Heft 3/2022 - Netzteil


Beweismaterial

Fotografie und ihr Rohstoffverbrauch

Vera Tollmann


Es gibt Unmengen an Bildern. WJT Mitchell schrieb von einer „Bilderflut.“1 David Joselit verwendete die Metapher der Bildexplosion.2 In seinem Vortrag „So Many Pictures of Food“ diskutierte John Tresch vor vier Jahren konkrete Effekte zwischen dem Upload von Bildern und dem Klimawandel.3 Um mental aus der Bilderflut auszusteigen, forderte Tresch sein Publikum damals dazu auf, für eine Minute die Augen zu schließen – eine erste kollektive Übung darin, die Wahrnehmung zu ändern.
In der Ausstellung Mining Photography im Museum für Kunst & Gewerbe in Hamburg wird es am Ende auch um Veränderung gehen, weniger auf individueller denn auf ökonomischer Ebene. In verschiedenen künstlerischen und kuratorischen Forschungsprojekten stehen Rohstoffe im Fokus, die für die Fotografie wesentlich sind oder es in historischen Phasen bereits waren, darunter Kupfer, Silber, Kohle, Bitumen, Baumwolle, Zellulose und Seltene Erden. Im gegenwärtigen „Zeitalter des Verlusts und der Zerstörung“4 macht die Ausstellung die von der Fotografie mitproduzierten ökologischen und sozialen Folgen punktuell sichtbar. Um die komplexen Zusammenhänge darstellen zu können, verwenden das Kurator*innnenduo Boaz Levin und Esther Ruelfs sowie die eingeladenen Künstler*innen wie Tobias Zielony, Ignacio Acosta, Lisa Rave oder Mary Mattingly so unterschiedliches Material wie Satelliten- und Drohnenaufnahmen, dokumentarische Fotografie, Video, Interviews, Essays oder (poetische) Textkommentare – sie verkoppeln die medialen Dispositive. Wenn in den 1970er-Jahren, der Epoche der zivilen Erdbeobachtungssatelliten, des „Grenzen des Wachstums“-Berichts und der Ölkrise, die ökologischen Zustände auf der Erde stärker in den Blick gerieten, dann sind wir heute in einer Zeit angekommen, in der die Satellitenbilder das Ausmaß der Zerstörung zeigen, der Blick auf die Erde also von der Schadenserfassung bestimmt wird.

Vom Motiv zum Material
Noa Yafe bildet in Bitumen eine historische Fotografie in einem dreidimensionalen Diorama nach, das sich erst auf den zweiten Blick bzw. aus der Nähe als solches offenbart. Hier wird die Vorlage – ein Archivbild, das Ende des 19. Jahrhunderts bei einer Forschungsreise zum Toten Meer von den Hügeln Judäas entstand – ganz buchstäblich in sein Material, nämlich Erdöl, Sand und Wasser, überführt und in einen aktuellen materialistischen Diskurs gestellt. Für das erste erhaltene Bild der Fotografiegeschichte, eine Heliografie aus dem Jahr 1826, bei der sich über mehrere Stunden das Sonnenlicht in das Material einbrannte, verwendete Joseph Niépce Bitumen aus Judäa. Das allererste Foto war also bereits unmittelbar von fossilen Brennstoffen abhängig und im Ergebnis „fossilized sunshine“5.
Durch Bezüge zum Standort Hamburg verankert sich die Ausstellung im unübersichtlichen globalen Geflecht der Handelsrouten und Produktionsstätten. Der Künstler Ignacio Acosta verfolgt den Weg von Kupfer und anderen Rohstoffen, die im Hamburger Hafen verladen werden. Insbesondere die Kupferindustrie hat einen hohen Wasserverbrauch – und einen Produktionsstandort in Hamburg. Hier wird sichtbar gemacht – wie von T. J. Demos anlässlich der Waldbrände in Kalifornien gefordert6 –, bei welchen Konzernen die Verantwortung für entstandene Schäden liegt. Als Unterstützer mit Ortskenntnis hat Acosta den Umweltaktivisten und Chemiker Klaus Baumgardt ausgesucht, der den Rohstoffhandel aus Sicht des Ökosystems Elbe seit 20 Jahren kritisiert. Der Link zur Fotogeschichte besteht darin, dass Kupfer die Unterlage für die Daguerreotypie war, eine Rohware für die sogenannten Sheffield Plates – den Bildträger. Die Kurator*innen haben eine Isotopenanalyse veranlasst, ein Verfahren aus der Archäologie, bei dem eine Platte aus der Zeit angebohrt wird, um so ihren Ursprungsort – wahrscheinlich Cornwall oder Swansea – zu bestimmen.
Die Ausstellung liefert umfangreiches Beweismaterial dafür, dass die Fotografie und ihre Devices Anteil an den schonungslosen Prozessen haben, die im großen Maßstab durch die Industrie verursacht werden und Donna Haraway dazu veranlassten, die Bezeichnung Anthropozän durch Kapitalozän zu ergänzen. Levin und Ruelfs stützen sich auf diesen Begriff und folgen den Produktionsspuren im Bereich der Fotografie. So werden in der Ausstellung Verluste erfahrbar, etwa die Materialvergänglichkeit, wie Abzüge auf abgelaufenen Fotopapieren zeigen, die nur noch fahle Farben enthalten. An anderer Stelle wird mithilfe der Fotografie auf die Umweltverschmutzung hingewiesen, wenn etwa für die Gruppe Optic Division die Landschaft zum Entwicklungslabor wird. Während sich Robert Smithsons Asphalt Rundown aus heutiger Sicht zwar weiterhin als großformatige Malerei in anthropogener Landschaft betrachten lässt, wird der Film zugleich zum Vexierbild und verweist darauf, in welchem Maße eine massive Versiegelung von Erdoberfläche stattgefunden hat und etwa einem aktuellen Konzept für urbane Klimaanpassung wie der Sponge City (Schwammstadt) im Weg steht.

Verluste und Anfänge
Tobias Zielony hat für seine Zwei-Kanal-Videoinstallation Blackbox Wolfen eine Geschichte entworfen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verwoben werden. Schauplatz ist das Gelände der ehemaligen Agfa-Filmfabrik in Wolfen, die ab 1964 Orwo hieß. Heute ist dort nur noch die kleine Firma Filmotec ansässig, die einen tausend Jahre haltbaren Film herstellt, der unter anderem im Bundesarchiv zum Einsatz kommt. Zielony nähert sich dem einstigen Produktionsstandort mit Empathie für ehemalige Arbeiter*innen, die für die Kamera ihre damals an Ort und Stelle ausgeführten Handbewegungen noch einmal wiederholen, diesmal draußen auf der Wiese, ohne Maschinen zu berühren, aber auch ohne den Dunst gesundheitsschädlicher Chemikalien einzuatmen. Ob der Filmspeicher von Filmotec so lange Bestand haben wird, wie annonciert, ist nicht wesentlich. In der Ausstellung dient er als Platzhalter für Utopien.
Am Ende muss Abschied genommen werden von der sorglosen Zeit des Fotografierens. Durch eine sich aus multiplen Krisen aufaddierende Dauerkrise sind auch die Künste stärker unter Druck geraten, den eigenen Energie- und Materialverbrauch zu überdenken. Ein Gefühl für weitere anstehende Verluste mischt sich mit Nostalgie für das notwendigerweise Vergangene und entwickelt sich nach dem Ausstellungsbesuch weiter in eine hoffnungsvoll stimmende Überzeugung, dass weniger Exzess unausweichlich sein wird.

Mining Photography. Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion, Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg, 15. Juli bis 31. Oktober 2022.

 

 

[1] WJT Mitchell, 911: Criticism and Crisis, in: Critical Inquiry, 28, 2, Winter 2002, S. 568.
[2] David Joselit, Nach Kunst. Berlin 2016, S. 19ff.
[3] John Tresch, So Many Pictures of Food, im Rahmen von Wörterbuch der Gegenwart #10 – BILD, Pierre Boulez Saal Berlin, 21. März 2018; https://www.hkw.de/de/app/mediathek/video/62668.
[4] Diese Bezeichnung entnehme ich aus einem Interview, das die Journalistin Alexandra Endres mit dem Klimaforscher Saleemul Huq, Direktor des Internationalen Instituts für Klimawandel und Entwicklung in Dhaka, Bangladesch, anlässlich der Überflutungen im Sommer 2021 geführt hat („170 Menschen sind gestorben, in Bangladesch wäre das nicht passiert“, in: Zeit Online, 28. Juli 2021; https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2021-07/bangladesch-klimaforscher-hochwasser-tipps-deutschland-wetterextreme-klimawandel-saleemul-huq).
[5] Die Kurator*innen beziehen sich hier auf Nadia Bozak. Boaz Levin/Esther Ruelfs, Photography and Climate Change: The Engine of Reflection, and its Footprint, in: Mining Photography, hrsg. v. Boaz Levin/Esther Ruelfs/Tulga Beyerle. Leipzig 2022, S. 15–16.
[6] T. J. Demos, The Agency of Fire: Burning Aesthetics, e-flux 98, März 2019; http://worker01.e-flux.com/pdf/article_256882.pdf.