Heft 2/2022 - Netzteil


Unberechenbare Andere

Zum Konzept des „nicht-binären“ Computing

James Bridle


Die Computer, die wir alle verwenden, basieren sämtlich auf der Idee der sogenannten Turing-Maschine. So heißt das theoretische Konzept eines Computers, das Alan Turing 1936 erstmals beschrieb. Man könnte es auch ideale Maschine nennen – ideal, weil eine Idee, und nicht unbedingt ideal im Sinn von perfekt. Die Turing-Maschine war ein Gedankenexperiment, aber da sie zur Grundlage für alle künftigen Formen der elektronischen Datenverarbeitung wurde, veränderte sie auch unsere Denkweise.
Turings imaginäre Maschine besteht aus einem langen Papierband und einem Lese- und Schreibkopf wie bei einem Kassettenrekorder. Das Band ist der Speicher, und der Lese-/Schreibkopf ist der Prozessor. Auf dem Band stehen bei der universellen Variante dieser Maschine Befehle, die gelöscht, überschrieben und neu geschrieben werden können, während das Gerät läuft.
Einerseits ist das ein unglaublich einfacher Mechanismus. Andererseits kann man mit ihm jede Berechnung ausführen, die auch der stärkste Supercomputer von heute ausführt. Wenngleich Computer in allerlei Richtungen weiterentwickelt wurden, so ist doch der Prozess des Lesens und Speicherns, des Rechnens und Überschreibens bis heute die Grundlage ihrer Funktionsweise geblieben. Fast jeder Computer auf der Welt ist eine weitere Verfeinerung des Papierbands und des Lese-/Schreibkopfs. Jedes Mal, wenn man eine E-Mail öffnet, etwas in die Tastatur klopft, Geld aus einem Bankomaten zieht, eine Musikdatei abspielt, einen Film streamt oder via Satellit empfängt, verwendet man eine Variante der Turing-Maschine. Zeichen werden von einem Äquivalent des besagten Bandes gelesen oder auf dieses geschrieben. So tippe ich gerade auf einer Turing-Maschine, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie auf einer Turing-Maschine lesen (und wenn nicht, dann waren solche zumindest nötig, um das Produkt, das Sie in Händen halten, herzustellen). Die Computer, die sich Alan Turing ausdachte, verbergen sich hinter beinahe jedem Lebensaspekt. Jedoch verschleiert diese schiere Allgegenwart eine wichtige Erkenntnis: Fast jeder Computer, der heute in Betrieb ist, realisiert nur einen winzigen Bruchteil dessen, was Computer realisieren könnten.
In dem Artikel von 1936 bezeichnete Turing seine Maschine als „a-Maschine“, wobei a für automatisch stand. Diese Qualifikation führte er ein, um zu betonen, dass das Output der Maschine, sobald sie in Gang gesetzt wurde, durch ihre Konfiguration vollständig determiniert war. Die Maschine machte, wozu sie programmiert war, und ihr Lauf war vollständig bestimmt durch die eingegebenen Daten. Turing merkte indes an, dass eine andere Art Maschine möglich sei, und nannte diese choice- oder c-Maschine. Die a-Maschine reichte indes für alle Berechnungen aus, an denen er selbst interessiert war.1
Ein paar Jahre später erwähnte Turing die c-Maschine in seiner Dissertation abermals. Diesmal gab er ihr jedoch einen anderen Namen, nämlich Orakel-Maschine.2 Anders als die a-Maschine, die unaufhaltsam ihre Anweisungen bis zum Ende abarbeitet, hält diese o-Maschine ihre Berechnung an kritischen Punkten an, um „die Entscheidung des Orakels abzuwarten“, wie Turing es formulierte. Diese Entität näher zu beschreiben, unterließ er jedoch. Er sagte dazu nichts weiter, als dass „das keine Maschine sein kann“. Was könnte er damit gemeint haben?
Turing hatte eine sehr klare Vorstellung, was Computer sind und wozu sie imstande waren. „Elektronische Computer“, schrieb er, „sollen jedes beliebige regelhafte Verfahren ausführen, das auch ein Mensch präzise, aber gedankenlos durchzuführen imstande ist.“3 Das heißt, Turings a-Maschinen – jene Computer, die wir alle verwenden – würden tun, was menschliche Rechner bereits vor ihnen getan haben, bloß schneller. Die Grenzen dieser Computer wären die Grenzen des menschlichen Denkens. Ja, sie würden dieses Denken sogar definieren.
Seit der Erfindung von Digitalcomputern haben wir die Welt nach ihrem Bild zu formen begonnen. Sie haben insbesondere unsere Vorstellung von Wahrheit und Wissen als etwas, das berechenbar ist, geprägt. Nur was berechenbar ist, kann man wissen. Damit ist auch unsere Fähigkeit, mithilfe von Maschinen über unsere eigene Erfahrung hinaus zu denken, uns Neues mit ihnen und neben ihnen vorzustellen, krass begrenzt. Der fundamentalistische Glaube an die Berechenbarkeit ist so brutal wie zerstörerisch. Er zwängt in kleine Kästchen, was er kann, und löscht, was er nicht kann. In der Ökonomie schreibt er Dingen nur dann einen Wert zu, wenn sie gezählt werden können. In den Sozialwissenschaften erkennt er nur an, was er abbilden und darstellen kann. In der Psychologie billigt er nur unserer Erfahrung Sinn zu, verleugnet dabei aber die der unbekannten und unberechenbaren Anderen. Er verroht die Welt, während er uns zugleich blind macht für das, wovon wir nicht einmal bemerken, dass wir es nicht wissen.

Orakel des Wassercomputers
Wie könnte also die Alternative zur universellen Turing-Maschine, wie könnte dieses „Orakel“ aussehen? Wenn es nicht, oder zumindest nicht vollständig, als Maschine beschrieben werden kann, dann muss es in irgendeiner Weise eine Verbindung zur Außenwelt halten, die über die Einsen und Nullen des Binärcodes und damit über elektronische Impulse hinausgeht. Eine gewisse Anpassung und Verbindung mit der Außenwelt muss hergestellt werden, das heißt, die o-Maschine muss auf etwas jenseits ihrer vorprogrammierten Schaltkreise zugreifen, um die Rolle des „Orakels“ spielen zu können.
In den 1950er- und 1960er-Jahren versuchte der englische Kybernetiker Stafford Beer, diese Frage zu beantworten. Also erfand er Maschinen, die auf ihre Umgebung reagierten. In seinem Arbeitsbereich – der Erforschung der Automatisierung für United Steel, den größten Betreiber von Zechen und Stahlwerken in Großbritannien – war diese Umgebung der Markt. Es ging um schwankende Rohstoffpreise, Einzelhandelspreise, Aktienindizes und Arbeitskosten. Beer verstand diese Maschine als eine Art Organismus, erkannte aber zugleich, dass jedes von ihm erfundene System vom „Aussterben“ bedroht sein würde, wenn es auf neue Situationen nicht auch auf neue Weise reagieren könnte. Das stellte eine große Herausforderung dar, denn, so schrieb Beer, „als Konstrukteur von Maschinen hat sich der Mensch daran gewöhnt, seine Materialien als tote Materie zu betrachten, die so geformt und kombiniert werden müsse, dass sie ein brauchbares System ergibt“. „Wir wollen nicht viele kleine Teilchen, die wir erst zusammensetzen müssen. Denn dazu brauchen wir einen fixen Plan. Wir müssen das verdammte Ding als Ganzes planen – und genau das widerstrebt uns.“4
Beer wollte kein künstliches Gehirn für seinen künstlichen Organismus bauen. Seine Lösung bestand vielmehr darin, ein solches aus der natürlichen Welt zu gewinnen. Bereits in den 1950er-Jahren berichtete er vom erfolgreichen Versuch, kleinen Kindern (hoffentlich seinen eigenen, wenngleich das aus seinen Unterlagen nicht hervorgeht) das Lösen von Gleichungssystemen beizubringen, obwohl sie die dazu nötige Mathematik nicht beherrschten. Dies erreichte Beer durch positives und negatives Feedback: Er zeigte den Kindern so lange verschiedenfarbige Lichter, die mit den „wärmeren“ bzw. „kälteren“ Antworten korrespondierten, bis sie die richtige Lösung begriffen. Später versuchte Beer, Mäusen eine Art Sprache beizubringen, indem er sie mit Käsestückchen belohnte. Er entwarf Kästen mit Leitern, Wippen und Käfigen, die so durch Riemen verbunden waren, dass Ratten oder Tauben zu Elementen eines ausgeklügelten Computersystems wurden. Beer zog auch Bienen, Termiten, Ameisen und andere Insektenarten für eine Funktion in diesem erweiterten Konzept eines biologischen Computers in Betracht. Auf dem Höhepunkt seiner Experimente baute er in seinem Keller einen künstlichen Teich und konstruierte aus diversen aquatischen Mikroorganismen – Wasserflöhen und anderen Spezies – mittels Lampen und Magneten ein Rückkopplungssystem. Zwar überzeugten die Experimente seine Vorgesetzten nicht, aber sie flossen in spätere Ideen zu selbstorganisierenden und lernenden Systemen ein, da sie belegten, dass Maschinen der Welt gegenüber flexibler und aktiver sein können, wenn sie gewissermaßen näher an sie gekoppelt sind und mit ihr kommunizieren.
Ein anderer Ansatz für das, was man „nicht-binäres“ Computing nennen könnte, sind hydrologische Maschinen. Dabei geht es um den Bau von Rechnern, die statt mit Elektronen mit Wasser arbeiten. So baute der sowjetische Ingenieur Wladimir Lukjanow bereits 1936 einen sogenannten Wasserintegrator, der jene komplexen Differenzialgleichungen lösen konnte, die für die Modellierung der thermischen Masse des Betons für die von ihm in Sibirien gebauten Eisenbahnstrecken erforderlich waren, weil dort die Temperatur zwischen Winter und Sommer so stark schwankte. Lukjanow erkannte, dass sich Wasserfluss und Wärmeverteilung analog verhielten, und Ersterer daher modellhaft zur Visualisierung des unsichtbaren thermischen Prozesses dienen konnte. Er konstruierte eine raumfüllende Maschine aus Dacheisen, Blech und Glasröhren, mit denen der Wasserfluss berechnet wurde, anstatt durch Elektronen. Mit Wasser gefüllte Blechgefäße wurden durch Kurbeln und Züge gehoben und gesenkt, wobei die Füllhöhe verschiedenen Eingaben entsprach. Beim Heben und Senken der Füllhöhen floss das Wasser durch Glasröhren in andere Gefäße, die Speicher und Output darstellten. Diese Zahlen konnten also jederzeit von der Maschine abgelesen werden, um so die simulierten komplexen Differenzialgleichungen zu lösen. Es war dies zu jener Zeit die einzige Maschine auf der Welt, die solcherart Probleme lösen konnte. Wassercomputer wurden in sowjetischen Einrichtungen noch bis weit in die 1980er-Jahre für groß angelegte Modellierungen verwendet.5
In den 1940er-Jahren entwickelte der Ökonom Bill Phillips eine ähnliche Maschine. Sein MONIAC war so groß wie ein Kühlschrank und diente als Modell der britischen Wirtschaft. Ganz oben befand sich ein großer Wassertank mit der Aufschrift „STAATSKASSE“ (TREASURY), andere Tanks stellten die Haushaltsausgaben für das Gesundheitswesen und die Bildung dar. Die Ausgaben für Letztere konnten durch Öffnen und Schließen von Wasserhähnen geregelt werden, die aus der Staatskasse Wasser entzogen. Weiter unten in der Maschine wurde Wasser in private Ersparnisse abgezweigt oder in Form von Investitionen zurückgeführt. Auch für Importausgaben wurde Wasser abgeleitet und für Exporteinnahmen rückgeführt. Bestimmte Tanks konnten austrocknen, sofern nicht Guthaben nachgeschossen wurde (wie bei echten Bankkonten), und Wasser/Geld konnte in Form von Steuern in die Staatskasse zurückgepumpt werden. Dabei bestimmten die Steuersätze, wie schnell die Pumpen arbeiteten. Der Wasserfluss wurde durch ein kompliziertes, aber gut lesbares System von Schwimmern, Rollen, Gegengewichten und Elektroden gesteuert. So konnte man nach Belieben mit den Einstellungen der Wirtschaft experimentieren, um herauszufinden, wie komplexe Wechselwirkungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die Finanzwelt geht schließlich von Wassermetaphern geradezu über – von „Liquidität“, „Geldströmen“ und „gefluteten Märkten“ bis hin zu „Haien“ und „dark pools“. Phillips nahm diese Metaphern wörtlich, zeigte zugleich aber auch ihre Nützlichkeit auf. Ursprünglich war sein MONIAC als Lehrmittel gedacht, wurde dann aber tatsächlich von Regierungsstellen für ihre Berechnungen übernommen.
Die Experimente von Beer und anderen Kybernetikern, aber auch die hydrologischen Computer von Lukjanow und Phillips können als Versuche gelten, Computer zu bauen, die der realen Welt ähnlicher sind als Turing-Maschinen. Anstatt die Komplexität physischer Systeme auf die Einsen und Nullen des Binärcodes zu reduzieren, fußen sie auf dem chaotischen, analogen Fluss der materiellen Realität und der Notwendigkeit, „intelligenten“ Maschinen neue Denkweisen beizubringen. Sie sind mithin eine Verwirklichung von Turings „Orakel“, einer Art der Berechnung, die über die schrittweise Automatisierung maschineninterner Algorithmen hinausgeht und mit der Welt in Kontakt und Austausch tritt. Auch in anderen Bereichen, von der biologischen Datenverarbeitung (die mit den Eigenschaften von Pflanzen6, Schleimpilzen7 und sogar Krebsen8 arbeitet) bis hin zur Erzeugung von Zufallszahlen (die physische Quellen wie den radioaktiven Zerfall oder atmosphärisches Rauschen für Berechnungen nutzen9), wird Ähnliches versucht.
Der Weg zu neuen Formen der Datenverarbeitung, die versuchen, mit den Gegebenheiten des Planeten zu arbeiten anstatt gegen sie, wird also bereits beschritten. Anstatt die Welt zu einem binären Modellsystem zu abstrahieren – zu einer brutalen Welt des Entweder-oder, der Ja-nein-Hierarchien und impliziten Machtverhältnisse –, gibt es die Möglichkeit des nicht-binären Computings, die ein Feld erschließt, das so vielfältig, flexibel, intelligent und regenerativ ist wie unser Planet selbst.

Bearbeiteter und übersetzter Auszug aus dem Buch WAYS OF BEING, das im Frühjahr 2023 beim Verlag C. H. Beck auf Deutsch erscheint.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Alan M. Turing, On Computable Numbers, With an Application to the Entscheidungsproblem, in: Proceedings of the London Mathematical Society, Series 2, 42, 1937, S. 230–265.
[2] Alan M. Turing, Systems of Logic Based on Ordinals, in: Proceedings of the London Mathematical Society, Series 2, 45, 1939, S. 161–228.
[3] B. Jack Copeland/Diane Proudfoot, Alan Turing’s Forgotten Ideas in Computer Science, in: Scientific American, 280(4), April 1999, S. 98–103.
[4] Stafford Beer, Towards the Automatic Factory, Vortrag auf einem Symposium an der University of Illinois im Juni 1960, Nachdruck in Roger Harnden/Allenna Leonard (Hg.), How Many Grapes Went into the Wine? Stafford Beer on the Art and Science of Holistic Management. New York 1994, S. 163–225.
[5] Genaueres über Kukjanow und die hydraulischen Computer in der UdSSR findet sich bei O. Solovieva, Water Machine Computers, in: Science and Life, 4, 2000; https://www.nkj.ru/archive/articles/7033/, sowie in den Archiven des Moskauer Polytechnischen Museums; http://web.archive.org/web/20120328115234/http://rus.polymus.ru/?h=relics&rel_id=9&mid=&aid=9&aid_prev=9.
[6] Zu Pflanzen und Tieren als Computern vgl. Andrew Adamatzky et al., Computers from Plants We Never Made: Speculations, 2017; https://arxiv.org/abs/1702.08889.
[7] Liping Zhu et al., Remarkable Problem-Solving Ability of Unicellular Amoeboid Organism and its Mechanism, in: Royal Society Open Science, 5(12), 19. Dezember 2018.
[8] Zum Krebscomputer siehe Yukio-Pegio. Gunji/Yuta Nishiyama/Andrew Adamatzky, Robust Soldier Crab Ball Gate, in: Complex Systems, 20(2), 15. Juni 2011.
[9] HotBits unter Nutzung des radioaktiven Zerfalls von Cäsium; http://www.fourmilab.ch/hotbits/; Random.org unter Nutzung atmosphärischen Rauschens, https://www.random.org.