Heft 2/2022 - Hysterien


Spaced Bodies

Im Zwischenraum der Aufführung

Julia Hainz


Es ist das Bild einer Darbietung. Alle Aufmerksamkeit fokussiert sich auf eine kleine Szenerie in einem Auditorium. Auf der linken Bildhälfte befindet sich ein Publikum, das sich zum Teil sitzend, zum Teil stehend auf einen kleinen Schauplatz konzentriert. Unmittelbar vor ihm liegt auf der rechten Seite des Bildes eine Frau bewusstlos in den Händen eines Mannes. Zwei weitere Frauen neigen sich ihr vom rechten Bildrand her besorgt zu. Ihr Kopf ist zurückgefallen. Trotzdem ist ihrem Körper eine gewisse Anspannung anzusehen. Von ihrem überdehnten Hals führt der Arm hinunter zu einer nach hinten überstreckten Faust.
(Abbildung 1)
Une leçon clinique à la Salpêtrière ist eines der berühmtesten Gemälde der Medizingeschichte. André Brouillet hielt darin 1887 eine Vorlesung des Neurologen Jean-Martin Charcot in der Klinik Salpêtrière in Paris fest. Charcots Forschung erlangte Ende des 19. Jahrhunderts über den medizinischen Diskurs hinaus weitreichende Beachtung. Er war zu dieser Zeit vor allem daran interessiert, regelmäßige Muster in hysterischen Anfällen zu beschreiben. Die neu aufkommende Fotografie spielte dabei eine entscheidende Rolle. In einer Analyse von Brouillets Gemälde schreibt Forbes Morlock über Charcot: „He sought to demonstrate his understanding visually and he sought visual evidence to demonstrate his understanding.“1 Hysteriereproduktive Störung, die die Symptome aller möglichen Krankheiten aufweisen konnte.2 Um sich ein Bild machen zu können, versuchte Charcot, diese über Hypnosetechniken und elektrotherapeutische Vorrichtungen bei seinen Patient*innen vermeintlich auch auszulösen bzw. zu verlängern.3 Charcot entwarf dazu eine eigene Bildsprache der Hysterie in Form von wiedererkennbaren Posen und abgrenzbaren Phasen.
Innerhalb eines wissenschaftlichen Rahmens stellte der daraus resultierende Band Iconographie photographique de la Salpêtrière (1877–80) ein ausgesprochen ästhetisches Projekt dar. Die technischen und räumlichen Voraussetzungen wurden aus den Bildern weitestgehend retuschiert. Den Vorwurf, Charcots Patient*innen würden lediglich schauspielerisch sein Konzept verkörpern, wies dieser zurück, indem er die von ihm beschriebenen Posen kunstgeschichtlich herleitete und ihnen auf diese Weise eine historische Autorität verlieh.4 Entgegen des Arguments einer ästhetischen Setzung wurden die in der Salpêtrière entstandenen Bilder als Dokumentation der „Live-Performance“ von Charcots Patientinnen betrachtet. In dieser Hinsicht lässt sich die Iconographie photographique de la Salpêtrière auch als ein performatives Skript betrachten, das Charcot in seinen Vorlesungen spektakulär inszenierte, womit er ein breites Publikum anzog.
Charcot selbst ist in Brouillets Darstellung der Einzige, der seine Aufmerksamkeit nicht auf die Patientin fokussiert. Unmittelbar links neben ihr stehend, blickt er mit dem Finger zeigend in eine Ferne außerhalb des Bildes. Mit seiner rechten Fußspitze berührt er den schmalen Korridor, den die kleine Gruppe um die Patientin von ihrem Publikum trennt. Vielleicht verweist Charcot damit auf eine vermeintliche vierte Wand, der es im Sinne eines räumlichen und zeitlichen Abstands aus der Perspektive der Betrachtenden zur Vermittlung des hysterischen Körperkonzepts bedarf.
In Brouillets fast lebensgroßer Malerei verläuft diese Trennung wie ein schmaler Pfad von der Mitte des Bildes leicht nach links auf den einzigen freien Stuhl zu. Weist uns Brouillet damit als Betrachter*innen seines Gemäldes einen Platz in der Aufführung zu? Gehören wir zur linken Seite des Bildes und somit zu den Zuschauer*innen des Charcot’schen Spektakels, das sich durch Brouillets Bildaufteilung in sicherer Distanz zum Geschehen wähnt?
Im Zwischenraum platziert Brouillet einen Tisch mit medizinischen Apparaturen. Unmittelbar dahinter befindet sich der Anatomiezeichner Paul Richer, dessen Hauptaufgabe es war, das Bildmaterial für die Publikationen der Salpêtrière zu erstellen. Eine seiner Darstellungen hängt an der Wand über dem Publikum. Es ist die Zeichnung einer Figur in einer extremen Rückbeuge, die den Höhepunkt der Charcot’schen Ikonografie markiert.5 Der weitere Verlauf der Szenerie scheint darin bereits vorweggenommen zu sein.

Zwischen den Posen – Young Boy Dancing Group
Die Antizipation von Vermittlungsformen ist eine performative Strategie, die das Kollektiv Young Boy Dancing Group zu nutzen scheint, um in ihren Aufführungen insbesondere die Rolle des Publikums zu thematisieren. So inszenieren sich die Performer*innen unter anderem auch selbst als Betrachter*innen ihrer Choreografien. In einer Aufnahme ihres Auftritts auf dem Young Urban Performance Festival im März 2022 in Osnabrück ist die Gruppe in einem Halbkreis zu sehen, in dessen Mitte eine*r der Performer*innen sich aus dem Stand zu einer Rückbeuge wölbt. Scheinbar unbeteiligt, mit neutralem Gesichtsausdruck und hängenden Armen, blicken die anderen auf die Pose hinunter. In dieser Darstellung wirkt die Rolle der Zuschauer*innen nur noch wie ein Artefakt von etwas, das einmal von Bedeutung war.
(Abbildung 2)
Die Bilder und Videos der Young Boy Dancing Group kursieren seit 2014 in den sozialen Medien.6 Als ein sich beständig entwickelndes Kollektiv formiert sich die Gruppe an ihren Auftrittsorten immer wieder neu. Die dabei entstehenden Aufnahmen erinnern an postapokalyptische Szenarien. Meist spärlich bekleidet, räkeln sich die Performer*innen in akrobatischen Posen auf dem Boden. In ihren gemeinsamen Formationen scheint das Moment der Aufzeichnung als ein integraler Bestandteil bereits vorweggenommen. So strecken die Performer*innen wiederholt ihre leeren Hände von sich, als ob sich darin eigentlich Smartphones befinden müssten.
(Abbildung 3)
Trotz der unterschiedlichen Gruppenzusammensetzungen und Aufführungsformate scheint sich in der Praxis des Ensembles ein gewisses Repertoire an choreografischen Elementen durchzuziehen. Der spektakulärste Teil besteht im gemeinsamen Posieren der Performer*innen mit Lasern in unterschiedlichen Körperöffnungen. Während sie in diesen fast skulpturalen Momenten ihrem Publikum die Zeit geben, sich ihnen gegenüber für ein Bild zu positionieren, durchbrechen die Performer*innen immer wieder diese kurzen Augenblicke, in der sie sich zu einer spezifischen Schauansicht zusammenfinden, um eine improvisierte Suchbewegung der nächsten gemeinsamen Formation zu beginnen. Während es bei Charcot zur Vermittlung seines hysterischen Körperkonzepts der Möglichkeit der Distanz im Moment der Pose bedarf, erscheint dies bei Young Boy Dancing Group wie ein ruinöser Verweis auf das Versprechen einer authentischen Repräsentation. Es ist die Inszenierung von Zwischenphasen, welche die Positionierung zur Gruppe im Zuge des Geschehens immer wieder infrage stellt. In ihrer Performance in Osnabrück verliefen diese in dynamischen Bewegungen durch den gesamten Raum. In einer Resonanz mit der sich ständig verändernden Situation ist die Choreografie darauf angelegt, von keinem Punkt aus vollkommen erfassbar zu sein. Durchwegs verschwinden einzelne Performer*innen unter den Zusehenden im Raum oder tauchen plötzlich wieder auf. Die Gruppe durchdringt damit wiederholt eine sich ihnen gegenüber zusammenfindende Menge.
(Abbildung 4)
In dieser Dynamik werden die einzelnen Körper der Performer*innen immer ununterscheidbarer. Fast unmerklich verlieren sie Teile ihrer Kleidung. Nach einer Improvisation mit einem mit Wasser gefüllten Rollkoffer ist der Boden mit Pfützen übersät. Trotzdem entsteht zu keinem Zeitpunkt der Performance der Eindruck, die Gruppe würde die Kontrolle über das Geschehen verlieren. Young Boy Dancing Group schafft eine Atmosphäre der Intimität und Zugehörigkeit, die sie durch ihre Bewegungen gleichmäßig im Raum aufrechterhalten. So basieren Figuren, bei denen sich beispielsweise Performer*innen Karotten in den Unterleib einführen, mehr auf einer Absurdität, die aus unserer Mitte heraus entsteht, als auf einer von außen herangetragenen sexualisierten Schaulust. Selbst die spektakuläre Lasershow wirkt im Raum wie ein Zitat ihrer vielfach in den sozialen Medien kursierenden Aufzeichnungen. Was die Performer*innen der Young Boy Dancing Group verkörpern, sind Konstellationen in einem gemeinsamen Raum, deren gesellschaftlichen Zuschreibungen sie sich nicht entziehen können. Über das Betonen ihrer Vermittlungsform werden diese aber als solche verhandelbar.

Performative Strategien der Positionierung
Aus heutiger Perspektive stellt Brouillets Gemälde die Frage nach der Aushandlung gesellschaftlicher Konformität an sich. Im Hinblick darauf ist Hysterie niemals ein unaufgeladenes Konzept gewesen. In der Gegenwart begegnet uns der Begriff insbesondere in Form von Diagnosen medialer Massenhysterien in den sozialen Netzwerken. So ist Elke Krasny zufolge Hysterie zu dem politischen Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts geworden. Im Zuge von Black Lives Matter, #MeToo oder auch den aktuellen Klimaprotesten gehe es dabei meist aus einer konservativen Perspektive um die gezielte Degradierung politischer und sozialer Bewegungen, und zwar durch deren Wiedereinschreibung in einen jahrhundertealten pathologisierenden Diskurs.7 Es ist der Verweis auf einen spezifischen „state of anxiety, emotionalism and uncontrollable excessive behaviour“8, wie er Ende des 19. Jahrhunderts anhand des hysterischen Körperkonzepts formuliert wurde und heute in modifizierter Form wiederabgerufen wird. Obwohl bereits zu Charcots Zeiten der antike Mythos der Wandering Womb, die Vorstellung einer „unzufriedenen“ Gebärmutter (altgriechisch hystĕra), die sich wie ein eigenständiges Wesen auf der Suche nach Sperma im weiblichen Körper umherbewegt und dadurch hysterische Symptome verursacht, wissenschaftlich keinen Bestand hatte, ist der Begriff der Hysterie ungebrochen mit der Konzeption von Weiblichkeit verzahnt.9 Ungeachtet der Tatsache, dass viele von Charcots Patient*innen Männer waren, hält sich diese Verbindung bis heute. In Anlehnung an Elaine Showalter formuliert Krasny: „The interest here is on how conservative, populist, right-wing, and far-right ideological rhetoric in politics and public media strategically connects anxiety to earlier diagnoses of hysteria as ‚feminine deceitfulness and irresponsibility‘.“10 Die alltägliche und heute in erster Linie gesellschaftliche Diagnose der Hysterie ist zu einer politischen Strategie der Positionierung zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen Handlungsfähigkeit und Kontrollverlust geworden.
In ihrem kürzlich veröffentlichten Sammelband Hysterical Methodologies in the Arts. Rising in Revolt11 Braun ortet eine Forschungslücke zwischen dem vielfach beschriebenen singulären, in der Nacherzählung immer noch vorwiegend weiblichen hysterischen Körper und der Frage nach einem kollektiven Körper.12 Braun sieht Hysterie als „mediator between historical practices that were aware of their own performativity with the current artistic productions that are performing this historical awareness and self-reflection“13. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten Performer*innen haben, um – insbesondere in der Positionierung zu bzw. gemeinsam mit dem Publikum – Machtverhältnisse mittels eines reformulierten Begriffs der Hysterie neu zu verhandeln.

Kollektive Erfahrung im geteilten Raum – New Noveta
Interessante Aufschlüsse gibt das Performanceduo New Noveta, das vorwiegend mit Inszenierungen von Angst und Kontrollverlust arbeitet. Seine Strategie ist eine gezielte Überforderung mittels multisensorischer Erfahrungen. Mit ihren Installationen, Kostümen, Soundarbeiten, Gerüchen und teilimprovisierten Choreografien inszenieren sich die beiden Performerinnen Keira Fox und Ellen Freed seit 2011 in gemeinsamen Projekten, um Emotionen als eine Form von Selbstermächtigung in einem gemeinsamen Raum freizusetzen.14 Meist getragen von einer von außen nicht notwendigerweise zu durchschauenden Aufgabe spitzen sich ihre Szenerien bis ins Hysterische zu.
New Noveta geht es diesbezüglich um eine Form von Aufarbeitung. In Bezug auf die Art und Weise, wie gesellschaftliche Mechanismen heute funktionieren, sieht Fox viele Parallelen zur Geschichte der Hysterie: „Ich meine, dass Frauen in der Vergangenheit häufig aus der Gesellschaft gedrängt wurden, weil sie nicht das erfüllt haben, was von ihnen erwartet wurde. Ich denke, das gibt es auch heute noch, aber viel systematischer. Wir arbeiten mit Repräsentationen von Angst und Hysterie, weil wir das Gefühl haben, dass es da immer noch etwas gibt, das übersehen und nicht wirklich aufgearbeitet wird.“15 Die beiden Performerinnen inszenieren sich in Rollenspielen meist als historische Figuren oder fiktive Charaktere der Gegenwart und Zukunft, die in ihrem Kampf mit gesellschaftlichen Normvorstellungen außer sich geraten. Dabei geht es Fox zufolge nicht darum, hysterisch zu schauspielern, sondern vielmehr dies als eine Zuschreibung in ihrer gesellschaftlichen Einbettung erfahrbar zu machen.
In ihrer Performance Vitriola verkörpern sie beispielsweise eine Figur, die sie in Anlehnung an Jean Genets Bühnenwerk Die Zofen entwickelt haben. Fox und Freed adaptierten Genets Stück über zwei Dienstmädchen, die planen, ihre Hausherrin zu töten, und passten es an die räumlichen Gegebenheiten der Parallel Vienna 2019 an. Da die Kunstmesse damals in einem leerstehenden Bürokomplex stattfand, erschufen sie die fiktive Figur einer*r Büroangestellten namens Vitriola, die*der einen Mord an seiner*m herrschsüchtigen Arbeitgeber*in plant.
Die Inszenierung konzentrierte sich zunächst auf einen kleinen Raum und breitete sich von dort im ganzen Gebäude aus. Dieser war, entsprechend seiner ehemaligen Bestimmung, ausgestattet mit einem Schreibtisch, einigen Zimmerpflanzen und einem Wasserspender. Ein Stapel großer Papierbögen lag auf dem Boden. Für Vitriola arbeiteten Fox und Freed mit der*dem Musiker*in Vindicatrix zusammen. Während der Aufführung saß Vindicatrix in dem kleinen Raum am Schreibtisch und komponierte live ein Stück, bestehend aus voraufgezeichneten Dialogen aus Genets Bühnenwerk, Musikpassagen und Geräuschen, Die Musik ertönte aus einem mobilen Lautsprecher, den Fox und Freed wie einen Rollkoffer durch das Gebäude hinter sich herzogen. Dazwischen kehrten sie immer wieder in den Büroraum zurück, kämpften dort verzweifelt mit dem Wasserspender oder griffen nach dem Papierstapel. Die Situation war unübersichtlich, überall war zerknülltes Papier verteilt, Fox und Freed kauerten sich darüber zusammen und hasteten anschließend wieder getrieben durch die schmalen Flure des Gebäudekomplexes.
(Abbildung 5 und 6)
In dem kleinen Büroraum fanden die Zuschauer*innen kaum Platz. Viele blieben an der Tür stehen oder versuchten, den beiden Performerinnen auf den Fluren auszuweichen. Es schien, als sei das Publikum nicht unmittelbar in die Bewältigung der zu verrichtenden Aufgaben eingeplant, zwangsläufig aber in diese involviert. In der Planung versuchen Fox und Freed, die Bewegungen ihres Publikums zu antizipieren, um eine distanzierte Position zum Geschehen immer wieder durchbrechen zu können. „Es geht uns dabei aber nicht darum, jemanden bloßzustellen“, betont Freed. „Wir wollen, dass unser Publikum das erlebt, was wir erleben. Wenn wir eine Trennung zwischen uns und unseren Zuschauer*innen zulassen würden, hätten unsere Projekte eine völlig andere Bedeutung.“
Was die beiden Performerinnen ausagieren, sind Fox zufolge in erster Linie emotionale Zustände, die über Rollenspiele heraufbeschworen werden, um sich im gemeinsamen Raum der Aufführung in den alltäglichen Stress aller Anwesenden zu kanalisieren. Die beiden setzen sich dazu bewusst mehr Aufgaben, als sie bewältigen können. Extreme Gerüche und Geräusche beeinträchtigen die Wahrnehmung aller Beteiligten. Speziell gestaltete Kostüme werden zu tragenden Elementen ganzer Choreografien, wenn zum Beispiel unpassende Größen oder in den Stoff eingenähte Steine ihre Bewegungen im Raum beeinflussen. In dieser Hinsicht erlauben es sich Fox und Freed nicht, gegenüber ihrem Publikum einen Schritt zurück zu machen und einen für sie abgesteckten Bühnenraum einzunehmen: „Für mich basieren unsere Aufführungen darauf, dass wir nichts auslassen. Wir machen es uns nicht bequem. Es geht darum, dass wir uns wie auch unser Publikum voll und ganz dem aussetzen, was passiert“, wie Freed betont.
(Abbildung 7)
Um dabei ein gewisses Stresslevel zu forcieren, dauerten die Inszenierungen anfangs nur wenige Minuten und begannen meist unangekündigt. Im Laufe der Jahre entwickelten die beiden unterschiedliche Strategien, um ein emotionales Niveau auch über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Für Vitriola untergliederten sie die Dauer der Performance in einzelne Szenen von circa 15 Minuten, die immer wieder von Phasen unterbrochen wurden, in denen sich die beiden als Teil der Inszenierung auf der öffentlich zugänglichen Toilette versteckten.
In dieser Hinsicht bringen sich New Noveta selbst in eine angreifbare Position: „Nach manchen Performances fühle ich mich richtig gedemütigt“, erklärt Fox. „Es gab Situationen, in denen uns Menschen wortwörtlich ins Gesicht gelacht haben, weil sie uns in diesem Moment tatsächlich als hysterische Frauen betrachtet haben. Es kommt immer wieder vor, dass Zuschauer*innen uns gegenüber aggressiv reagieren, weil wir diese hysterische Stimmung im Raum verbreiten. Ich denke, wir müssen in unseren Performances zu extremen Mitteln greifen, damit einzelne Personen nicht nur zuschauen und lachen. Mir ist es wichtig, dass die Betrachter*innen sich selbst als Teil der Situation wahrnehmen. Aber natürlich ist das schwierig, weil wir alle von Vorurteilen geprägt sind und häufig verallgemeinern.“
In den Inszenierungen wird nie eindeutig geklärt, wer im Raum welche Rolle spielt. Stellt Vindicatrix mit der festen Position am Schreibtisch die*den herrschsüchtige*n Arbeitgeber*in dar, oder verkörpert die*der Musiker*in vielmehr einen Aspekt der*des fiktiven Angestellten? Erfüllen die Zuschauer*innen die Rolle der kontrollierenden Instanz, die Vitriola immer weiter in die Überforderung treibt, oder fühlen sich einige durch die Atmosphäre, die Fox und Freed verbreiten, emotional so affiziert, dass sie sich als Teil der Figur wahrnehmen?
New Noveta gewähren in ihren Aufführungen weder sich noch ihrem Publikum eine Möglichkeit zur Distanz. Dem Entstehen eines Zwischenraums arbeiten die beiden mit einer großen Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten entgegen. Fox und Freed setzen dazu auf spektakulären Inszenierungsstrategien, um diese gleichsam in einem Moment des kollektiv erlebten Affekts kollabieren zu lassen. „Für unser nächstes Projekt recherchieren wir die Geschichten von Frauen, die einen Krieg überlebt haben. Im Kampf ums Überleben spielt darin häufig das Aufrechterhalten einer gewissen Form von Normalität eine große Rolle wie zum Beispiel Make-up, Schokolade oder schöne Kleidung. Ich denke, es hat viel mit dem Aufeinanderprallen von Spektakel und Alltag zu tun“, sagt Freed. „Aber es entsteht dadurch auch die absurde Situation, dass uns bewusst wird, dass das Leben immer in gewisser Weise ein Spektakel ist.“
Was alle Figuren in den Rollenspielen von New Noveta vereint, ist ihr Kampf mit einer gesellschaftlichen Konformität, der sie an den Rand der Belastbarkeit drängt. Die beiden Performerinnen arbeiten daran, diese Position in ihren Inszenierungen als einen gemeinsamen Zwischenraum erfahrbar zu machen. Es ist dieser Aspekt der Grenzziehung zwischen Norm und Abweichung, zwischen Kontrolle und Angst, zwischen Macht und Ohnmacht, der sich im Hinblick auf die Geschichte der Hysterie vornehmlich zwischen Performenden und der Formierung eines Außen artikuliert. Es ist dies auch die drängende Frage nach dem Publikum, nach der Aushandlung unserer eigenen Position innerhalb eines Spektakels, die sich nicht zuletzt in Anbetracht von Brouillets Gemälde stellt und die im Hinblick auf die Politisierung des Begriffs der Hysterie für unsere Gegenwart zentral erscheint.

 

 

[1] Forbes Morlock, The Very Picture of a Primal Scene: Une leçon linique à la Salpêtrière, in: Visual Resources, 23, 1–2 (2007), S. 134.
[2] Ebd., S. 132.
[3] Ebd.
[4] Ebd., S. 133.
[5] Ebd.
[6] Kam Dhillon, Portrait: Young Boy Dancing Group. Sculpting Sensuality (2020); https://www.spikeartmagazine.com/?q=articles/portrait-young-boy-dancing-group.
[7] Elke Krasny, State of Anxiety: Hysterical Studies For Reproduction Struggles, in: Johanna Braun (Hg.), Hysterical Methodologies in the Arts. Rising in Revolt. Palgrave Macmillan 2021, S. 138.
[8] Ebd., S. 128.
[9] Vgl. dazu Sabine Arnaud, Die Erfindung der Hysterie im Zeitalter der Aufklärung 1670–1820. Wien 2019, S. 99–117.
[10] Krasny, State of Anxiety, S. 128.
[11] Johanna Braun, Introduction: Searching for Methods in this Madness, in: dies. (Hg.), Hysterical Methodologies in the Arts. Rising in Revolt. Palgrave Macmillan 2021, S. 3.
[12] Ebd., S. 6.
[13] Ebd., S. 5.
[14] Casey Lesser, Up and Coming: Meet New Noveta, the Artist Duo Whose Anxiety-Fueled Performances Are Taking the World by Storm (2016); https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-up-and-coming-meet-new-noveta-the-performance-art-duo-taking-the-world-by-storm.
[15] Alle folgenden Zitate stammen aus der Transkription zweier Gespräche, die ich mit Keira Fox und Ellen Freed in englischer Sprache geführt habe. Für diesen Beitrag habe ich Teile daraus übersetzt und mit meinen Gesprächspartnerinnen abgestimmt.