Tallinn. Obgleich die diesjährige Edition der Tallinn Print Triennale noch vor Ausbruch des Ukraine-Krieges konzipiert und eröffnet wurde, fällt es schwer, die Ausstellung nicht unter dem Blickwinkel aktueller Ereignisse zu betrachten. Unter dem Titel Warm. Checking Temperature in Three Acts setzt die mittlerweile 18. Ausgabe der Triennale ihren Fokus auf radikale (kultur-)politische und soziale Veränderungen in Mittel- und Osteuropa: Fragen von Nationenbildung, Migration, Grenzziehungen und dem Zusammenbruch der Demokratie stellen zentrale Themenstränge der Ausstellung dar, die die Kuratorin Rona Kopecky als „konzeptuelles Theaterstück“ in drei Akten gekonnt inszeniert hat.
Ihren Ursprung hat die Triennale im Jahr 1968, als eine Gruppe estischer Druckgrafiker*innen sich zusammenschloss, um ein „Forum“ für den Ausdruck ihrer eigenen Identität – unter sowjetischer Besatzung – zu initiieren. Während es dafür viel Unterstützung aus den baltischen Nachbarländern gab, war es lange Zeit nicht möglich, die Ausstellung ohne Gastkünstler*innen aus Russland stattfinden zu lassen. Die Präsentation künstlerischer Arbeiten aus dem Baltikum ist jedoch – trotz der vielen Transformationen, die die Triennale im Laufe ihres rund 55-jährigen Bestehens durchlief – garantiert. An insgesamt sieben in der Stadt verteilten Orten konfrontiert die Tallinn Print Triennale die Arbeiten lokaler Künstler*innen diesmal mit Positionen aus Ländern wie Ungarn, Albanien, Kroatien, Tschechien oder der Ukraine. Dass der Begriff „Print“ dabei schon lange nicht mehr nur Druckgrafiken auf Papier meint, zeigt zum Beispiel Jasmina Cibics großformatiger Vorhang, der in seinen leuchtenden Farben eine willkommene Abwechslung in den sonst eher zurückhaltend bestückten Räumlichkeiten des KAI Art Centres darstellt. Die Arbeit Spielraum – The Nation Loves it (2015) umfasst außerdem ein 15-minütiges Video und ist namensgebend für den ersten Akt der Ausstellung, der sich mit Fragen von Nationenbildung und der Instrumentalisierung von Bildsprachen und Kommunikationsmitteln politischer Ordnungen als „verwirrend giftiges Spektakel“ befasst. Die Rolle von Typografie, Zeichen- und Schriftsystemen rückt dabei – wenn auch nicht immer überzeugend – vermehrt in den Mittelpunkt (Ferenc Grof, Société Réaliste) und schlägt zugleich eine Brücke in das Liszt Institute Tallinn. Hier werden im Rahmen von Act III: The Science of Freedom Arbeiten ungarischer und estischer Künstler*innen der Neoavantgarde wirkungsvoll miteinander in Dialog gebracht. So kommunizieren etwa Raul Meels typografische Schreibmaschinenzeichnung Happy TreeConcepts like Commentary (1971) subtil miteinander, während Agnes Denes‘ visionäre Arbeit Wheatfield – A Confrontation (1982) angesichts des Klimawandels und der aktuellen Ereignisse in der Ukraine heute aktueller denn je erscheint und schmerzhaft an die Fragilität unseres Planeten und unserer Weltwirtschaft erinnert. Um globalen Handel geht es gewissermaßen auch bei Driton Selmani, dessen Arbeit Tell me Where I am From? (2012) sich humorvoll in den zweiten Akt, Pickle Politics, einfügt. Die Arbeit verdeutlicht die Absurdität, mit der er als Bürger eines international nicht-anerkannten Staates im Alltag konfrontiert ist. Während eines Aufenthalts in England war es dem aus dem Kosovo stammenden Künstler nicht möglich, Onlinebestellungen in sein Heimatland zu verschicken. Er bat daraufhin befreundete Künstler*innen, die Form und Lage des Kosovo ohne Hilfsmittel kartografisch nachzuzeichnen. Die verschiedenen – und überraschend ungenauen – Zeichnungen wurden in einer gestickten Karte zusammengefasst und im KAI Art Centre neben einer nicht weniger ironischen Zeichnungsserie von Flo Kasearu präsentiert: Basic Pride (2017) verbindet – wie auch die nicht unweit gelegene Pickle Bar (seit 2016) von Slavs and Tatars – das Konzept nationaler Identität mit traditionellen Gerichten und der Herkunft spezifischer Zutaten. So schuf die Künstlerin einen umfassenden Katalog von Kartoffeln und ihren Sprossen (Estland war eines der führenden Länder im Kartoffelanbau und wurde in der Sowjetunion als „Kartoffelrepublik“ bekannt), die in ihrer betonten Unterschiedlichkeit als Metapher für verschiedene Formen von Staatlichkeit und politischen Glaubenssystemen fungieren. Den Höhepunkt des Parcours bildet jedoch der Besuch des Flo Kasearu House Museum (seit 2013), das sich für Besucher*innen in Form performativer Führungen durch die Künstlerin erschließt und die losen Enden und Prämissen der Ausstellung vielschichtig in sich verbindet. Wohnort, Atelier und künstlerisches Projekt zugleich, spiegelt das Haus die Geschichte vieler Menschen in Estland wider und erzählt von der Verstaatlichung (und anschließenden Restitution) des Hauses während der russischen Besatzungszeit. Dass die Angst vor Verlust tief im Bewusstsein der Künstlerin verankert ist, bezeugt die im Treppenaufgang präsentierte Zeichnungsserie Nightmares of the House Owner (2013), die das Haus mal in Flammen aufgehend, mal vom Flugzeug getroffen darstellt, und unweigerlich auch Assoziationen mit Krieg und Vertreibung hervorruft.
Ihrer dynamischen Geschichte zum Trotz erscheint die 18. Edition der Triennale weitaus weniger radikal als erwartet und ist auch im Stadtbild kaum bemerkbar. Mit Blick auf die Zusammenführung künstlerischer Arbeiten und das Etablieren zeitaktueller Narrative trifft sie den Nerv der Zeit allerdings genau auf den Punkt und lässt den kommenden Editionen bereits erwartungsvoll entgegenblicken.