Heft 3/2022 - Netzteil


Digitale Kolonialität

Zur Erklärung der (bosnischen) forensischen Gegenwart

Adla Isanović


Man hat den Eindruck, als seien die Folgen der zunehmenden Digitalisierung und Speicherung in Datenbanken (als vorherrschende Methoden der Wissensproduktion) für unsere Leben, Archive, Erinnerungen und Geschichten bereits hinreichend besprochen worden. Darüber hinaus scheint man sich weitgehend einig, dass es im heutigen Europa Ethnien und Kolonialität nicht mehr gibt. Trotz dieser Eindrücke und Meinungen sollten wir uns darüber klar werden, inwiefern wir gegenwärtig einer gewaltvollen Art der Gouvernementalität ausgesetzt sind, die, wie zahlreiche Autor*innen festgestellt haben, mehr den Tod als das Leben verwaltet.

Hyperdigitalisierung und Gräberlandschaften
Es sei daran erinnert, dass die soziopolitischen Zusammenhänge, in denen sich die neuen Technologien in den 1990er-Jahren entwickelten, nicht nur zwischen dem sogenannten Osten und dem sogenannten Westen, sondern auch innerhalb des Ostens, höchst unterschiedlich waren. Auch der Zusammenbruch des Sozialismus und die Einverleibung in den Kapitalismus entwickelten sich je nach Land anders. Bosnien und Herzegowina zum Beispiel erlebten in jenen Jahren eine grausame kriegerische Aggression.
Wie Marina Gržinić damals in ihrem Buch In a Line for Virtual Bread (1996) anmerkte, kämpfte man hier tatsächlich ums Leben, während man in der übrigen Welt über die Verheißungen freischwebender virtueller Körper debattierte. Mitten im Herzens Europas ereigneten sich Massenmorde und Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit. Gržinić diagnostizierte eine klare koloniale Grenze in Bezug auf ein Medium (das Internet), das damals unisono als demokratisch angesehen wurde.
Im Sommer 1995 hatten Arthur und Marilouise Kroker, ähnlich wie Gržinić argumentierend, ihren Text „Windows on What?“1 veröffentlicht, der von zwei Ereignissen am selben Wochenende im Juli selbigen Jahres handelte. Das eine war die Auslieferung von Windows 95 in Redmond, Washington, das andere die Aufhebung der „UNO-Sicherheitszone“ im bosnischen Srebrenica mit dem nachfolgenden Genozid an bosnischen Muslim*innen durch bosnisch-serbische Truppen. Wie die Krokers in ihrer kritischen Analyse der technologischen Beschleunigung und des damit verbundenen Hypes im Westen und des zeitgleich stattfindenden Völkermords in Srebrenica feststellten, standen diese beiden Ereignisse für die Teilung der Welt bzw. aller Menschen in privilegierte „virtuelle Körper“ und in, wie sie es nannten, „Überschusskörper“ (surplus flesh). Insbesondere zeigte sich diese Teilung in der absoluten Gleichgültigkeit gegenüber den vielen Formen der Gewalt, denen diese Körper ausgesetzt waren, was noch dazu von den brandneuen technischen Geräten im Westen aufgezeichnet wurde.
Heute wird unsere Realität sowohl von der Hyperdigitalisierung als auch von den vielen Gräberlandschaften mit menschlichen Überresten geprägt, die überall in diesem Gebiet verstreut liegen. Aus dieser Verbindung einer digitalen und zugleich „nekropolitischen“ Realität resultiert die spezielle Form der (bosnischen) forensischen Gegenwart. Um die Wechselbeziehungen zwischen der digitalen und der forensischen Wende zu verstehen (wie Eyal Weizman die vorherrschende forensische Methodik und Ästhetik nennt, die in diversen Foren wie der internationalen humanitären Politik, dem Recht und der Kunst angewandt werden), schlage ich vor, Datenbanken mit Veränderungen in der Gouvernementalität und der Souveränität in Beziehung zu setzen, wobei ich die Kolonialität der Macht (Aníbal Quijano) als ihr heutiges aktives Element postuliere.
Der Begriff der Kolonialität bezeichnet hier das lebendige Vermächtnis des Kolonialismus in gegenwärtigen Zusammenhängen, das zwar den formalrechtlichen Kolonialismus hinter sich gelassen hat, aber in die nachfolgenden politischen und gesellschaftlichen Ordnungen integriert wurde.

Datenbank, Nekropolitik und digitale Kolonialität
Wiewohl das Werk Michel Foucaults zu den Begriffen Gouvernementalität, Biopolitik und Biomacht seit den 1970er-Jahren Ansätze zu einer Neukonzeption von Archiven und der Verwaltung des Lebens, wie sie den Westen nach dem Zweiten Weltkrieg prägten, bietet, reicht dies nicht aus, um damit unsere heutige Realität bzw. die bosnische forensische Gegenwart zu erklären. Letztere muss vielmehr aus der Sicht von „Außenstehenden“ politisch neu gedeutet werden, insofern diese nicht als wertvoll genug für die Biomacht galten bzw. immer noch gelten.
So hat Achille Mbembe in seinem Text „Necropolitics“2 diese überfällige Verbindung hergestellt, indem er mit dem Begriff Nekropolitik „alle zeitgenössischen Formen der Unterwerfung des Lebens unter die Macht des Todes“ zusammenfasste. Diese Formen reichen von der schieren Aufgabe und Ausnahmezuständen bis zu Techniken der Zerstörung und der Kriegsmaschinerie. Um abermals Gržinić zu zitieren, die Mbembes Begriff weiterführte: Wenn die Logik der Biopolitik unter dem Motto „erst beleben, dann sterben lassen“ steht, dann sagt die Nekropolitik von heute: „erst leben lassen, dann töten“. Sie verwaltet also den Tod und nicht mehr das Leben. Gržinić weiter: „Der wichtigste Aspekt dieser Wende ist, dass es sich dabei nicht bloß um eine Trennung oder Differenzierung handelt, sondern dass sie entlang eines kolonialen/ethnischen Bruchs etabliert wird.“3 Denn „Nekropolitik funktioniert durch Maßnahmen der verstärkten Rassifizierung“ und, besonders seit den 1990er-Jahren, durch die Naturalisierung des kulturellen Rassismus. Diese Machtverschiebungen sind, so Gržinić, immer auch durch ein forciertes Auslöschen der Vergangenheit und eine brutale Enthistorisierung gekennzeichnet. Das Ergebnis ist die Aufhebung der Geschichte mit dem primären Ziel, jede alternative historische Sicht auszumerzen.
Vor diesem Hintergrund vertrete ich die These, dass das Archiv als biopolitisches Instrument eine entscheidende Funktion für das neue Regieren erfüllt, und folglich Datenbanken und forensische Gegenwart mit Bezug auf die Verschiebung von Bio- zu Nekropolitik, von Bio- zu Nekromacht verstanden werden sollten. Mein Hauptargument ist, dass Datenbanken als zentrale neoliberale Technologie parallel zu den sich wandelnden Beziehungen innerhalb der Gouvernementalität entstanden, mit diesen koexistieren und sie verkörpern. Da die Kolonialität der Macht digital geworden ist, kommt Datenbanken in diesem Szenario eine entscheidende Rolle zu.
Digitale Technologien und Datenbanken schaffen die Voraussetzungen für das globale neoliberale kapitalistische und koloniale System. Sie erleichtern die Herrschaft über und die Kontrolle von Menschen und ihren Körpern, deren biometrische Daten, von Flüchtlingen und Migrant*innen über forensische Archive und Finanzdaten bis hin zu Data Mining, allseits archiviert werden. Diese Technologien werden indes als ethisch korrekt erachtet, dienen sie doch vorgeblich dazu, das „kleinere Übel“ (Eyal Weizman) zu berechnen/vorauszusagen, das wir akzeptieren sollten, um größeren Schaden zu verhindern. Mit diesem Argument werden diverseste rechtliche Ausnahmen gerechtfertigt – vom Kriegsmanagement bis zur Finanzspekulation. Weizman schreibt weiter, dass die Herrschenden ihre Berechnungen als Regierungstechnik „‚im Namen der Beherrschten“ anstellen. Ihre Macht beruht „gerade auf der Fähigkeit zu berechnen“ und „gemäß dieser Berechnungen zu handeln“4.
Darüber hinaus bestimmen und verschieben die Datengläubigkeit und die aus ihr folgenden Politiken, Praktiken, Formen von Wissensproduktion und Sichtbarkeiten die Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten und ihren Wirklichkeiten. Sie schaffen Bedingungen und Verheißungen, und sie definieren die Relationen und Beschränkungen jener Realität, in der wir leben und sterben. Um unsere nekropolitische Realität infrage zu stellen, müssen wir folglich das Regime der (digitalen) Kolonialität einschließlich seiner Machttechnologien neu denken, politisieren und „entnormalisieren“.

Adla Isanovićs Buch The Regime of Digital Coloniality: Bosnian Forensic Contemporaneity ist 2021 bei CEEOLPRESS in Frankfurt am Main erschienen.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] CTheory, 24. August 1995; https://journals.uvic.ca/index.php/ctheory/article/view/14852/5723.
[2] Public Culture, 15 (1), 2003, S. 11–40; https://doi.org/10.1215/08992363-15-1-11.
[3] Marina Gržinić, Exclusion and the Dead, in: Parse 8 (2018); https://parsejournal.com/article/exclusion-and-the-dead/.
[4] Eyal Weizman, The Least of All Possible Evils. Humanitarian Violence from Arendt to Gaza. London 2011, S. 17.