Heft 2/2022 - Lektüre



Eske Schlüters:

Alles kann ein Bild von allem sein

Wien (Passagen Verlag) 2021 , S. 72 , EUR 27

Text: Christa Benzer


Beim Lesen wünscht man sich irgendwann, eine Schauspielerin oder ein Schauspieler würde das Buch laut rezitieren: langsam, eventuell mit Wiederholungen und so artikuliert, dass man merkt, wann die Sprache eine andere Färbung kriegt, wann die Satzmelodie sich ändert, wann die vielen in dem Buch versammelten Sprecher*innenpositionen wechseln.
Um dem Wittgenstein’schen Satz „Alles kann ein Bild von allem sein“ auf den Grund zu gehen, hat die Hamburger Künstlerin Eske Schlüters in ihrer künstlerisch-wissenschaftlichen Dissertation sämtliche Poststrukturalist*innen zusammengeführt, die am Autor*innen- und Text-, aber auch Bildbegriff gearbeitet haben: „Wenn ich Ott, Foucault, Lispector, Deleuze und Meyer zitierend, andere Autoritäten in Anspruch nehme, auf die Bühne zitiere und gleichwohl miteinander sprechen lasse […] und zeitweise zum Schweigen bringe […], erinnert das an Darbietungen in einer (Theater-)Aufführung“ (S. 17), schreibt die Künstlerin, die um die potenzielle Aufführbarkeit ihres ungemein dichten Montagewerks weiß.
Von einer künstlerischen Praxis kommend, in der sie Bilder montiert, um neue Lesarten zu eröffnen, sind es hier Zitate, mit denen sie den titelgebenden Satz aus den Philosophischen Untersuchungen I umkreist, der ihre Aufmerksamkeit aufgrund seiner Viel- bzw. Uneindeutigkeit erregt hat. Einführend bespricht sie mit Bezug auf die französische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hélène Cixous sowohl die Möglichkeiten „weiblichen Schreibens“ als auch die Rolle der indirekten Rede und lässt mit Jacques Derrida wissen, dass „eigentlich nur ein Sprechen in Anführungszeichen möglich wäre, da Sprache zu keiner Zeit ‚eigen‘ sein kann“ (S. 22).
Schlüters interessiert das „Schreiben“ mit Zitaten als eine Erweiterung ihrer künstlerischen Praxis, um im Falle ihrer Dissertation „Fragmente aus ihrem Zusammenhang zu reißen und neu anzuordnen, und zwar so, daß sie sich gegenseitig illuminieren und gleichsam freischwebend ihre Existenzberechtigung bewähren konnten“ (S. 31), so die Künstlerin, Hannah Arendt zitierend, die diesen Satz über Walter Benjamin geschrieben hat.
Erst das zweite Kapitel führt näher heran an den „Gegenstand des Schreibens“, den Satz „Alles kann ein Bild von allem sein“: Schlüters zerlegt ihn nach allen Regeln der grammatikalischen Kunst und beschreibt auf ihrer Suche nach der Bedeutung des Ganzen die Rolle jedes einzelnen Elements – mit dem nicht ganz so erstaunlichen Schluss, dass in der Wittgenstein’schen Proposition vor allem das Wort „Bild“ erklärt werden muss.
In der Folge liefert sie sich und den Leser*innen eine Tour de Force durch die wichtigsten Bildtheorien von Michel Foucault, Georges Didi-Huberman, Jean-Luc Nancy über W. J. T. Mitchell bis René Magritte oder Paul Valéry, die die feinen Unterschiede zwischen Ähnlichkeit, Gleichartigkeit und Übereinstimmung entlang von Bildern (wie dem berühmten Ceci n’est pas une pipe) oder Figuren (wie der des Doppelgängers) verhandeln, um dann ihre Überlegungen auch noch um das Imaginative, das Traumbild zu erweitern: „weil die Ähnlichkeit dafür, wie wir das Geträumte erinnern, ohne ursprüngliches Modell, nämlich Ähnlichkeit, ohne ähnlich zu sein, ist, gibt das, was sich als Bilder des Traums/des Träumens darstellt, nicht nur Aufschluss über die Zusammengehörigkeit von ‚Gestimmtsein und Erfülltsein‘ (Ludwig Binswanger, S. 107), sondern ist nicht ausgeschlossen, dass unter bestimmten Bedingungen alles ein Bild von allem sein könnte, weil der Mensch ‚aus seinen Träumen […] vielleicht die Vorstellung des sehr ausgedehnten Möglichen geschöpft [hat] – die freie Kombination der Ereignisse – und den Gedanken der Transformation‘“ (Paul Valéry, S. 187). Dieser Satz, in dem Überlegungen von Schlüters auf jene von Paul Valéry und Ludwig Binswanger treffen, steht geradezu beispielhaft für die teils schwer lesbare, manchmal fast ironisch wirkende Zusammenführung von Zitaten, wobei in der Konstruktion wohl angelegt ist, dass man als Leser*in aufgrund der zum Teil elendslangen Satzungetüme mit zig Anführungszeichen und Auslassungsklammern oft völlig den Faden verliert. Schließlich schwingt bei der mäandernden, jedoch durchaus anregenden Lektüre immer mit, dass Schlüters eine lineare Lesart nicht interessiert, sondern dass sie ihren suchenden Zugang auch an die Leser*innen weiterzugeben versucht.
Gegen Ende steuert dann aber doch alles auf eine Art (Auf-)Lösung zu, wenn Schlüters mit Foucault konstatiert, dass „das Band zwischen dem Bild und dem Sinn (sowieso) immer nur ein mögliches, eventuelles, kontingentes“ (S. 209) bleibt.
Konsequenterweise ist es dann auch gar nicht das Substantiv „Bild“, sondern das Verb „sein“, das den Anstoß für eine (Neu-)Interpretation des Satzes liefert. Und diese verdankt sich Virginia Woolf, die in Orlando schreibt, dass „der Wandel das einzig Beständige [ist]“ und „jedes Bild wegen des ‚sich hierhin und dorthin Wenden[s], erst noch im Prozeß des Werdens‘“ ist. „Alles kann ein Bild von allem werden“, heißt es am Ende. Vielleicht hätte man dazu schon vor der intensiven Lektüre „Ja, klar“ gesagt.