Stuttgart. Württembergischer Kunstverein. The Evidence of Things Not SeenDie Macht bleibt weiß, dokumentiert er anhand einer Reihe abscheulicher Kindermorde in Atlanta ein rassistisch motiviertes Rechtssystem, das seine Augen willkürlich vor Tatsachen verschließt. Die im Kunstgebäude Stuttgart sehr präzise und dicht arrangierte Ausstellung widmet sich ebenfalls Momenten kollektiver Blindheit, die historisch in der gesellschaftlichen und pseudowissenschaftlich unterlegten Abwertung von nicht-weißen Personen gründen. Motiv umfangreicher, fotografischer Zyklen wie Africa Series (17 Fotografien, Silbergelatinedruck und Texttafeln, 1993) oder Sea Islands (Auszug aus 13 Fotografien und Texttafeln, 1992) ist aber nicht Anklage, sondern die Möglichkeit, historisch verankerte Narrative durch konsequente Umkehrung des ethnografisch-stereotypen Blickwinkels neu zu deuten. Dafür bearbeitet Weems Archivmaterial oder stellt detailreich inszenierte Stillleben des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach. Sie ergänzt diese wie zum Beispiel in From Here I Saw What Happened and I Cried (33 digitale C-Prints, sandgestrahlte Texte auf Glas, 1995–96) durch eigene Texte, in denen sie gängige, rassistische Zuschreibungen explizit evoziert: „You Became A Scientific Profile / You Became Playmate To The Patriarch / Anything But What You Were, Ha.“ Als Quelle von Stigmatisierung ist die Sprache gleichzeitig Problem und Lösung, darin ist Weems sich mit Baldwin einig. Ihre Colored People (25 Archivpigmentdrucke mit Farbmusterpapieren, 1989–90) sind demnach in einer möglichen, neuen Deutung einfach mit Filtern unterlegte, rosablaugelb-farbige Porträts afroamerikanischer Kinder und Jugendlicher.
Die Ausstellungsarchitektur in Stuttgart ist dreigeteilt. An die ethnografisch motivierten Arbeiten der Neunzigerjahre reihen sich zwei weitere Themenstränge in Weems Gesamtwerk: Zunächst die künstlerische Auseinandersetzung mit dem US Civil Rights Movement der Sechzigerjahre und dessen Fortschreibung im Heute – Repeating the Obvious (39 Fotografien, Archivpigmentdrucke, 2019) zeigt wandgreifend die schemenhaften Umrisse des „untoten“ Opfers (Ist es Daunte Wright? Georges Floyd? Oder der erst zwölfjährige Tamir Rice?) in multipler Anzahl, Land of Broken Dreams: A Case Study Room (Installation, Möbel, Objekte, 2021–) ist eine Sammlung teils absurder Memorabilia Schwarzen Widerstands als Versuch einer Ikonografie von Black Power in der Tradition – weißer – touristischer Wohnzimmersouvenirs. In Scenes and Takes (vier Fotografien, Archivpigmentdrucke, vier Texttafeln, 2016) beobachtet Weems gesellschaftlichen Wandel aus dem Blickwinkel der Filmindustrie, die in Serien wie Empire anhand einer Handlung rund um das Schwarze HipHop-Business auch mehrheitlich Schwarze Schauspielstars hervorgebracht hat.
Dem gegenüber steht, räumlich zentral gruppiert, als drittes Motiv die wohl persönlichste Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem Thema Resistance/Resilience. Dazu gehört allen voran die sich kontinuierlich erweiternde Museum Series (digitale C-Prints, 2006–). Stets mit der*m Betrachter*in im Rücken steht die Künstlerin auf der Schwelle zu den Museen der Welt, ohne einzutreten/eintreten zu dürfen. Ihrem Blick folgend erschrickt man plötzlich angesichts der architektonisch konditionierten Arroganz der musealen Institution: Wie kommt es, dass die erste Ausstellung einer Schwarzen, künstlerischen Position – Weems eigene – erst 2014 ins New Yorker Guggenheim Museum Einzug hält? (Der erste Schwarze Künstler auf dem Titel von Life Magazine war 1963 übrigens Baldwin – eine weitere Parallele.) Zentralperspektivisch wird der Blick auf ein kollektives Paradigma von „drinnen“ und „draußen“ gelenkt; ein Resultat hegemonialer Geschichtsschreibung unter dem Topos der Gewalt: In der Fotoserie Constructing History – A Story within a story (acht Fotografien, Archivpigmentdrucke, Video, 2008) zeigt sich hartnäckig im Hintergrund ein Blind Spot, repräsentiert durch zwei weiße Rechtecke, einladend wie eine Buchseite, die es mit neuen, nicht-hegemonialen Narrativen auszufüllen gilt. Nachgestellt ist hier zum Beispiel die Ermordung Kennedys: Das weltbekannte Bild des blutüberströmten Präsidenten neben seiner Frau im offenen Wagen (Dallas, 1963) zementiert einmal mehr die Konditionierung des westlichen Blicks im kollektiv-selektiven Bewusstseins Amerikas, denn mit der zeitgleichen Ermordung Medgar Evers sowie kurz darauf jener von Malcolm X und 1968 der von Martin Luther King assoziiert die Masse gemeinhin kein Bild.
Derselbe Blind Spot – oder besser, the things not seen – erscheint hier auch an der Wand eines Klassenzimmers als ambivalenter Ort der Konsolidierung unilateraler Diskurse einerseits oder als potenzieller Ort kollektiver Utopien andererseits. Ein Spiel mit kontroverser Deutung ist auch die raumgreifende Multimediainstallation Lincoln, Lonnie and Me – A Story in Five Parts (Videoinstallation mit Pepper’s Ghost-Trick, 18’, Farbe, Ton, Samtvorhänge, Kordeln, 2012), die in fünf Akten die amerikanische Geschichte kabarettartig überspitzt unter Zuhilfenahme illusionistischer Tricks ausgehend von Lincolns Gettysburg-Rede über die antisegregationistischen Busproteste der frühen Sechzigerjahre darstellt, um im dritten Akt in der Aussage des Jokers zu gipfeln „I am going to take you ... Revenge is a motherfucker“ – die unmoralische Drohung eines potenten, unausrottbaren Gegenspielers zum archteypisch-amerikanischen Helden à la Batman, der im fünften Akt von einer weiteren Figur der amerikanischen Populärkultur abgelöst wird, dem dümmlichen Disney-Hasen Bugs Bunny, in dessen zu knappes Kostüm sich die Künstlerin erfolglos zwängt: die medial konstruierten Stereotype von White America explodieren.