Kathmandu. Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, nahm meine (inzwischen verstorbene) Großmutter einen roten Stift und Kurkuma in die Hand und malte einen Löwen um eine Eiterbeule – verzeihen Sie mir, liebe Leserin und lieber Leser, denn Erinnerungen haben die Angewohnheit, sich im Sand der Zeit zu vergraben –, die entweder auf dem Rücken meiner Schwester oder auf meinem Rücken erschienen war. Was zum Vorschein kam, war die Karikatur eines Löwen, aber es war ein Löwe – ein „heilender Löwe“, die Manifestation eines heiligen Wesens mit der Macht, solche Geschwüre oder Gürtelrose zu heilen.
Die Erinnerung daran hatte sich im Laufe der Zeit tief eingegraben, war sogar vergessen und als Aberglaube aus einer längst vergangenen Zeit abgetan worden. Dann stieß ich auf der Kathmandu Triennale, einer breit angelegten Ausstellung an fünf verschiedenen Orten in Nepals Hauptstadt, auf drei Fotografien, die Nepals führenden Paubha-Maler Lok Chitrakar zeigen, der die heilenden Löwen um einen Gürtelroseausbruch herum zeichnet. Plötzlich nahm das, was einst von Logik und Vernunft abgelehnt worden war, an dieser Wand eine andere Gestalt an. Die heilenden Löwen waren eine traditionelle Kunstform, bei der der Körper selbst zur Leinwand wurde. Aber das war noch nicht alles. In hinduistischen Gesellschaften wird das Heilen den oberen Kasten überlassen, vor allem den brahmanischen Heilern, die die Schriften lesen und Ayurveda, die traditionelle Heilkunde, praktizieren können. In Nepal jedoch stammten diejenigen, die die heilenden Löwen zeichneten, aus der Kaste der Chitrakar – wörtlich: „diejenigen, die zeichneten“. Die Chitrakars waren eine erbliche Berufskaste, die auf der Stufenleiter der Kastenhierarchie niedriger stand. Der Akt des Zeichnens solcher Heillöwen untergrub also die bestehende Ordnung.
Die Entscheidung, die heilenden Löwen in die Triennale aufzunehmen, war ein weiterer Akt der Subversion, denn sie stellte die Idee dessen, was Kunst ausmacht, infrage ebenso wie die Entscheidung, Chet Kumari Chitrakars handgezeichnete Gemälde hinduistischer Gottheiten, die auf Festivals verkauft werden, einzubeziehen. Selbst die Tatsache, dass Bal Krishna Banmalas drei Gemälde den jährlichen Navadurga-Tanz von Bhaktapur aufnahmen, war ein Akt der Rebellion. Denn der Navadurga-Tanz ist die exklusive Domäne der Banmala-Kaste, die in der Kastenhierarchie ganz unten steht. Sowohl der Maler als auch die Kurator*innen brachen aus den Formen aus, die von ihnen erwartet wurden – sowohl das performative Ritual als auch die Ausstellung selbst.
Die Kurator*innen Cosmin Costinas, künstlerische Leitung, sowie die beiden Künstler*innen Sheelasha Rajbhandari und Hit Man Gurung haben es nicht dabei belassen. Das Besondere an dieser Ausgabe der Triennale war die ausschließliche Fokussierung auf die einheimischen Kunstformen und -motive Nepals, die sowohl von den bestehenden Machtstrukturen als auch in der populären Kunstbetrachtung an den Rand gedrängt werden. Damit forderten die Kurator*innen die Betrachter*innen auf, solche künstlerische Traditionen zu akzeptieren und die indigene Vielfalt und Kultur Nepals anzuerkennen.
Historisch gesehen hat die herrschende Klasse Nepals eine Aura der Homogenität inmitten der ethnischen Vielfalt des Landes vermittelt. Die Idee von „einer Sprache, einer Kultur und einer Gesellschaft“ wurde lange Zeit als Fahnenstange des Nationalismus im Land hochgehalten. Vor 1950, als der Autokrat Ranas das Land mit eiserner Hand regierte, war es selbst den Newars aus dem Kathmandutal – der stärker urbanisierten ethnischen Gruppe, die der herrschenden Klasse näherstand – verboten, in ihrer Sprache zu unterrichten oder zu veröffentlichen. Ethnische Gruppen wurden in versklavbare und nicht versklavbare Völker eingeteilt und wurden weiter in „paani chalne“ und „paani nachalne“ eingeteilt – Kasten, von denen man Wasser annehmen konnte und von denen nicht (Essen und Trinken sind bis heute in einigen Haushalten höchst rituell und ausgrenzend).
Eines der Ziele des zehnjährigen maoistischen Bürgerkriegs war es, diese tief verwurzelten Hierarchien zu überwinden. Während man erwartete, dass die Umwandlung Nepals von einer Monarchie in eine Republik diese Dilemmata lösen würde, sorgte die gewaltsame Verabschiedung der Verfassung von 2015 dafür, dass die Kämpfe gegen Marginalisierung und Ausgrenzung noch lange nicht abgeschlossen waren.
Aufgrund der tief verwurzelten Vorstellungen von Kastenhierarchien wurde die Vorstellung davon, was „nepalesische Kultur“ – und damit auch die Kunst – ausmacht, stets von den Machthabern bestimmt. Nur selten durften indigene kulturelle Ausdrucksformen in den Mittelpunkt rücken. Die Triennale hingegen stellte diesen Zustand auf den Kopf und dekolonisierte das Wesen der „nepalesischen Kunst“, indem sie es auf indigene Praktiken und mündliche Überlieferungen ausdehnte, wie etwa die Terrakotta-Pferdeskulpturen der Ghorwa, die auf den Überlieferungen einer der am stärksten unterdrückten ethnischen Gruppen Nepals, der Tharus, basieren. Denn Kolonialismus ist nicht nur der Akt einer fremden Macht, die andere Länder und Völker besetzt. Kolonialismus kann, wie in Nepal, auch intern sein und zur Verdrängung oder Marginalisierung von Kulturen und Ethnien führen, die von der Norm abweichen.
Mit ihrer Entscheidung, die Triennale auf diese Grenzräume und Völker auszurichten, unterstrichen die Kurator*innen die oft wiederholte Aussage, dass alle Kunst politisch ist. Die Ironie war in den anthropomorphen Holzskulpturen von Bhakta Bahadur Sarki aus dem äußersten Westen Nepals enthalten. Sarkis Nachname weist ihn als Lederarbeiter aus – eine weitere „unberührbare“ Kaste –, aber seine Skulpturen und die anderer Künstler*innen wie ihm sind als Schutzfiguren gedacht, die von Haushalten der oberen Kaste in Auftrag gegeben werden (zwei Skulpturen auf der Triennale trugen die Titel Mukhiya und Mukhiyani oder männliches und weibliches Oberhaupt). Die Ironie dabei: Während die Künstler *innen selbst durch die Hierarchie unsichtbar gemacht werden, wird die Kunst selbst von wirtschaftlich gut gestellten oder sozial höher gestellten Gruppen in Auftrag gegeben und gefördert, was die Frage aufwirft, ob ein kreatives Werk erst dann zur „Kunst“ wird, wenn es gentrifiziert ist.
Kunst kann also auch transformativ sein. Sie mutiert zur Subjektivität, wenn sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird, doch sie kann sich auch dafür entscheiden, ihren Standpunkt von vornherein festzulegen, indem sie dem Publikum einen Einblick nicht nur in die Gedankenwelt der Künstler*innen, sondern auch in die soziokulturellen und historischen Kontexte gewährt, zu denen die Kunst gehört. Die Entwicklung der künstlerischen Perspektive im Europa der Renaissance ist eine gute Analogie. Die Kunst kann aus der Leinwand und den Galerien ausbrechen und auf die Straße und in den öffentlichen Raum gehen, wie es die Triennale getan hat. Sie kann provozieren, ja, sie muss provozieren, vor allem in einer Zeit wie der unseren, in der sich die globalen Machtstrukturen wieder einmal in den Händen von Oligarchen und Großkonzernen anhäufen, während die Menschen am Rande der Gesellschaft gezwungen sind, sich mit Überlebensmechanismen abzumühen, da Konflikte und Klimawandel sie über ihre Grenzen hinaustreiben.
Dies sind also die Lektionen, die die Triennale uns, den Betrachter*innen, vermittelte: die Langlebigkeit indigener kultureller Ausdrucksformen, die nun mit einer existenziellen Krise konfrontiert sind, da Kunst zu einer Ware für die Sammler*innen wird; ein Einblick in die Entkolonialisierung von Kunst- und Kulturbereichen, die einst Randbereiche waren und nun im Rampenlicht stehen; und ein pädagogisches Experiment, bei dem junge Studierende von jungen Freiwilligen durch die fünf Ausstellungsorte geführt und über die Kunst und die Künstler*innen informiert wurden. Denn trotz der dunklen Geschichte birgt die Zukunft immer einen Hoffnungsschimmer.