München. Kollektive der Moderne ist Teil des umfassenden Forschungs- und Ausstellungsprojekts Gruppendynamik, das zwei umfangreiche Ausstellungen, ein international besetztes Symposium und eine materialreiche Publikationsreihe umfasst. Die Ausstellung, die sich über die erste Etage des Lenbachhauses erstreckt, folgt zeitlich auf Der Blaue Reiter, die im Stock darüber zu sehen ist.1 Während Der Blaue Reiter die bedeutende Sammlung des Lenbachhauses zum Ausgangspunkt einer neu gestalteten Präsentation nimmt, wurde Kollektive der Moderne durch zahlreiche Leihgaben und institutionelle Kooperationen ermöglicht. Dieses in sich schon kollektive Unterfangen, das durch ein achtköpfiges Team an Kurator*innen und zahlreiche externe Expert*innen durchgeführt wurde, deckt einen breiten Zeitraum zwischen den 1910er- und 1980er-Jahren aus globaler und dezidiert dekolonialer Perspektive ab. Als Teil des von der Kulturstiftung des Bundes initiierten Projekts Museum Global, finden drei zentrale Ansätze zusammen: ein globaler Blick auf Sammlungen der Kunst der Moderne, ein Augenmerk auf die soziopolitische Verortung künstlerischer Praxis und eine Befragung künstlerischer Produktionsformen – allen voran die Arbeit in Gruppen, Zusammenschlüssen und Kollektiven. 14 Künstler*innengruppen aus Lateinamerika (Argentinien, Brasilien), Asien (China, Indien, Japan, Pakistan), Afrika (Marokko, Nigeria, Sudan) und Osteuropa (Polen) wurden auf zehn Ausstellungsräume aufgeteilt und durch eine breite Auswahl künstlerischer Arbeiten, Archiv- und Dokumentarmaterial, Ephemera, Publikationen und Manifeste vorgestellt. Ergänzend wurden vier übergreifende Räume angelegt: „Distribution“ und „Inside Out“, ein Raum zu Kunstschulen sowie ein mit postkolonialer Literatur und Ausstellungskatalogen bestückter Leseraum.
Die Ausstellung fokussiert dabei auf Gruppen, Kollektive und Schulen außerhalb von Westeuropa und Nordamerika, wenngleich globaler Austausch durchweg eine wesentliche Rolle spielt. Globale Netzwerke und transnationale Vernetzungsbewegungen werden im Ausstellungsraum „Distribution“ als dreidimensionale Darstellung komplexer Interaktionen räumlich erfahrbar. Auch die kuratorische Entscheidung, Konzepte wie „nation building“, antikoloniale Praxis oder Kosmopolitismus und Transnationalismus hier konzentriert wiederaufzugreifen und zusammenlaufen zu lassen, ist nachvollziehbar; ebenso wie die erste Etappe „Inside Out“, die die wichtige Frage aufwirft, wer denn eigentlich zu einem Kollektiv gehört und wer nicht – definiert sich doch jede Gemeinschaft nicht nur durch ein empathisches Innen, sondern auch durch Formen der Aus- und Abgrenzung. Verstanden als Blick auf gemeinschaftliche Kunstpraktiken der Transmoderne,2 die sich durch globalen Austausch sowie antikoloniale und dekoloniale Widerständigkeiten auszeichnet, legen die in der Ausstellung getroffene Auswahl und die auf politische Ereignisse zentrierten Saaltexte die These nahe, dass gemeinschaftliche Produktionsformen eng mit Umbrüchen verzahnt sind und sie zugleich als Ausdruck und Motor von gesellschaftlichem Wandel zu verstehen sind.
In Kollektive der Moderne sind es häufig die Nachwirkungen der Unabhängigkeitsbestrebungen und Befreiungskämpfe von Kolonialmächten, die in der Gesellschaft und der Kunst neue Ausdrucksformen und Gemeinschaftskonzeptionen hervorbrachten. So entstanden sowohl der Lahore Art Circle in Pakistan und die Bombay Progressive Artists‘ Group nach der Unabhängigkeit des indischen Subkontinents 1947 und der Entstehung zweier neuer Nationalstaaten. Wenngleich Brasilien bereits seit den 1820er-Jahren nicht mehr unter portugiesischer Herrschaft stand, ist die Frage nach dem Eigenen und dem Verhältnis zur westlichen Moderne etwa Thema in der Grupo dos Cinco rund um die Tropicália-Malerin Tarsila do Amaral und dem Schriftsteller Oswald de Andrade. Neben Manifesten und Zeitschriften (wie etwa Souffles, eine transnationale französisch-arabischsprachige Publikation, die zwischen 1966 und 1972 in Marokko erschien), sind öffentliche Plätze und das Theater wiederkehrende Orte künstlerisch-kollektiver Praxis. Einen gewichtigen Kontrapunkt setzen hier die geheimen Ausstellungen der Gruppe ohne Namen (Wuming Huahui), die sich 1973 in Beijing formierte. Während der Kulturrevolution der 1960er- und 1970er-Jahre waren westliche (künstlerische) Einflüsse und als bürgerlich angesehene Kunst verboten, was wiederum zu Zusammenschlüssen regimekritischer Gegenöffentlichkeiten führte.
Gruppendynamik ist als Übertitel und konzeptuelle Setzung fruchtbar und aufschlussreich, denn im Zentrum der Ausstellung stehen unterschiedliche Phasen der Formierung, des internen Antagonismus, der Abgrenzung nach außen, aber auch der Verwerfung und Auflösung – und des komplexen Fortlebens von künstlerischen Gruppierungen. Besonders spannend ist hier die grupa „a.r.“ („echte Avantgarde“ oder „revolutionäre Künstler*innen“), die sich 1929 im polnischen Łódź formierte und deren ausgiebige Sammlungstätigkeit den Grundstein für das heutige Muzeum Sztuki legte. Was ein Kollektiv ist und wie es entsteht, wird nicht präskriptiv gedacht und ausbuchstabiert, vielmehr setzt Kollektive der Moderne konträre Konzeptionen formeller und informeller, großer und kleiner, geschlossen agierender und zerstrittener, kurzlebiger und fortbestehender Gruppierungen in einen produktiven Dialog.
[1] Gruppendynamik – Der Blaue Reiter, 23. März 2021 bis 5. März 2023.
[2] Christian Kravagna, Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts. Berlin: b_books 2017.