Heft 2/2022 - Artscribe
Wien. Die 1692 gegründete Wiener Akademie sah es als ihr Glück an, als mit der Schenkung des Grafen Lamberg-Sprinzenstein im Jahr 1822 das Haus in den Besitz einer erstklassigen Kunstsammlung von 800 Werken gelangte, die in der Folge erweitert, wenn nicht verdoppelt werden konnte und nun mit Kupferstichkabinett und Glyptothek gemeinsam geführt wird. Als eine in einer zeitgenössischen Kunstinstitution verankerte Sammlung war seit jeher die Gegenüberstellung von alter mit neuer Kunst gegeben, was nun anlässlich der Eröffnungsausstellung nach der Rückübersiedlung an den Schillerplatz mit einer Einladung an das indische Kurator*innentrio Raqs Media Collective bekräftigt wurde: Jeebesh Bagchi, Monica Narula und Shuddhabrata Sengupta wurden – so der Pressetext – eingeladen, „einen externen Blick auf die Sammlungen der Akademie zu werfen und ihre thematische Neuausrichtung zu begleiten, sie aber auch mit dem aktuellen, zeitgenössischen Kunstschaffen in Bezug zu setzen“. Wichtig war dabei auch die „Berücksichtigung des aktuellen Dekolonialismus-Diskurses in der Kunst und den Kulturwissenschaften“. Rektor Johan Hartle erwartete sich in dieser Zusammenarbeit „einen Blick von außen auf die Akademie – ihre Sammlungen, ihre Geschichte, aber auch ihre Gegenwart, um relevante, neue Akzente für die interne Weiterentwicklung zu setzen“ und sprach davon, „eine neue Ära der Gestaltung, Aneignung und Nutzung der historischen Sammlung einzuleiten“.
In den neu restaurierten Ausstellungsräumen sind zeitgenössische und alte Kunst nach wie vor hermetisch durch Zutrittseinrichtungen und einen redundanten Vorraum getrennt. Hätte es trotz klimatechnischer oder anderer Gegenargumente hier möglicherweise flexiblere Lösungen gegeben? Denn räumlich gesehen bedeutet der derzeitige Zustand, dass die angekündigten neuen Perspektiven auf den historischen Bestand nur dort erfolgen können, wohin scheinbar – im Gegensatz zum gegenwärtigen nebenan – nie die Kunde vom „wilden“, „subjektiven“ oder „partizipativen“ Museum gedrungen ist. Ist das ursprüngliche Glück, diese Sammlung zu besitzen, nun zu einer Bürde geworden, die dringend einer Korrektur bedarf, um auch aktuellen Diskursen die Stirn bieten zu können? Als wäre jegliche Kritik am herkömmlichen Museum einem Ort wie der Akademie gänzlich fremd, heißt es dazu auch vom Kurator*innenteam: „Die Kunstsammlung einer Akademie ist ein intensiver Ort, an dem historische Sedimente und die damit hartnäckig einhergehenden Narrative verkrusten und erstarren. Sie aufzubrechen und der kritischen Neubeurteilung zugänglich zu machen, ist eine ebenso dringende wie machbare Aufgabe.“
Unter dem Titel Hungry for Time sind es „die Anmaßungen des Imperialismus“ und Werte gesellschaftlicher Eliten mit ihrer Aufteilung von „(Lebens-)Räumen auf der Grundlage von Zeit“, die den Dialog von zeitgenössischen mit ausgewählten Werken der Sammlung bestimmen, um „Akte des epistemischen Ungehorsams zu versammeln“, die gewohnte Sicht- und Handlungsweisen aufbrechen und konterkarieren. Mit einer „Zeitreise voller Sprünge, Unterbrechungen und Umwege“ ist eine anspruchsvolle und mit Bezügen reiche Ausstellung aus Prolog, zehn Szenen und Epilog entstanden, die in einem überzeugenden Display von Nicole Six und Paul Petritsch umgesetzt wurde. Etwa in der Mitte der Ausstellung erreicht sie in Szene V eine Dichte an verschiedenen Materialien, quasi eine Ausstellung in der Ausstellung, um darin auch lokale Bezüge zum Prater und seinen Vergnügungsorten oder zur Weltausstellung einzubringen. Dass die Kurator*innen mit Chronologien brechen und andere Formen eines Narrativs suchen, machen auch die Texte des knapp gefassten Begleithefts deutlich, die Geschichten und Geografien verbinden und in einzelnen Gedanken das „chronische Nicht-Sehen von Dingen, die nicht offen zutage treten“ (Begleitheft), verfolgen. Da ist etwa der Aal am Flügel des Altars von Hieronymus Bosch, der mit Freuds Forschungen mit diesem Tier in Verbindung gebracht wird, oder die alternativ gegebenen Bildtiteln mancher Werke der Sammlung, die uns Hinweise auf den „epistemischen Ungehorsam“ geben, wenngleich es dezidierte kuratorische Absicht ist, möglichst wenig Text zur Verfügung zu stellen, damit sich die Besucher*innen eigene Sichtweisen aneignen können.
Das Team hat viele internationale Künstler*innen eingeladen, wie etwa Lavanya Mani, Hein Koh oder Dayanita Singh, und auf mediale Vielfalt gesetzt, wobei die Gegenüberstellung oft mit den Arbeiten von Kupferstichkabinett und Glyptothek überzeugender ist als mit jenen der Gemäldesammlung. Neben den fix montierten Werken von Bosch und Pierre Subleyras sind es vor allem Niederländer oder Flamen, die ausgewählt wurden, zumal Stillleben oder Trompe-l‘oeil eine gute Angriffsfläche für dekoloniale Strategien abgeben. In diesem Sinne werden sie bisweilen zu Dienern von Diskursen, ohne dass der ihnen eigene gesehen wird, wie dies für die Bilder von Willem van Aelst oder Pieter Boel in Szene 1 gilt, die in Dayanita Singhs Time Measurement. Sequence IV – Fotografien von in Stoff eingeschlagenen Aktenpaketen – ein Gegenüber haben. Obwohl viele Dinge in den Stillleben erscheinen, ist es – wie Hanneke Grootenboer nachgewiesen hat – gerade nicht die „glaubhafte Darstellung“, die diese Bilder bestimmt, sondern die Präsentation des Argumentes und die Offenlegung von Perspektive. In der Kritik ihrer eigenen Beschaffenheit sind sie also nicht weniger kritisch angelegt als so manches zeitgenössische Gegenüber.1 Das „chronische Nicht-Sehen“ lauert im Altbestand trotz aller guten Vorsätze einer kritischen Neubeurteilung.
[1] Vgl. Hanneke Grootenboer, The Rhetoric of Perspective. Realism and Illusionism in Seventeenth-Century Dutch Still-Life Painting. Chicago 2005, Zitat aus der Rezension von Claudia Fritzsche; https://www.arthistoricum.net/kunstform/rezension/ausgabe/2008/5/8645.