Heft 2/2022 - Lektüre



Bernd Scherer:

Der Angriff der Zeichen. Denkbilder und Handlungsmuster des Anthropozäns

Berlin (Matthes & Seitz) 2022 , S. 73 , EUR 28

Text: Peter Kunitzky


Es gibt in der Tat Begriffe, ohne die sich der mediale – wenn nicht sogar überhaupt der gesellschaftliche – Diskurs kaum noch bestreiten ließe, Begriffe, in denen der aktuelle Zeitgeist somit ausgesprochen zu sich kommt. Wer über feine Ohren verfügt, wird beispielsweise finden, dass letzthin wirklich sehr vieles eskaliert: eine ziemliche Brisanz versprechende Vokabel, die dieser Tage aber nicht nur zu der kurzen Zündschnur eines russischen Autokraten führt, sondern vielmehr darauf verweist, dass wir seit Beginn dieses Jahrtausends – und kurioserweise immer im verflixten Abstand von ziemlich genau sieben Jahren – von einer Krise in die nächste stürzen. Und würden wir nicht momentan von Krieg und Pestilenz – und damit von zwei zumindest in Europa eigentlich für überwunden geglaubten Plagen der Menschheit – zugleich heimgesucht, sähen wir uns vermutlich vorrangig mit der alle anderen Krisen gleichsam überwölbenden oder hinterfangenden Klimamisere konfrontiert, die trotz ihrer Ungreifbarkeit, ihrer so schweren Fasslichkeit jedoch in Wirklichkeit die größte Bedrohung für uns darstellt. Denn während wir etwa den anderen akuten Gefahren begegnen, indem wir unser angestammtes Terrain – unsere Körper, unsere Staaten – unnachgiebig zu verteidigen trachten, führt uns die Klimakrise drastisch vor Augen, dass der Boden, auf dem wir dabei stehen, selbst brüchig und schwankend geworden ist, dass mithin die Naturkulisse, vor der wir seit jeher gewohnt sind, unsere existenziellen Kämpfe auszufechten, krachend einzustürzen droht. Und das alles käme eben nicht wie ein Fatum über uns, weil es vielleicht einer ebenso göttlichen wie bösen Hand beliebte, unser aller Sache den Boden zu entziehen, sondern wäre unzweifelhaft die Folge unseres eigenen Eingreifens, unseres menschlichen Zutuns.
Grund genug nun für Bernd Scherer, gelernter Philosoph und seit 2006 Intendant des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin, sich mit dem Anthropozän eines weiteren dieser diskursiven Modewörter anzunehmen. Das Buch dürfte dabei ganz unmittelbar Ausfluss eines Langzeitprojekts des HKW zu diesem Thema sein, und angesichts dessen erscheint es dann geradezu adäquat, dass der Autor hier keine Gegenwartsdiagnose betreibt, also inzwischen durchaus bekannte und das Anthropozän ja wesenhaft kennzeichnende Phänomene wie den Klimawandel oder das Artensterben ausbuchstabiert oder menschliche Verhaltensweisen anprangert, die dergleichen begünstigen, sondern historische Tiefenbohrungen vornehmen möchte; Tiefenbohrungen, die aber keineswegs so etwas wie eine historische Linearität oder gar Teleologie enthüllen sollen, die es nahelegen würde, dass die Geschichte mit einer unleugbaren Zwangsläufigkeit im Anthropozän hätte münden müssen. Es wäre daher angezeigt, in diesem Zusammenhang wohl eher von Probebohrungen zu sprechen, von tentativen Abteufungen, die der Autor in die Geschichte treibt, um hier auf epistemische Entwicklungen zu stoßen und da mentale Dispositionen aufzudecken, die sich letztlich in ihrer Gänze zu einer kulturellen Logik konstellieren, deren Entgrenzung dann in die heutige Krise führt. Denn, wie der Autor nicht müde wird zu betonen, die anthropozäne Welt verdankt sich erst einer Art Entgleisung des großen Emanzipationsprojekts, das der Mensch in dem Bemühen angestoßen hat, sich eine ihm gemäße Sphäre einzurichten.
Die solcherart entstandenen historischen Vignetten veranschaulichen nämlich auf bündige Weise, wie der Mensch schon seit dem 16. Jahrhundert versucht, sich mithilfe der allmählich aufkeimenden empirischen Wissenschaften und der durch sie theoretisch fundamentierten Technik aus den Zwängen der Natur zu befreien, ja sie sich– einem alten Bibelvers folgend – gar untertan zu machen. Dazu musste die Natur in einem ersten Schritt als roh und unbeseelt, das heißt eigentlich gottlos erwiesen werden – eine Denkoperation, die strukturell im Übrigen durchaus jener ähnelt, mit der die schwarze Vernunft sich das koloniale Rassensubjekt als „intensiv von der Leere bearbeitetes Anderssein“ (Achille Mbembe) ausmalt, nur um es besser auspressen zu können. Dies als beiläufiger Hinweis darauf, dass das historische Subjekt des Anthropozäns wiederum mitnichten in einem anonymen, kollektiven Wir, sondern sozial eindeutig zuordenbar in der europäischen Bourgeoisie zu verorten wäre, jener Klasse, die eine marktgetriebene Ökonomie instituierte, indem sie beispielsweise die Arbeit und den Boden aus ihren traditionellen, gleichsam der Subsistenz dienenden Beziehungen herauslöste, damit beides kapitalisiert und damit auch ausgebeutet werden könne; so wie sich das Heraufdämmern des Anthropozäns wohl überhaupt in nicht geringem Umfang dem Vermögen oder Wunsch verdankt, etwas zu zerteilen und zu zergliedern, um es sodann in eigener Weise zu rekonstruieren, kurz: dem Abstraktionsgeist des Menschen, dem immer auch etwas Disruptives anhaftet. Diese Gabe führt nämlich dazu, dass der Mensch im Laufe der Zeit sein eigenes Maß verliert, weil es ihm gelingt, mittels mathematischer und geometrischer Verfahren Repräsentationsmodelle oder Zeichensysteme zu schaffen, die ihm zweierlei erlauben: einerseits von den konkreten Dingen abzusehen (womit er sich dann freilich auch um den Bezug zu ihnen bringt) und andererseits eine um alles Individuelle bereinigte, objektive und ganzheitliche Welt zu konstruieren, an der sich zudem Skalierungen vornehmen lassen, die den eigentlich menschlichen Erfahrungsbereich weit überschreiten. Als Beispiel wäre hier natürlich zuvorderst die Kartografie zu nennen, die sowohl der Vermessung der Welt wie auch der Vermessenheit des Menschen Vorschub leistet – jener Vermessenheit, die damit letztlich so etwas wie den geistigen Urgrund der anthropozänen Eskalation bildet.