Heft 3/2022 - De-Growth


Die Demontage der Welt

Das Kapitalozän, effektiver Konstruktivismus und das Unmenschliche

Frédéric Neyrat


The earth moves against the world.
And today the response of the world is clear.
The world answers in fire and flood.
The more the earth churns the more vicious the world’s response.
But the earth still moves.1

Die Natur dekolonisieren: Ich verwende diesen Ausdruck, um das konzeptuelle und politische Vorgehen zu beschreiben, durch das die „unmenschliche“ Dimension der Natur offenbart werden könnte. Die Dekolonisierung würde erfordern, sich von einer humanistischen, anthropozentrischen und phallozentrischen Interpretation zu verabschieden, die Natur auf das reduziert, was das herrschende wirtschaftlich-kulturelle Modell in ihr sieht. Ich möchte hier vor allem auf die von mir als effektiver Konstruktivismus bezeichnete Grundlage dieser Naturinterpretation eingehen. Beim effektiven Konstruktivismus handelt es sich nicht nur um eine spezifische Sichtweise von „Akteuren“ und „Netzwerken“ (wie in der Akteur-Netzwerk-Theorie) oder um eine Reflexion über die „Korrelation“ zwischen Realität und menschlichem Denken (worauf das spekulative Denken abzielt). Vielmehr geht es um eine ontologische Perspektive, die in der von verschiedenen Denker*innen als „Kapitalozän“ bezeichneten Ära eine wichtige Rolle spielt. Der effektive Konstruktivismus konfiguriert die Welt, und diese Weltkonfiguration nutzt als zentrale Dimension für ihre Umsetzung das konstruktivistische Denken.
Zunächst möchte ich die Beziehung zwischen Kapitalozän und effektivem Konstruktivismus beleuchten und beziehe mich dabei in erster Linie auf die Analyse von Jason W. Moore. Unter Verwendung von Donna Haraways Begriff des Chthuluzäns werde ich im zweiten Teil die Symmetrieebene aufbrechen, die der effektive Konstruktivismus zwischen Menschen und Nichtmenschen postuliert. Im dritten Teil werde ich erläutern, warum das Konzept des Unmenschlichen effizienter sein könnte als das Konzept des Menschlichen, um den effektiven Konstruktivismus infrage zu stellen: Das Unmenschliche ist der „unkonstruierbare“ Teil des Menschlichen, der sich dem humanistischen (und posthumanistischen) Ansatz widersetzt, wie er im effektiven Konstruktivismus zum Tragen kommt. Im letzten Abschnitt werde ich dann unter Bezug auf Martin Heideggers Philosophie Überlegungen anstellen, was es bedeuten könnte, die Welt des Kapitalozäns – eine Welt, die nur an Konstruktion und endlose Rekonstruktion glaubt – zu demontieren und warum diese Demontage die Dekolonisierung der Natur befördern könnte.

Die Symmetrieebene des Kapitalozäns
Jason W. Moore bezeichnet die Periode, die während des langen 16. Jahrhunderts (zwischen 1451 und 1648) begann, als Kapitalozän; dieses wurde seiner Ansicht nach von zwei Vorgängen bestimmt. Durch den ersten wird die Natur als äußerlich konstruiert, als etwas, das codiert, quantifiziert und rationalisiert werden kann. „Gewiss“, so schreibt Moore, „die Unterscheidung zwischen dem Menschlichen und der übrigen Natur besteht seit langer Zeit. Nie zuvor hatte sich jedoch eine Zivilisation um eine Praxis externer Natur organisiert: eine Weltpraxis, in der Repräsentation, Rationalität und empirische Untersuchung – in dem Bemühen, eine externalisierte Natur zu kreieren – mit der Kapitalakkumulation gemeinsame Sache machten.“2 Der zweite Vorgang ist die „Aneignung“, durch welche die Natur zum reinen Produktionsfaktor im Dienste des Kapitals wird. Beide Vorgänge zeigen, dass der Kapitalismus weniger ein wirtschaftliches oder gesellschaftliches System ist als vielmehr „eine Weise, Natur zu organisieren“: „Anstatt zu fragen, was der Kapitalismus der Natur antut, sollten wir fragen, wie die Natur für den Kapitalismus arbeitet?“3
Moore nennt die Art Natur, die für den Kapitalismus arbeitet, „Billige Natur“ im Sinne von etwas, das man sich als „unbezahlte Arbeit/Energie“ zu eigen macht.4 Doch die Realität wird dem kapitalistischen „Projekt“ der Abstraktion und Aneignung der Natur nicht gerecht. Wie Moore schreibt, „ist das Lebensnetz damit beschäftigt, die biologischen und geologischen Bedingungen der doppelten Internalität des kapitalistischen Verfahrens zu durchmischen. Das ‚Lebensnetz‘ ist die Natur als Ganzes: die Natur als wir, als in uns, als um uns. Es ist Natur als ein Strom der Ströme. Einfach ausgedrückt, Menschen machen Umwelten, und Umwelten machen Menschen […].“5
Auch wenn ich Moores Einschätzung im Großen und Ganzen teile, möchte ich den letzten Satz hinterfragen, das heißt die Symmetrisierung von Mensch und Umwelt (bzw. das, was Moore das „Außermenschliche“ nennt). Diese Symmetrisierung äußert sich in dem, was Moore als „doppelte Internalität“ bezeichnet, also in der Tatsache, dass der Kapitalismus durch die Natur arbeitet und die Natur durch den Kapitalismus. Ich möchte Natur und Gesellschaft weder vereinen, noch die Trennung Natur/Gesellschaft aufrechterhalten, sondern die geheime Komplizenschaft zwischen dieser Trennung und ihrer Aufhebung aufbrechen – egal, ob sie in einem Netz, einem Ganzen oder einer vom Menschen geschaffenen Realität angesiedelt sind. Diese geheime Komplizenschaft verkörpert für mich den effektiven Konstruktivismus: Auf der einen Seite wird die Natur abstrahiert mit der Behauptung, dass sie als solche gar nicht existiert, um andererseits eine bessere Einbeziehung bzw. den Rückzug der Natur zu bewirken.
Um genauer zu sein, behauptet Moore, die Billige Natur sei nicht die einzige Form von Natur, da der Kapitalismus selbst „im Lebensnetz“ produziert werde. Damit möchte er nicht etwa sagen, dass die Trennung zwischen Natur und Gesellschaft nicht existiert, sondern nur, dass sie in Form einer „realen Abstraktion“ existiert: Auch wenn diese Trennung nicht der Realität entspricht, also der Tatsache, dass „alles, was der Mensch tut, immer schon mit der außermenschlichen Natur und dem Lebensnetz verbunden“ ist, ist sie eine „reale historische Kraft“, die unsere Wissensstrukturen bzw. unsere Macht- und Produktionsverhältnisse beeinflusst.6 Wenn aber die Binarität Natur/Gesellschaft in Wirklichkeit eine Konstruktion ist, die die Welt formt, dann frage ich mich, ob es sein kann, dass „Kapital und Macht nicht auf die Natur ein wirken, sondern sich durch das Lebensnetz entwickeln“7. Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, zwischen diesen beiden Optionen zu unterscheiden, da das „durch“ eng mit der realen und mächtigen Abstraktion zusammenhängt, die im erwähnten „Einwirken auf“ am Werk ist. Falls ich richtig liege, wäre es dann nicht möglich, die hier wirkenden asymmetrischen Kräfte umzukehren? Kann die außermenschliche oder nicht-menschliche Kraft eine gewisse Unabhängigkeit für sich beanspruchen? In den nächsten beiden Abschnitten werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Der unkonstruierbare Teil des Chthuluzäns
Wie Nigel Clarke bemerkte, scheinen theoretische Ansätze, die auf die Hybridisierung von Nichtmenschen und Menschen abzielen, den Umfang dieser Hybridisierung allzu häufig auf jene Netzwerke zu beschränken, die ursprünglich von Menschen geschaffen oder neu gestaltet wurden.8 Als wäre es für Nichtmenschen schwierig, getrennt vom Menschen zu existieren und untereinander Beziehungen aufzubauen. Als würde der Mensch sich hartnäckig weigern, eine ontologische Macht anzuerkennen, die nicht nur außerhalb von ihm existiert, sondern der gegenüber er eine Abhängigkeit anerkennen sollte, eine relationale Asymmetrie, was so viel heißt, dass wir nicht „in“ der Natur sind, sondern mit ihr, nahe bei ihr, hin zu ihr.
Tatsächlich sind es letztendlich immer Menschen, die sich Hybridisierungen zunutze machen, die das Kapitalozän Nichtmenschen aufzwingen, und nicht umgekehrt. Natürlich stimmt es, wenn Moore sagt, die Natur formt uns und handelt in uns – das will ich gar nicht bestreiten. Aber diese Handlung ist als reale Handlung nur möglich, weil das Kapitalozän es nicht schafft, alles zu subsumieren, weil sich das Nichtmenschliche den menschlichen Aneignungen und Versuchen, alles neu zu konstruieren, entzieht, weil das, was Moore das Außermenschliche nennt, die Symmetrie zerstört, in die der Mensch es zu locken versucht (mit anderen Worten, es zerstört die „doppelte Internalität“).
Donna Haraways Theoretisierung des Chthuluzäns könnte eine Möglichkeit darstellen, diese im konstruktivistischen Denken so weitverbreitete Symmetrie aufzubrechen. Für Haraway ist das Anthropozän keine Epoche, sondern ein Grenzereignis des Chthuluzäns – jener langen Epoche, die „unzählige Zeiten und Räume und unzählige intra-aktive, zusammengefügte Entitäten – auch die Mehr-als-Menschlichen, die Anders-als-Menschlichen, die Unmenschlichen und die Menschen-als-Humus“9 – miteinander verbindet. Die ersten Terraformer im Chthuluzän sind keine Menschen, sondern Bakterien, und das Anthropozän ist nicht als Höhepunkt anthropomorpher Kreativität zu verstehen, sondern als entsetzliche ökologische und soziale Verarmung, als globaler Ökozid, der die Regenerationsfähigkeit menschlicher und nicht-menschlicher Systeme gefährdet. Um zu verhindern, dass das Anthropozän fortdauert und zu einer echten Epoche wird, macht Haraway folgenden feministischen Vorschlag: „Macht euch verwandt, nicht Babys!“ Unter Zurückweisung von Kritik, die in einem derartigen Motto den kaum verhohlenen Einfluss von Neoimperialismus, Misogynie und Rassismus sieht, besteht Haraway auf der materiellen Dringlichkeit unserer weltweiten Lage: Die menschliche Überbevölkerung ist schlichtweg verheerend für die Menschen und unzählige andere Lebewesen. Weit davon entfernt, Technologien zu fetischisieren, fordert Haraway uns auf, die Art und Weise, wie wir unsere Verwandtschaft versinnbildlichen, neu zu denken. „Ich bin eine Kompostistin“, sagt sie, „und keine Posthumanistin: Wir sind alle Kompost und nicht posthuman.“10
Ich fühle mich dem „kompost-istischen“ Manifest von Haraway sehr verbunden, weil darin das Ethos von Degrowth-, Post-Carbon- und Transition-Town-Bewegung mitschwingt. Mir scheint jedoch, dass diese politischen Perspektiven nicht nur die Konstruktion und „Kom-position“ neuer Möglichkeiten erfordern, sondern auch die Anerkennung einer Dimension der Unmöglichkeit, etwas, das ich das Unkonstruierbare nenne, also etwas, das nicht konstruiert werden kann, das uns nötigt, das Wachstum zurückzunehmen, zu entschleunigen und – warum nicht? – eine „kompostistische“ Internationale ins Leben zu rufen. Leider leugnen techno-kapitalistische Gesellschaften nach wie vor die eindringliche Präsenz des Unkonstruierbaren, sie denken weiterhin, dass sie unsere Körper und die Erde in was immer sie wollen verwandeln können, sie denken weiterhin, die Welt sei ein Produkt der Arrangements von Menschen und Nichtmenschen. Aber das ist eine Täuschung, die ich, soweit möglich, im nächsten Teil, der dem Unmenschlichen gewidmet ist, aufklären möchte.

Das fortdauernde Verlangen, unmenschlich zu bleiben
Ich behaupte, dass wir uns von der falschen Vorstellung einer Symmetrie zwischen Menschen und Nichtmenschen verabschieden müssen. Tatsächlich scheint es eine doppelte Asymmetrie zwischen beiden zu geben: So wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan sagte, dass es „kein sexuelles Verhältnis gibt“, möchte ich behaupten, dass es „keine menschlich-nicht-menschliche Beziehung gibt“. Damit meine ich zwei Dinge:
1) Erstens sind Menschen und Nichtmenschen im Kapitalozän offensichtlich nicht mit dem gleichen Maß an ontologischer und politischer Macht ausgestattet. Wird die Natur in eine Abstraktion verwandelt, wird sie von ihrer eigenen Macht abgeschnitten: Natur wird zu einem Produktionsfaktor, und die Natur als natura naturans (schaffende Natur) verschwindet zugunsten des homo naturans und all seiner Maschinen.11
2) Zweitens wird diese Asymmetrie nicht ausgeglichen, sondern völlig auf den Kopf gestellt, wenn das Kapitalozän von der Dimension des Chthuluzäns eingeholt und überwältigt wird. Wenn ein Vulkan explodiert, wenn sich Radioaktivität ausbreitet, wenn ein Kraftwerk ausfällt und in Städten totale Dunkelheit ausbricht, dann offenbaren diese Ereignisse meiner Ansicht nach nicht die geheimen Kräfte von Objekten. Ich würde vielmehr behaupten, dass es der Status der Objekte an sich ist, der in diesen Fällen infrage gestellt wird: Das nicht-menschliche Objekt verliert plötzlich seine Hülle und offenbart seinen unmenschlichen Kern. Das ist es, was Nigel Clark als „inhumane Natur“ bezeichnet, etwas, das sich jenseits jeglicher Art von „Verhandlung“ – um ein öko-konstruktivistisches Konzept zu bemühen – zwischen Nichtmenschen und Menschen manifestiert.
Wenn sich das Unmenschliche manifestiert, befinden wir uns nicht länger in einem Raum des Dramas, also der „Handlungen“ (wie Akteur-Netzwerk-Theoretiker*innen es gerne nennen), sondern der Tragödie, einem Raum, in dem wir erkennen, was nicht hätte getan werden dürfen, einem Raum des Ungeschehenmachens statt des Tuns. So interpretiere ich das Chthuluzän: Auf der einen Seite bietet es eine Möglichkeit, die Handlungsfähigkeit des Nichtmenschlichen anzuerkennen, so wie Haraway in klassischer öko-konstruktivistischer Manier Bakterien als Terraformer beschreibt. Andererseits lässt das Chthuluzän – mit all den „Mehr-als-Menschlichen, Anders-als-Menschlichen, Unmenschlichen und Menschen-als-Humus“ – jeglichen Versuch scheitern, spezifische Objekte oder gar Subjekte zu benennen: Durch die ausufernde Vielfalt ihrer Namen für die Erde – Naga, Gaia, Tangaroa, Terra, Spider Woman, Pachamama etc. – verwandelt Haraway die Erde in etwas, das ich als „Spidearth“ bezeichnen möchte, ein reines, unbenennbares Ding – das reine Reale, um Lacans Begriff zu verwenden –, das sich unserer sprachlichen, symbolischen Macht entzieht, eine reine, unmenschliche Präsenz, die jedes geokonstruktivistische Terraforming-Projekt in den Schatten stellt. Dieser Exzess lässt sich in keinem öko-konstruktivistischen Rahmen eingrenzen. Am Ende seiner theoretischen Reise angelangt, wird sich der Öko-Konstruktivismus im unbenennbaren Ozean des Unkonstruierbaren auflösen müssen.
Vor diesem Hintergrund wäre es ein Fehler, das Unmenschliche einfach als etwas vom Menschen völlig Verschiedenes zu betrachten. Aus Sicht des Naturschutzes stellt sich das Unmenschliche lediglich als störendes Ereignis dar – ein Vulkan, ein Tsunami oder irgendeine Art von Umweltkatastrophe, die „uns“ von außen bedroht; aus Sicht des spekulativen Realismus ist das Unmenschliche nur eine „anzestrale“, des Lebens und Denkens beraubte Realität (ich beziehe mich hier auf Quentin Meillassoux), ein Lovecraft’sches Monster oder irgendeine Art von kosmischem Horror (hier denke ich an Eugene Thacker und andere Autor*innen, die ich dem zuordne, was ich die spekulative Lovecraft’sche Strömung nenne).12 Alles ändert sich jedoch mit der Erkenntnis, dass das Unmenschliche nicht einfach etwas da draußen ist, sondern auch eine innere Realität.
In Anlehnung an Jean-François Lyotard betrachte ich das Unmenschliche, das Inhumane im Innersten jedes Menschen, als etwas, das sich nicht formen und umgestalten lässt.13 Diese unerschütterliche Negativität spornt uns nicht dazu an, etwas zu tun, sondern dazu, das Bestehende rückgängig zu machen, dem Unkonstruierbaren einen Platz einzuräumen und jedem Versuch zu widerstehen, damit etwas zu konstruieren. Es ist das Unmenschliche in uns, das sich – ganz oder zum Teil – dem zukunftsorientierten humanistischen Prozess des Werdens verweigert, einem Prozess, der auch im Posthumanismus zum Tragen kommt.14 Die Eigenheit des Menschen besteht vielleicht weniger in seiner Fähigkeit, seiner Unbestimmtheit eine Form zu geben, als in seiner Fähigkeit, jede Art von Bestimmtheit, Entwicklung oder Anpassung zu vermeiden. Das Unmenschliche ist weit davon entfernt, irgendeine Art von Handlungsfähigkeit zu behaupten, es negiert diese vielmehr und bekräftigt damit ein „funktionsunfähiges“, „gedankenloses“ Leben. Ich denke, eine der Herausforderungen zukünftiger Ökopolitik wird darin bestehen, dem Wunsch, unmenschlich zu bleiben, Raum zu geben.

Die Demontage der Welt
Meine Forderung, „unmenschlich bleiben“ zu dürfen, könnte schockieren: Ist die Welt denn nicht schon unmenschlich und grausam genug? Steht sie nicht bereits überall in Flammen, ist sie nicht bereits unbewohnbar? Das Problem ist: Der ökologische Kollaps folgt aus der Art und Weise, wie die Welt von uns geschaffen wurde. Diese Art der Produktion, die ich hier als effektiven Konstruktivismus bezeichne, konfiguriert die Welt auf eine Weise, dass sie nicht anders kann, als grausam und schrecklich zu sein für ihre Bewohner*innen – vor allem für die Ärmsten, jene, die keinen anderen Ort haben, an den sie gehen können, um den Bränden oder Überschwemmungen zu entkommen.
Um die aktuelle Konfiguration der Welt im Hinblick auf den effektiven Konstruktivismus zu verstehen, könnten Heideggers philosophische Untersuchungen hilfreich sein. In seinem Text „Die Zeit des Weltbildes“ definiert Heidegger das „Wesen der Neuzeit“ als Verschränkung zweier Vorgänge: demjenigen, wodurch „die Welt zum Bild [im Sinne eines erdachten, repräsentierten und produzierten Bilds] wird“, und demjenigen, wodurch „der Mensch […] zum Subjectum wird“15. Und er fügt hinzu: „Je umfassender nämlich und durchgreifender die Welt als eroberte zur Verfügung steht, je objektiver das Objekt erscheint, um so subjektiver, d. h. vordringlicher erhebt sich das Subjectum, um so unaufhaltsamer wandelt sich die Welt-Betrachtung und Welt-Lehre zu einer Lehre vom Menschen, zur Anthropologie. Kein Wunder ist, daß erst dort, wo die Welt zum Bild wird, der Humanismus heraufkommt.“16
Die neuzeitliche Konfiguration der Welt ist das Ergebnis eines menschlichen Entwurfs. Es stimmt zwar, dass die Menschen, um die es in diesem Entwurf geht, zu den reichen Ländern gehören, die das Kapitalozän entwickelt haben, und zu den monströsesten Gemeinschaften des Chthuluzäns, aber dennoch sind es Menschen. Mit anderen Worten, wenn die Welt „unmenschlich“ (verschmutzt, verwüstet, infernalisch etc.) ist, dann, weil die Welt (um es mit Nietzsche zu sagen) „menschlich, allzumenschlich“ ist. Die Konfiguration – oder das „Gebild“, wie Heidegger es nannte – der desaströsen Welt des Anthropozäns beruht auf der produktiven „Korrelation“ zwischen den menschlichen Subjekten und der Welt im Sinne des nicht-menschlichen Objekts, das sie zu besitzen vorgeben.
In dieser Hinsicht bedeutet das Verlangen, unmenschlich zu bleiben, den humanistischen Imperativ infrage zu stellen, der zu der infernalischen Welt geführt hat, in der wir (zu) leben (versuchen). Der un-menschliche Trieb, den ich aufzudecken versuche, ist kein destruktiver Wunsch, sondern der Wunsch, das zu demontieren, was die Welt verunstaltet, oder, mit anderen Worten, das Un-Weltliche zu offenbaren. Das, was die Welt verunstaltet, zu de-montieren, ist eine spezifische Form der doppelten Verneinung, keine Aufhebung à la Hegel, sondern eine Form der Befreiung. Das metapolitische Ziel, das mir vorschwebt, besteht nicht darin, die Welt zu heilen oder eine ursprüngliche Natur wiederherzustellen, in der sich die Welt auflöst, in der Babylon verschwindet und im Garten Eden recycelt wird, sondern darin, das freizusetzen, was in der Welt, die der effektive Konstruktivismus jahrhundertelang konfiguriert hat, gefangen, unterdrückt oder unrechtmäßig verknüpft wurde. Die Welt zu demontieren würde also nicht bedeuten, sie menschlicher zu machen (das wurde bereits versucht und wird Anthropozän genannt), sondern dem Unmenschlichen zu ermöglichen, als das zu existieren, was nicht danach verlangt, konstruiert zu werden, was nicht danach verlangt zu werden, was nicht darum bettelt, verknüpft oder gar ermächtigt zu werden.

Anbetung
Ich möchte noch einmal zum Anfang dieses Artikels zurückzukehren und hinzufügen, dass die Demontage der Welt eine von mehreren Möglichkeiten wäre, die Natur zu dekolonisieren und ihre unmenschliche Dimension zu offenbaren – nicht, um Angst zu erzeugen oder den Willen zu befeuern, sie zu beherrschen oder „menschlicher zu machen“, sondern um ihre Unmenschlichkeit zuzulassen. Durch das Fortbestehen des Unmenschlichen in sich selbst könnten die Menschen neue Formen der Kommunikation mit nicht-menschlichen Wesen schaffen – seien es Tiere, Pflanzen oder Steine. Und die unmenschliche Welt, die durch die Demontage des Kapitalozäns entstehen könnte, wäre nichts anderes als eine Form der Kommunikation, in der das Dasein geliebt würde, um seiner selbst willen geliebt, ohne Erklärungen, ohne ein „Warum“, und letztlich – um einen Begriff von Jean-Luc Nancy zu verwenden, der kurz vor dem Schreiben dieser Zeilen verstarb – angebetet würde.17

Adored for no reason, and no profit.
Adored for nothing.
Adored even though the world is fated to disappear.
Adored as already disappeared. Adored as inhuman.

Erstmals veröffentlicht in Das Questões, Ausgabe 13, Nr. 1, Dezember 2021, S. 2–11.
Übersetzung aus dem Englischen: Anja Schulte

 

 

[1] Stefano Harney/Fred Moten, All Incomplete, Colchester/New York 2021, S. 113. Die Formatierung wurde leicht geändert.
[2] Jason W. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz: Ökologie und die Akkumulation des Kapitals. Berlin 2019, S. 33–34.
[3] Ebd., S. 26.
[4] Ebd., S. 31.
[5] Ebd., S. 10.
[6] Ebd., S. 14.
[7] Ebd., S. 47.
[8] Nigel Clark, Inhuman Nature: Sociable Life on a Dynamic Planet. New York 2010.
[9] Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chtuluzän. Frankfurt am Main 2018, S. 139.
[10] Ebd., S. 140.
[11] Eine genauere Ausführung dieser Idee findet sich in meinem Werk The Unconstructable Earth: An Ecology of Separation. New York 2019, S. 135–145.
[12] Zum spekulativen Realismus siehe Frédéric Neyrat, Literature and Materialisms. London/New York 2020, S. 102–117 (siehe auch S. 134–135).
[13] Siehe Jean-François Lyotard, The Inhuman: Reflections on Time. Cambridge 1991, S. 4. (Deutsch: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien 1989)
[14] Siehe Frédéric Neyrat, Sortir de l’humanisme, in: Stream 04 – Les paradoxes du vivant (2017); https://www.pca-stream.com/fr/articles/frederic-neyrat-sortir-de-l-humanisme-91.
[15] Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Werke Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, S. 92.
[16] Ebd., S. 93.
[17] Siehe Jean-Luc Nancy, Adoration: The Deconstruction of Christianity, II. New York 2013.