Heft 3/2022 - De-Growth


Postwachstum!

Radikale sozial-ökologische Transformationen bedürfen des Bruchs mit dem kapitalistischen Wachstumsimperativ

Ulrich Brand


Die Debatte um notwendige tiefgreifende sozial-ökologische Transformationen begann vor etwa zehn Jahren. Der 4. Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC von 2007 zeigte die zunehmende Dramatik der menschengemachten Klimaveränderungen, die Politiken während und in der Folge der Wirtschaftskrise von 2008 zeigten, dass ein grundlegendes wirtschaftspolitisches Umsteuern an fest verankerten Interessenkonstellationen scheitert, die Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen endete ohne Ergebnis, weil sich insbesondere die großen Industrieländer auf keine ambitionierten Ziele einigen konnten. Statt einer eher inkrementellen Transition, so die zunehmende fachwissenschaftliche und -politische Diagnose, bedürfe es einer umfassenden Transformation. Der Begriff war nicht umsonst semantisch an das Werk The Great Transformation von Karl Polanyi von 1944 angelehnt, worin er den Übergang Großbritanniens im 18. und 19. Jahrhundert hin zum Industriekapitalismus und die damit verbundenen Dynamiken und Verwerfungen analysierte.
Für die deutschsprachige Debatte war insbesondere der Bericht des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen wichtig (WBGU 2011, O’Brien 2012; vgl. auch Brie 2014 und Brand 2016). Heute, etwa zehn Jahre später, spitzen sich die Klimakrise und andere Dimensionen der sozial-ökologischen Krise weiter zu. Der 2022 erschienene 6. Sachstandsbericht des IPCC hat das bestätigt. Andererseits bleiben – trotz radikaler Problemdiagnosen – die meisten politischen Vorschläge im Rahmen der Transformationsdebatte doch recht zahm. Es sollen zwar die Energie- und Ressourcenbasis von Wirtschaft und Gesellschaft verändert werden, jedoch nicht die damit verbundenen Kräfteverhältnisse, dominanten Institutionen in Politik und Wirtschaft und auch nicht die Orientierung am Wirtschaftswachstum, das künftig lediglich „grün“ sein soll (vgl. dazu Rilling 2011).

(Grün-)Kapitalistische Wachstumszwänge
Das ist aus einer kritischen und emanzipatorischen Perspektive unzureichend, weil ein möglicherweise entstehender Grüner Kapitalismus (Brand 2020) beispielsweise den Umstieg vom Verbrennungsmotor auf Elektroautomobilität in Europa anstrebt, aber weder die (Investitions-)Macht der Konzerne noch die globalen und in anderen Weltregionen zerstörerischen Ruhstofflieferungen und schon gar nicht das ressourcenintensive, nämlich autozentrierte Mobilitätssystem infrage stellt.
Meine nachfolgenden Überlegungen fokussieren auf einen Aspekt der Bedingungen eines notwendigen sozial-ökologischen Umbaus und selektiven Rückbaus industrieller Versorgungssysteme und kreisen nicht zuletzt um Fragen des Wirtschaftswachstums. Aus meiner Sicht erweist sich hier die Postwachstumsperspektive insofern als produktiv, weil sie wichtige Bedingungen und Ansatzpunkte für einen solidarischen sozial-ökologischen Umbauprozess von Wirtschaft und Gesellschaft klar benennt (vgl. auch Schmelzer/Vetter 2019, Brand 2020).1
Es geht bei den anstehenden weitreichenden sozial-ökologischen Transformationen um eine kaum vorstellbare Eingriffstiefe in die existierenden Strukturen, Handlungsmuster und Vorstellungswelten dessen, was eigentlich ein gutes und auskömmliches Leben bedeutet, das im Prinzip nicht auf Kosten anderer und der Natur gelebt wird und gewollt ist, aber auch unter den entsprechenden Rahmenbedingungen gelebt werden kann. Ein solcher Umbauprozess geht notwendig über eine ökologische Modernisierung des Kapitalismus hinaus, muss neben der Energie- und Ressourcenbasis auch die imperiale Produktions- und Lebensweise sowie die damit verbundenen (welt-)gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse thematisieren und zu verändern versuchen.
Die Argumente und Anliegen der inzwischen breit aufgefächerten Postwachstumsdebatte und die damit einhergehenden Erfahrungen liefern hierfür wichtige Anregungen. Zudem macht die relative Nicht-Anschlussfähigkeit an die (Zukunfts-)Vorstellungen der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Akteur*innen den Postwachstumsbegriff sehr interessant. Das unterscheidet den Postwachstumsbegriff von solchen wie Nachhaltigkeit, grüne Ökonomie und in gewisser Weise auch von Begriffen wie sozial-ökologische oder Große Transformation (Brand 2016).
Um ein Missverständnis auszuräumen: Postwachstum als analytische Perspektive, um zentrale Probleme der Gegenwartsgesellschaften zu benennen, und als Strategie bedeutet nicht, sich an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen zu erfreuen, etwa den Rückgang des BIP per se zu begrüßen. Denn ein ungeplantes change by disaster, das zeigen unzählige historische Erfahrungen und auch die aktuelle Corona-Krise, wird meist auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen. Demgegenüber sucht Postwachstum im Sinne einer „systemischen Wachstumsunabhängigkeit der Wirtschaft“ (Schmelzer/Vetter 2019) nach Einsatzpunkten eines change by design, eines strategischen, natürlich konfliktiven und in vielen Bereichen experimentellen Prozesses, in dem aktuelle dominante Sachzwänge und Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung sowie die damit einhergehenden Kräfteverhältnisse zurückgedrängt werden und emanzipatorische sozial-ökologische Anliegen zentral sind. Im Kern bedeutet dies ein anderes Verständnis von individuellem und gesellschaftlichem Wohlstand.

Postwachstum als analytische und strategische Perspektive
Zunächst geht es vom Ansatz her nicht nur um die jährliche Zunahme von in Geld gemessenen Gütern und Dienstleistungen des Bruttosozialprodukts, sondern um den kapitalistisch angetriebenen, sich über das Profitprinzip manifestierenden Akkumulationszwang des Kapitals. Diese Eskalationslogik kapitalistischer Gesellschaften und insbesondere des industriell-fossilistischen Kapitalismus mit all ihren produktiven Anteilen, aber eben auch Verwerfungen, wurde unter anderem einige Jahre facettenreich im DFG-Kolleg Postwachstums-Gesellschaften an der Universität Jena erforscht (www.kolleg-postwachstum.de/). Da Kapital ein soziales Verhältnis beschreibt und gesellschaftliche Arbeit für die Produktion von Tausch- und Gebrauchswerten zentral ist, sind auch die Lohnabhängigen Teil dieser tendenziell expansiven oder sonst krisenhaften Konstellation. Dem Kapital geht es zuvorderst um Kontrolle und Ausbeutung von Arbeitskraft und Natur. Die sozialen Kämpfe der Lohnabhängigen fokussieren unter anderem Entlohnung und Arbeitsbedingungen, also die Ausgestaltung des Kapitalverhältnisses – weit weniger geht es um dessen Infragestellung. Zugespitzt: Kapitalistisches Wachstum und soziale Herrschaft sind zwei Seiten einer Medaille (Brand 2020, 109ff.)
Zweitens zeigen viele Beiträge zur Postwachstumsdebatte, dass „Wachstum“ keine neutrale Kategorie ist, die eine Zunahme von Wirtschaftsleistung mehr oder weniger neutral beschreibt. Vielmehr handelt es sich um eine tief verankerte Vorstellung (imaginary) der kapitalistischen Moderne, die ausgehend von den Zentren auf die ganze Welt übertragen wurde (vgl. Muraca 2014). „Mehr“ (bzw. „größer“) zu produzieren, zu konsumieren, zu haben, ist gesellschaftlich attraktiver als „besser“ oder „anders“ oder gar „weniger“. Auch die Vorstellung, dass alles effizienter und produktiver wird, hinterfragt die Postwachstumsperspektive. Das sollte so nicht sein, und: In einer Postwachstumsgesellschaft wird eher mehr gearbeitet als weniger. Entscheidend ist dabei, was, für was und unter welchen Bedingungen gearbeitet wird (vgl. Mair/Druckman/Jackson 2020); ich komme am Ende darauf zurück.
Drittens lautet eine Grundeinsicht der Postwachstumsperspektive: Die Zunahme von Effizienz und Produktivität in Produktions- und Arbeitsprozessen und bei der Nutzung biophysischer Inputs dafür ist nicht per se gut, sondern ambivalent. Die Zunahme an Effizienz und Produktivität unter Wachstumsbedingungen bedeutet nicht nur Stress und Arbeitsverdichtung, sondern auch zunehmenden Ressourcenverbrauch. Das häufig formulierte Ziel einer „Entkopplung“ von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch findet „relativ“ durchaus statt, das heißt, das monetär gemessene Wirtschaftswachstum nimmt stärker zu als der Ressourcenverbrauch. Doch die im Lichte der sozial-ökologischen Krise notwendige „absolute“ Entkopplung findet, wenn überhaupt, sehr langsam und in den Industrieländern unter anderem durch die Verlagerung ressourcenintensiver Produktionsschritte in andere Länder statt (vgl. die Auswertung von 835 Fachpublikationen zum Thema in Haberl et al. 2020). Zudem kommt es zu sogenannten Rückpralleffekten (rebound, vgl. Santarius 2015), indem nämlich die durch Effizienzgewinne eingesparten Kosten anderweitig eingesetzt werden. Das Auto oder der Flachbildschirm werden größer und kosten dasselbe wie ein kleineres Produkt fünf Jahre zuvor. Es bedarf also der absoluten Reduktion des Ressourcenverbrauchs, um die formulierten Null-Emissionsziele in den kommenden Jahren zu erreichen.
Die Fixierung auf Wachstum, Produktivität und Effizienz blendet zudem die Prinzipien der Konsistenz und Suffizienz aus. Konsistenz bedeutet eine anzustrebende Vereinbarkeit der gesellschaftlichen Techniksysteme mit natürlichen Reproduktionskreisläufen. In Anlehnung an Ivan Illich wird in der Postwachstumsdebatte der Begriff der „konvivialen Technik“ verwendet. Ein gutes Zusammenleben bedarf einer demokratischen Technikentwicklung: „Es geht um die Frage, welche Technik eingesetzt wird, wofür und wie viel davon – und wer das entscheidet.“ (Schmelzer/Vetter 2019, 194; vgl. auch Vetter 2023).
Eine Suffizienzperspektive bedeutet nicht nur, sich individuell und kollektiv zu fragen, „was genug ist“, sondern insbesondere die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen zu politisieren und zu fragen, warum eine Gesellschaft nie genug haben kann. Daraus leitet sich ein Verständnis von Suffizienz ab, wonach viele Menschen auch in wohlhabenden Gesellschaften prekär leben und auskömmliche individuelle wie kollektive Mittel zum Leben zur Verfügung haben sollten. Doch es geht eben auch darum, Gesellschaften so zu organisieren, dass viele Menschen nicht immer mehr haben müssen (von Winterfeld 2020). Entsprechend sollten postkapitalistische Vorstellungen aus den Erfordernissen eines tiefgreifenden sozial-ökologischen Umbaus und aus den bereits heute bestehenden Erfahrungen heraus gefördert und gesellschaftlich verankert werden (am Ende auch politisch, betrieblich etc.). Das ist ein Hauptanliegen von Postwachstum. Ein instruktives Beispiel ist die 2020 publizierte Vision 2048 des Leipziger Konzeptwerks Neue Ökonomie.
Viertens, und eng verbunden mit dem gerade genannten Aspekt, widersetzen sich Postwachstumsstrategien den neoklassisch-neoliberalen grünen Modernisierungsstrategien, die mittels vermeintlicher technologischer und Markteffizienz die ökologische Krise bearbeiten wollen. Aus den genannten Gründen müssen aber auch grün-keynesianische Wachstumsstrategien kritisiert werden, die soziale und Verteilungsaspekte berücksichtigen und „grüne“ Jobs schaffen wollen. Emblematische Beispiele für diese Strategien sind solche, die lediglich den Verbrennungsmotor von Pkws, Lkws und Motorrädern durch Elektromotoren ersetzen wollen. Hier argumentieren Postwachstumsstrategien, dass es einer viel weitreichenderen Wirtschafts- und insbesondere Industriepolitik bedarf (vgl. am konkreten Beispiel Wissen et al. 2020).
Neben der „Dekarbonisierung der industriellen Wertschöpfung“ (Urban 2019) geht es aus einer Postwachstumsperspektive zusätzlich um einen notwendigen Rückbau industrieller Versorgungssysteme insbesondere in den hochindustrialisierten Ländern (Paech 2014). Bei der industriellen Landwirtschaft mit ihren enormen energetischen Inputs und ökologischen Folgeerscheinungen mag das unmittelbar einleuchten. Dies betrifft jedoch auch die Kernsektoren industrieller Wertschöpfung in Ländern wie Deutschland, der Schweiz oder Österreich. Die damit einhergehenden, insbesondere beschäftigungspolitischen Dilemmata sind Ausgangspunkt sozial-ökologischer Arbeitspolitik. Umbau und Rückbau sollten demokratisch und unter Einbezug der Beschäftigten erfolgen. Hier treffen sich Postwachstumsperspektiven mit den in den Gewerkschaften vertretenen Perspektiven der Wirtschaftsdemokratie und den damit verbundenen Eingriffen in gesellschaftliche Macht- und wirtschaftliche Eigentumsverhältnisse (vgl. Urban 2019, 215ff.).
Sechstens wird – zumindest in Teilen der Postwachstumsdebatte – die globale Dimension des Wirtschaftswachstums in einem Land wie Deutschland hinterfragt. Die tief verankerten Bedingungen eines (ökologisch) ungleichen Tauschs (vgl. etwa Hornborg 2017), die mit der imperialen Produktions- und Lebensweise einhergehen, werden allzu oft in progressiven Analysen und Strategiedebatten ausgeblendet. Dies ist eine Aufgabe, die in den kommenden Jahren verstärkt bearbeitet werden muss. Insbesondere das unter globalen kapitalistischen Bedingungen tief verankerte und nicht von der Hand zu weisende Konkurrenzprinzip, das ja durchaus auch für Lohnabhängige ein materiell eher besseres oder eher desaströses Leben ermöglicht, müsste hinterfragt und verändert werden. Und es gilt, ein globales Wirtschaftssystem zu verändern, welches Hunderte Millionen Menschen zu schändlichen Löhnen in Weltmarktfabriken oder auf die Felder einer globalisierten Landwirtschaft zieht und ihnen individuell kaum Alternativen lässt – und den Volkswirtschaften auch nicht.
Ein eingängiges Wortspiel ist immer wieder im Postwachstumsspektrum zu vernehmen, das natürlich konkretisiert werden muss: Es gehe darum, in den materiell wohlhabenden Ländern „einfacher zu leben, damit Menschen in anderen Ländern einfach (über-)leben können“ (auf Englisch hört sich das besser an: „to live simple, so that others can simply live“). Dabei werden soziale Ungleichheiten nicht geleugnet, aber eben auch nicht als Argument gegen einen tiefgreifenden sozial-ökologischen Umbau verwendet.

Arbeiten in einer vom Wachstumszwang befreiten Gesellschaft
Diese Skizze führt zu einigen Anregungen für die Diskussionen um „Arbeit in der Transformation“. Die Postwachstumsperspektive ist unmittelbar kompatibel mit der Perspektive „gute Arbeit“, die sich als interessenpolitische Positionierung versteht, aber auch an Gebrauchswerten und der Naturverträglichkeit von Arbeit, Produktion und Produkten ausgerichtet ist (Urban 2019, 17ff.).
Ein sozial-ökologischer Umbauprozess von Wirtschaft und Gesellschaft, darin treffen sich gewerkschaftliche und Postwachstumsperspektiven ebenfalls, sollte den Zusammenhang von sich verschlechternden Arbeitsbedingungen und zunehmender Umweltzerstörung thematisieren. Der Transportsektor ist hier ein gutes Beispiel: Der stark zunehmende Gütertransport auf der Straße oder die Billig-Fluglinien sind nur deshalb konkurrenzfähig, weil sie schlechte Arbeitsbedingungen bieten.
Einige der oben genannten Punkte könnten Diskussionen anregen: Was bedeuten eine Abkehr von der Wachstumsfixierung und ein demokratisch verhandelter Umbau und Rückbau bestimmter Branchen für die dortigen Beschäftigten? Arbeitszeitverkürzung – mit Lohnausgleich für untere Einkommensgruppen – ist unmittelbar eingängig, und ich halte sie für zentral. Wenngleich es dann eine offene Frage ist, wie sozial und ökologisch verträglich die zunehmende freie Zeit verbracht wird – tendenziell für mehrere Städtereisen pro Jahr mit dem Flugzeug oder für Eigenarbeiten. Diese Frage muss nicht nur individuell beantwortet werden, sondern es kann über ein Verbot von Kurzstreckenflügen, Kerosinsteuern und einen Ausbau des Zugsystems durchaus politisch gegengesteuert werden. In einem für die Postwachstumsdiskussion wichtigen Überblicksaufsatz von Kallis et al. (2013) wurden zentrale Argumente für und gegen Arbeitszeitverkürzung zusammengefasst, die meines Erachtens auch heute noch gelten. Auch wenn Arbeitszeitverkürzung vor allem kurzfristig eine Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit sein kann, ist der Zugewinn an Lebensqualität für die Vollzeitbeschäftigten das wichtigste Resultat. Die ökologischen Folgen wiederum hängen zentral an den gesellschaftlichen Bedingungen und subjektiven Einstellungen, was konkret in der mehr verfügbaren Zeit gemacht wird.
Und auch die Forderung nach einer grundsätzlichen Arbeitsplatzgarantie, kombiniert mit Umschulungen für Tätigkeiten in anderen Branchen, ist eine sinnvolle Richtungsforderung. Blake Alcott (2013) argumentierte vor einigen Jahren, dass Erwerbsarbeit gerade in einer Postwachstumsgesellschaft nicht mehr eine rein wirtschaftliche Frage sein sollte, sondern ein politisches Recht bzw. eine Garantie für materielle gesellschaftliche Teilhabe. Die staatlich garantierte Kurzarbeit als Krisenmodus ist das in gewisser Weise auch. Das muss natürlich für einen Transformationsprozess anders gedacht und gemacht werden. Aber die Corona-Krise zeigt, dass bei entsprechendem politischen Willen der Staat durchaus stark in die Wirtschaft intervenieren kann. Warum sollte das nicht auch in Fragen von Konversion und Rückbau möglich sein und mit einem politisch verbrieften Recht auf auskömmliche Erwerbsarbeit verbunden werden?
Es wäre zu überlegen, inwiefern ein Ausbau der Daseinsvorsorge und sozialer Infrastrukturen mit guter Qualität und zu geringeren Preisen zunehmend ein auskömmliches Leben mit weniger individuellem Einkommen ermöglicht. Damit meine ich nicht jene Menschen mit geringem Einkommen, und mir ist auch klar, dass unter den gegebenen Kräfteverhältnissen geringere Einkommen von der Kapitalseite begrüßt werden. Aber in einem Prozess der Zurückdrängung von Kapitalmacht und profitorientierter Investitionen, auch was die Bedeutung individueller Einkommen und den gleichzeitigen Ausbau der Daseinsvorsorge betrifft, wäre das eine wichtige, im Detail auszuformulierende Forderung.
Dabei ist nicht zu vergessen: Die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung ist auch eine Geschichte des Kampfs um eine funktionierende Alltagsökonomie, und darin spielt der öffentliche Sektor eine starke Rolle, der sinnvollerweise demokratisch und transparent organisiert sein sollte.
Eine Postwachstumsperspektive und hier insbesondere feministische Strömungen plädieren für ganz andere Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung: innerhalb der Erwerbsarbeit, zwischen Erwerbsarbeit und nicht-bezahlten Arbeiten, zwischen den Geschlechtern, im internationalen Rahmen. Im Zentrum steht das Prinzip des Sorgens um sich selbst, um Mitmenschen, um Gesellschaft und um die Natur. Eine der Protagonistinnen der Environmental Labour Studiesearthcare labour vor, also Tätigkeiten, die sich um die Erde und das Leben kümmern, um eben die vielfältigen Arbeiten des immer prekäreren Lebens und seiner Reproduktion in den Blick zu bekommen. In der Corona-Krise wird genau diese Prekarität des Lebens, wenn es nicht angemessen umsorgt ist, besonders deutlich.
In diesem Sinne plädieren Simon Mair, Angela Druckman und Tim Jackson (2020) für ein ganz anderes Verständnis von Arbeit in einer Postwachstumsgesellschaft. Eine solche sei weniger produktiv und erfordere mehr bezahlte und unbezahlte Arbeit. Doch das kann von den tätigen Menschen durchaus als positiv empfunden werden, wenn die Bedingungen der Arbeit als gut und die Arbeitsteilung als gerecht empfunden werden. Die enge Verbindung von Erwerbsarbeit, der Produktion von Tauschwerten und individuellem Konsum sollte künftig weniger Bedeutung haben, sondern Arbeiten sollte sozial und materiell abgesichert sein bzw. viel stärker als Beitrag zu einer guten Gesellschaft verstanden werden. Lohnarbeit wird es weiterhin geben, doch Sinn und Zweck sind andere – das würde auch die Bedingungen für die Auseinandersetzungen um gute Erwerbsarbeit deutlich verbessern.

Ausblick
In der Corona-Krise wurden kaum die Ursachen der Pandemie diskutiert – nämlich die deutlich gestörten gesellschaftlichen Naturverhältnisse in Form von Monokulturen und der Zerstörung der biologischen Vielfalt, die wiederum eng mit dem kapitalistischen Wachstumsimperativ verbunden sind. Diese Zusammenhänge sollten aus kritischer Perspektive thematisiert und politisch in breiten Bündnissen angegangen werden. Postwachstum als analytische und politische Perspektive ist ein wichtiger Bestandteil emanzipatorischer sozial-ökologischer Transformationen. Am Bereich der Arbeit und im Hinblick auf die Interessen von Beschäftigten und Gewerkschaften habe ich angedeutet, wie umfassend diese Prozesse sind und dass dafür breite Bündnisse notwendig sind.

1 Schmelzer und Vetter skizzieren sieben Stränge der Wachstumskritik, die in einen produktiven Austausch gebracht werden sollten: ökologische Kritik (Stichworte etwa planetare Grenzen und Klimakrise), sozial-ökonomische Kritik (Stichworte sind Keynes’ Verständnis von Bedürfnissen und Konsumkritik), kulturelle Kritik (Stichwort Entfremdung) und feministische Kritik (Stichwort Bedeutung reproduktiver Arbeit) sowie Kritiken mit Fokus auf Kapitalismus (Stichworte Akkumulation und Ausbeutung), auf Industrialismus (Stichwort Technik als Wachstumstreiber) und auf Nord-Süd-Verhältnisse (Stichworte imperiale Lebensweise und „Entwicklung“ als Machtverhältnis).

Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht vom Schweizer Denknetz in deren Jahrbuch mit dem Titel Postwachstum? Aktuelle Auseinandersetzungen um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel (Zürich, edition 8, 2022).

 

 

Literatur

Alcott, Blake (2013): Should degrowth embrace the Job Guarantee?, in: Journal of Cleaner Production 38, S. 56–60.
Barca, Stefania (2020): Forces of Reproduction. Notes for a Counter-Hegemonic Anthropocene. Cambridge.
Brand, Ulrich (2020): Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks und Alternativen zur imperialen Lebensweise. Mit einem Beitrag zur Corona-Krise. Hamburg.
Brand, Ulrich (2016): „Transformation“ as New Critical Orthodoxy. The Strategic Use of the Term „Transformation“ Does Not Prevent Multiple Crisis., in: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society 25 (1), 23–27.
Brand, Ulrich et al. (2021): From Planetary to Societal Boundaries: An argument for collectively defined self-limitation., in: Sustainability. Science, Practice and Policy, Vol. 17, Issue 1.
Brie, Michael (Hg., 2014): Futuring. Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus. Münster.
Haberl, Helmut et al. (2020): A systematic review of the evidence on decoupling of GDP, resource use and GHG emissions, part II: synthesizing the insights, in: Environmental Research Letters, 15.
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Muraca, Barbara (2014): Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums. Berlin.
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Paech, Niko (2014): Postwachstumsökonomie als Abkehr von der organisierten Verantwortungslosigkeit des Industriesystems, in: Pfaller, Robert/Kufeld, Klaus (Hg.): Arkadien oder Dschungelcamp. Leben im Einklang oder Kampf mit der Natur. Freiburg/München, 217–247.
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