Der französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel greift in seinem 2010 erschienenen Manifest Empört euch! (Indignez-vous!) den Affektbegriff der Empörung auf. Hinsichtlich eines politischen Aktivismus sei es die Empörung, so Hessel, die zum politischen Engagement führe und damit als produktive Mobilisierungsstrategie nutzbar gemacht werden könne.1 Die von ihm angesprochenen und vor über zehn Jahren drängenden Fragen, etwa zur Bedeutung der Menschenrechte, zur sozialen Ungleichheit oder zu ökologischen Krisen haben in der heutigen Zeit kaum an Relevanz eingebüßt. Ganz im Gegenteil. Doch was eine Gesellschaft empört und welche Bildmittel dabei zur Mobilisierung, Solidarität und Empörung eingesetzt und wahrgenommen werden, hängt maßgeblich vom zeitgeschichtlichen Kontext, den damit einhergehenden Intentionen sowie der Einschätzung der Öffentlichkeit ab.
Denkt man an aktuelle visuelle Unmittelbarkeitsformen, wie sie in sozialen Medien kursieren, die konkret zum Protest aufrufen oder durch das direkte wie indirekte Zeigen von Missständen mobilisieren, wird schnell das breite Feld visueller Empörungsstrategien deutlich. So können Bilder schockieren, mahnen, insistieren oder provozieren und so ein produktives Potenzial entfalten, wie dies im Fall der Black-Lives-Matter-Bewegung oder dem russischen (Angriffs-)Krieg zu beobachten ist. Daneben besteht die Problematik traumatisierender, vereinfachender, diskreditierender oder überrepräsentierter Darstellungen, die in einen lähmenden, unproduktiven oder gar repressiven Erregungsmodus sogenannter Medien- oder Massenhysterien münden können. Natürlich handelt es sich hierbei um Extrembeispiele, die in ihren Wirkweisen keinesfalls statisch sind. Dennoch wird deutlich, wie genau zwischen konkreter Empörung auf der einen und diffuser Erregung auf der anderen Seite unterschieden werden muss. Zugleich können diese Beobachtungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Modus der Empörung selbst immer wieder unter Beschuss gerät und sich gegen Zuschreibungen als hysterisch behaupten muss.
Im Bereich der Kunst lassen sich mannigfaltige Beispiele von Agitprop bis zu den Guerrilla Girls heranziehen, die mithilfe konkreter Adressierungen oder provokanten Kunstaktionen auf empörte Reaktionen seitens des Publikums abzielen. Doch wie verhält es sich mit jenen Arbeiten, die sich in Anlehnung an eine institutionskritische Kunst dem Darlegen von Argumentations- und Beweisketten logischen Prinzipien der Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit verschreiben und ihr Material zum Zweck diagnostischer Anstrengungen nutzen? Im Duktus didaktischer Vermittlungsformen tendieren die politisch engagierten Arbeiten von Forensic Architecture, die sich investigativen und forensischen Rekonstruktionen von Gewaltverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verschreiben und ihre Befunde in Ausstellungen zeigen, zu rhetorischer Plausibilität oder nutzen gar Inszenierungen wissenschaftlicher Vermittlungsformen als Mobilisierungsstrategien. Damit scheinen sie einer „Ästhetik der Erregung“2 konträr gegenüberzustehen. Keineswegs würde man auf die Idee kommen, die professionell verfassten Bildstrategien im Kontext hysterischer Erregungskulturen zu verorten. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber nicht, dass die Bilder völlig wertneutral inszeniert werden, denn dieser ersten Einschätzung zum Trotz zielen die filmischen Arbeiten mit ihrem enthüllenden Tenor ebenso auf ein Erstaunen, auf Empörung und Solidarität des Publikums ab, bei denen es sich mitnichten um eine distanzierte Betrachtung handelt.
Zwischen informativer Aufklärung und emotionaler Betroffenheit
Im Fall von Forensic Architecture, einer 2010 gegründeten Rechercheagentur, die mithilfe wissenschaftlicher, technologischer, juristischer und künstlerischer Techniken Spuren staatlicher Gewalt untersucht, wird dies anhand der kürzlich fertiggestellten Arbeit Racist Terror Attack in Hanau: Arena Bar (2021) deutlich.3 Die von der Initiative 19. Februar Hanau4 beauftragte Untersuchung thematisiert den rassistischen Terroranschlag am 19. Februar 2020 in Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden. Angetrieben vom Zweifel an der Einschätzung der Hanauer Staatsanwaltschaft, dass der verschlossene Notausgang am Tatort keine Auswirkungen auf das Überleben der Opfer gehabt habe, widmet sich die Recherche von Forensic Architecture der Tatrekonstruktion, um diese Behauptung der staatlichen Behörden zu überprüfen.
Die filmische Montage legt ihre investigativen Untersuchungsmethoden offen: Um die Handlungsabläufe nachvollziehbar zu machen, findet mithilfe von Überwachungsvideos und Aussagen von Überlebenden eine zeitliche und räumliche Synchronisation statt. Doch geben die Bilder keineswegs die erschütternden Aufnahmen des Anschlags wieder, sondern sie übersetzen den Tatort in einen animierten digitalen Grundriss, die Handlungsabläufe in eine Zeitleiste und die anwesenden Personen in farbige Icons, die mit den Initialen der Opfer versehen sind. Auf diese analytische Weise wird, trotz der schieren Menge und der Gleichzeitigkeit des informationsästhetischen Datenmaterials, ein visuelles Nachvollziehen möglich.
[Abb. 1 & Abb. 2]
Der proklamierte Rationalismus der Bildsprache wird durch das Zeigen fotografischer Porträts und durch das Einblenden der Namen der neun Opfer, ganz im memorialen Sinn und der Forderung #SayTheirNames, ergänzt. Es sind jedoch vor allem die sich immer schneller bewegenden Icons, durch welche die menschliche Panik nachvollziehbar wird. Das ra(s)tlose Vor- und Zurücklaufen sowie die beängstigende Ausweglosigkeit der Situation werden darin deutlich und schreiben sich in die digitalen Symbole ein. Auch die Schlussfolgerung von Forensic Architecture, dass ein Überleben der Personen im Falle eines intakten Notausgangs möglich gewesen wäre, was der Einschätzung der Hanauer Staatsanwaltschaft widerspricht, erschüttert zutiefst. In Weiß auf Schwarz können wir diese verschriftlichte Einschätzung mitlesen.
[Abb. 3]
Es steht außer Frage, dass diese heterogenen Bilder ein hoch explosives Potenzial bergen und die Betrachtenden mental wie emotional involvieren. Während die schlüssig dargelegte, politische Enthüllung auf informative Aufklärung abzielt und die Aufmerksamkeit fesselt, lösen vor allem Bezüge zu den Opfern emotionale Betroffenheit aus. Im Vordergrund steht dabei keinesfalls die visuelle Repräsentation von Emotionen, sondern die gestalterische Evokation von Empathie, Leid, Trauer, Wut, Verärgerung, Empörung. Obwohl die schockierenden Überwachungsbilder aufgrund von Daten- und Personenschutz nicht preisgegeben werden, führt gerade die körperliche Abwesenheit die Verwundbarkeit der Opfer bzw. die menschlichen Tragödien vor Augen. Zusammengenommen wirkt das Bildmaterial regelrecht als affizierender Katalysator für Solidarisierung und Empörung, die auf die öffentliche Ablehnung der gezeigten gewalttätigen Übergriffe abzielt und sich damit als beweisendes Zeugnis und politischer Appell zugleich inszeniert. In Bezug auf den Empörungsmodus wirft dies dennoch gewisse Fragen auf: Wie verhält es sich mit der Lenkung bestimmter Affekte? Und kann neben einer temporären Erschütterung des Publikums überhaupt ein nachhaltiger und produktiver Modus von Mobilisierung entstehen?
Im Strudel der Affekte
Eine an Forensic Architecture herangetragene Kritik lautet, ihre Filme seien interpretativ, selektiv und zweckgebunden, die eine vorkalkulierte Aufmerksamkeit bei den Zuschauer*innen generiert.5 Auf der einen Seite wird suggeriert, die Zuschauer*innen seien allumfassend kritisch informiert, auf der anderen Seite wird das Zuschauerverhalten maßgeblich vorstrukturiert, indem diese regelrecht zu einer identifikatorischen Rezeptionshaltung der Betroffenheit angehalten werden. In Anlehnung an Hito Steyerls „dokumentarisches Fühlen“ werden die Zuschauenden in einer kalkulierten Betroffenheit affektiv appelliert, was im Sinne Martin Dolls wiederum zu einer gefährlichen Entmündigung des Publikums führen kann.6
Mit Judith Butler sei jedoch daran erinnert, dass moralisches Entsetzen implizit immer in sozialer und politischer Hinsicht vorstrukturiert ist und darüber bestimmt, für wen wir überhaupt Sorge empfinden.7 Wenn gewisse minorisierte Interessen in einem hegemonialen Kontext wie diesem sogar auf legalem Wege abgetan werden, dann legt bereits dieser Rahmen fest, welches Leben ernst genommen wird und welches nicht. In diesem Sinne kann die scharfsinnige Rekonstruktion von Forensic Architecture überhaupt erst dazu beitragen, Affekte entstehen zu lassen, wodurch sich emotionale und politische Allianzen bilden und als Widerstandakte agieren können. Im juristischen Rahmen konnten die Untersuchungsergebnisse jedenfalls schon dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags vorgelegt werden.
Was den Einwand der Rezeptions- und Affektregulierung betrifft, so ist dieser nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Wie schon Susan Sontag feststellte, müssen Bilder eine bestimmte Wirkung auf die Betrachter*innen ausüben, damit diese direkt auf ihre Urteile durchschlagen.8 In diesem Sinn überlassen Forensic Architecture nichts dem Zufall, wenn es um die inhaltliche Deutung der eingesetzten Bilder geht. Dass ihre Arbeiten dabei immer wieder in juristischen Kontexten für wahr erachtet werden, trägt mit Sicherheit dazu dabei, dass sie auch vom Publikum als überzeugend wahrgenommen werden. Im Hinblick auf das (Kunst-)Publikum muss jedoch einkalkuliert werden, dass die Untersuchungsergebnisse auch überwältigend wirken und so das Vermögen der moralischen Reaktion mindern oder gar den Eindruck einer technokratischen Protokollierung bedienen können.9 In dem Potenzial der Empörung steckt, wie das Beispiel von Forensic Architecture zeigt, daher beides – ein Sowohl-als-auch: sowohl ein produktives Potenzial der Empörung als auch eine Regulierung des Geschehenen. Die Anerkennung beider Seiten, die den ambivalenten Charakter der Affizierung ausmacht, sollte in der Lesart der Arbeiten stets mitbedacht werden und könnte durch eine stärkere Rückbeziehung auf die eigene Recherche- und Ausstellungspraxis von Forensic Architecture vielleicht sogar noch mehr an Gewicht gewinnen. Es bleibt daher abzuwarten, inwieweit das explosive Potenzial der Arbeit im Sinn von Stéphane Hessel durch das Ausstellen im Kunstbereich zu einer nachhaltigen Empörung, Solidarität oder Mobilisierung beim Publikum beitragen kann.10
[1] Stéphane Hessel, Empört euch! (Indignez-vous! 2010). Berlin 2011, S. 9.
[2] Vgl. Kerstin Schankweiler, Bildproteste. Widerstand im Netz. Berlin 2019.
[3] https://forensic-architecture.org/investigation/hanau-the-arena-bar
[4] https://19feb-hanau.org
[5] Mira Anneli Naß, Architektur von unten? Eine Kritik komplexitätsreduzierender Praktiken bei Forensic Architecture, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Jg. 49, Heft 3 (2021).
[6] Doll bezieht sich in seiner Untersuchung vornehmlich auf das Theater. Vgl. Martin Doll, Wirklichkeitsfieber. Über aktuelle Wahrheitsansprüche, dokumentarisches Fühlen und postdramatische Super-Erzähler im Theater, in: Daniela Hahn (Hg.), Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten. Paderborn 2016, S. 190.
[7] Judith Butler, Krieg und Affekt. Hg. v. Judith Mohrmann/Juliane Rebentisch/Eva von Redecker. Zürich/Berlin 2009, S. 35.
[8] Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt am Main 2005.
[9] Butler, Krieg und Affekt, S. 58–60.
[10] Inwieweit sich Allianzen beim Publikum durch das Ausstellen im Kunstbereich bilden werden, wird sich vielleicht im Frankfurter Kunstverein zeigen, der mit seiner Nähe zu Hanau ab Juni 2022 eine große Einzelausstellung zu Forensic Architecture ausrichtet.