitete dort das Ausstellungsprogramm und war enthusiastisch und voller Hoffnung, dass er das Wissen um die Vielfalt der tschechoslowakischen Gegenwartskunst und ihrer Neoavantgarden, das er in den bleiernen, neostalinistischen Jahren, die dem Prager Frühling 1968 gefolgt waren, in diesem Museum ausbreiten könne. Es kam anders, lokalpolitische Sottisen und Intrigen kosteten ihn die Stelle, die dann Milan Knizak antrat, um dort ganz allein seine selbstzentrierte Geschichte dieser Avantgarde auszubreiten.
Dabei war es gerade die Schule für Architektur, in der Jiří lehrte, die zu den wenigen Residuen der Neoavantgarde zählte. Dort fanden sich die Prager Performer um Jan Mlzoch, Karel Miler und Petr Stembera und dort entwickelte auch Jiří Kovanda seine mittlerweile weltweit bekannte Arbeit. Ševčík wusste alles, er hatte mit seiner Frau, der Kunsthistorikerin Jana Ševčíkova, ein großes Diaarchiv angelegt, das die Arbeiten dokumentierte, auch den Rückzug vieler Praxen in die Provinz, aufs unbeobachtetere Land. Er erlaubte im Schatten der Architekturklassen künstlerische Devianz und half, die wichtigen Texte der neuen Kunsttheorie des Westens in Samisdat-Publikationen unter die Leute zu bringen. Für mich war dieser Besuch eine Lehrstunde, auch weil Jiří mich sofort in wichtige Ateliers wie jene von Adriena Simotova, Stanislav Kolibal, Jiří Kovanda einlud.
Die erste Auslandsreise – er durfte von 1968 bis 1989 das Land nicht verlassen – hatte Jiri nach Österreich geführt, zum steirischen herbst nach Graz. Diese Verbindung blieb für ihn wichtig. Früh lud er die noch sehr junge Dorit Margreiter ins Österreichische Kulturforum nach Prag ein, dessen Programm er kuratierte, ebenso Heimo Zobernig, mit dem ihn bis zuletzt eine Arbeitsbeziehung verband, wie auch mit Peter Weibel.
Uns in der springerin, so hieß unsere Zeitschrift mittlerweile, nachdem wir sie aus dem Verlag in die Selbstverwaltung gelöst hatten, war es deshalb selbstverständlich, dass unser erstes großen Ausstellungsprojekt zu Osteuropa 1999 translocation in der Generali Foundation in Wien die beiden als Partner*innen hatte, auch mit einem Zeitschriftenprojekt zur Kunsttheorie, das Jiří mittlerweile mit dem eine Generation jüngeren Marek Pokorny leitete.
Ganz zentral war auch Jiřís Beitrag in der Jury der wenige Jahre später gegründeten Sammlung Kontakt in Wien, die heute wohl zu den wichtigsten Sammlungen kritischer und performativer politischer Praxen in Ostsüdost- und Zentraleuropa weltweit gehört. Ševčík blieb seiner Akademie in Prag treu. Er war von 1995 bis 2013 Mitglied des Lehrstuhls für Theorie und Geschichte der Kunst an der Akademie der bildenden Künste (AVU) in Prag. Er war auch Vizerektor und vor allem Direktor des 1997 von ihm gegründeten Akademischen Forschungszentrums der AVU (VVP AVU).
Sein ganzes Leben lang engagierte er sich unermüdlich in der theoretischen Diskussion über zeitgenössische Kunst und Architektur und leistete einen großen Beitrag zur Internationalisierung der tschechischen Kunst nach 1989. Meist zusammen mit Jana Ševčíková veröffentlichte er eine Reihe von bis heute zentralen Texten und etablierte sich in den 1990er-Jahren auch international als führender Kurator.
Mit Jiří Ševčík ist ein bedeutender Vertreter der tschechischen visuellen Kultur gestorben, der zunächst die tschechische und die slowakische, dann die tschechische und die internationale Kunstszene und nicht zuletzt die jüngste Künstlergeneration mit ihren Vorgänger*innen zusammengebracht hat.
Jiří wollte immer modern sein, an der Zeit, die Zeit verstehen. Manche seiner Kolleg*innen der Siebzigerjahre nahmen es ihm übel, dass er sich ab den 1990ern auch der postmodernen Malerei und Installation mit großem Interesse widmete. Ševčíks Leidenschaft für alles Neue und Fortschrittliche – und gleichzeitig Problematische, das studiert und verstanden werden muss – bleibt eine Inspiration.
Jiří Ševčík war Preisträger des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst. Im Jahr 2018 wurden er und Jana Ševčíková mit dem Staatspreis des Kulturministeriums für ihren lebenslangen Beitrag zur tschechischen Kultur ausgezeichnet.
Wir in der springerin haben mit seinem Tod einen frühen Co-Kombattanten und ich habe einen Freund verloren.