Heft 3/2022 - Lektüre



Zoran Terzic:

Zukunft. Kunst des Ungewissen

Zürich (Diaphanes) 2022 , S. 76 , EUR 20

Text: Justin Hoffmann


Der Kulturtheoretiker Zoran Terzić nennt gleich zu Beginn seiner Abhandlung die Zukunft ein „anonymes Kunstwerk“ – also ein Kunstwerk ohne Urheber*innen. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen nicht die voraussagbaren, kalkulierbaren Aspekte der Zukunft, sondern ihre ungewissen. Interessant ist hier der Vergleich mit dem deutschen Philosophen Ernst Bloch, der diesbezüglich ebenfalls der Kunst eine besondere Rolle zusprach. In seinem Aufsatz „Geist der Utopie“ (1973) attestierte er der Kunst die Fähigkeit eines produktiven Ahnens. Die Kunst ist bei ihm ein Medium, um die Zukunft zu erkennen. Terzić geht noch einen Schritt weiter, indem er die Zukunft selbst zur Kunst erklärt.
Als Gliederung seines Buchs verwendet der Autor verschiedene Begriffe, die alle mit dem Wort „Futur“ beginnen, von „Futurama“ über „Futurotopia“ bis „Futurazade“. Im Kapitel „Futurama“ reflektiert er die verschiedenen Bedeutungsebenen von Zukunft und hinterfragt konventionelle Zukunftskonzepte und deren blinde Flecken. Der Pavillon von General Motors auf der Weltausstellung 1939 namens „Futurama“ sah zum Beispiel den Durchbruch des Mediums Fernsehen voraus, aber nicht den Zweiten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang wirft Terzić die interessante Frage auf, wie individuell eigentlich die Zukunft sei. Oder handelt es sich bei der Zukunft um ein homogenes Phänomen, ein Absolutes, und der inzwischen häufig verwendete Plural „Zukünfte“ wird nur aus demokratischer Gewohnheit gewählt? Im Kapitel „Futurologik“ beschreibt Terzić die unzähligen Versuche, die Zukunft zu berechnen. Von besonderer Bedeutung ist dies im ökonomischen Bereich von der Börse bis hin zum Versicherungswesen. Ein wichtiger Bereich des Aktienmarkts basiert überhaupt auf Zukunftsspekulationen. Doch auch in der Wissenschaft, etwa wenn es um Förderanträge geht, werden nicht selten bereits die Ergebnisse beschrieben, die erst erforscht werden sollen – für ihn ein Paradox und unsinniger Versuch, zu Innovationen zu gelangen.
In der Zukunftsorientierung scheinen sich nach Terzić Ökonomie, Technik und Kunst zu durchdringen. Mit ihrem Avantgardeanspruch sei Letztere auf die Zukunft ausgerichtet, und die Wirtschaft nutze diese ästhetischen Potenziale für sich, was den Autor zu der drastischen Aussage veranlasst: „Die Künste werden dabei zu Steigbügelhaltern der Zukunftsökonomie, wie andererseits die Zukunftsökonomie der gesellschaftlichen Relevanzbildung der Künste dient.“ Hier geht Terzić davon aus, dass ästhetische Produktionen, die keinen innovativen (vormals avantgardistischen) Anspruch vermitteln, keine soziale Relevanz besitzen – was man infrage stellen könnte. Die gleichzeitige Hipness von Keramikkunst und Digital Art wäre nur ein Beispiel für die Vielfältigkeit und das kaum durchschaubare Nebeneinander von Trends und wiederkehrenden Entwicklungen.
In einem weiteren Kapitel widmet sich Zoran Terzić der Korrespondenz von „Zeitblick“ und „Tatblick“, die für ihn die Dispositive der Zeitmacht, die „Fugitive“, konstituieren. Als Beispiel für den „Tatblick“ wählt er das Bauhaus. „Die Radikalität des Bauhauses bestand nicht nur in seinen Forminnovationen, sondern vor allem im Bestreben, sie auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zur Geltung zu bringen, als Technik im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit.“ So wurde eine Totalität vorweggenommen, die sich allmählich als soziale Norm fortentwickeln sollte. Mit dem „Tatblick“ arbeitet man an etwas weiter, treibt voran. Doch für den Autor bedingen sich „Zeitblick“ und „Tatblick“. Eine Entwicklung in der Zukunft kann, wie er meint, nicht „ohne irgendeine Form von Science-Fiction bestehen“. Unter „Zeitblick“ versteht er in erster Linie ästhetische Repräsentationen von etwas, was es noch nicht gibt, wie das autonome Fahrzeug in der TV-Serie Knight Rider (1982) oder das Vorhaben, einen die Erde bedrohenden Asteroiden aus der Bahn zu werfen, wie im Spielfilm Armageddon (1998) – eine Operation, an der gegenwärtig die NASA forscht. Die futuristisch wirkenden Repräsentationen seien bereits ein Teil der Innovation. Terzić nennt als historisches Beispiel, diese Synergie zu nutzen, das Hudson Institute von 1961, an das neben Wissenschaftlern auch der Konzeptkünstler James Lee Byars oder der französische Philosoph Raymond Aron eingeladen wurden. Eine besondere Qualität des Buchs besteht auch darin, dass es einen kritischen Überblick über die vielfältigen Ansätze und Beschäftigungsweisen mit der Zukunft liefert – ein Schatz an aktuellen und historischen Verweisen.
Gegen Ende geht der Autor wieder auf seine anfängliche These von der Zukunft als Kunst ein und verweist dabei auf die Geschichte der Prinzessin Scheherazade aus Tausendundeine Nacht. Diese will der drohenden Todesstrafe entgehen, indem sie dem König spannende Geschichten erzählt, aber auf eine außergewöhnliche Weise, die Terzić dazu bringt, die Prinzessin als die Erfinderin des Cliffhangers zu titulieren. Wie in dieser Geschichte gehe es nach Meinung des Autors in der Produktion von Zukunft allgemein darum, sich über die Zeit zu retten. Um mit dem Ungewissen zurechtzukommen, bedarf es einer schöpferischen, poetischen Kraft, die Terzić letztlich als Kunst bezeichnet. Damit bedient er sich eines sehr weiten Begriffs von Kunst, der einerseits allerlei Formen der Imagination und Projektion als Abwehr von Zukunftsängsten miteinschließt, andererseits einer mathematisch begründeten Prognostik und Kalkulation eine Absage erteilt.