Heft 3/2022 - Netzteil
Mithilfe von Videospiel-Software schafft der Medienkünstler, Filmemacher und Musiker Lawrence Lek Filme und Animationen, die sich der Zukunft unserer Zivilisation widmen. Als Ausgangspunkt fungieren dabei meist sozioökonomische und politische Entwicklungen sowie deren potenzielle Auswirkung auf unser künftiges Leben. Dank seines Architekturstudiums in Cambridge und New York erlernte Lek (geb. 1982 in Frankfurt) den Umgang mit 3D-Software und das Erbauen von virtuellen Welten, wobei Letzteres essenziell für seine künstlerischen Werdegang ist. Im Gespräch mit dem Autor erzählt Lek von seinem neuesten Werk Nepenthe Valley. Hier verwendet er NFTs als erste Stufe einer mehrteiligen Werkpräsentation, um den Themenbereichen „Heilung“ und „Regeneration“, die in Form von Zaubersprüchen und Heiltränken eine grundlegende Komponente vieler Videospiele darstellen, einen realen Wert abzugewinnen. Auf diese Weise versucht er, mentale Gesundheit und Meditation in einer virtuellen Welt erfahrbar zu machen.
Mit dem steten Fortschritt der von Lek verwendeten Technologien erweitert sich auch der Rahmen, innerhalb dessen sich seine Kunst bewegt. Durch das wachsende Verständnis für Videospiele und interaktive Medienkunst aufseiten der User*innen steigen aber auch die Anforderung an das Medium. Trotzdem gelingt es Lek, mithilfe verbesserter virtueller Simulationen die Funktion digitaler Räume auf ein neues Niveau zu heben.
Nepenthe Valley wurde im März 2022 in einer ersten Version auf der Art Dubai gezeigt. Der inhaltliche Fokus liegt auf Erholung und Reflexion im digitalen Raum. Angelehnt an Landschaftsmalerei, Fantasy und Sci-Fi-Ästhetik kreiert Lek futuristische und doch irgendwie antik anmutende Ruinen, die in einer satten grünen Landschaft keinem anderen Zweck dienen, als betrachtet zu werden. In der finalen Version, die derzeit als NFT vorliegt, zukünftig aber auch in Form eines Videospiels als begehbare Welt erkundet werden kann, sollen Besucher*innen durch kontemplative Interaktion mit Natur und Architektur der fiktionalen Welt eine Form der Erholung und Heilung erleben. „Die Mechanik von Videospielen basiert auf Leben und Gesundheit und Regeneration. Diese universellen Themen sowie Aspekte wie mentale Gesundheit oder psychologische Verfassung spiegeln sich in Videospielwelten wider. In der ersten Phase von Nepenthe Valley wollte ich diese Themen in kondensierter Form ansprechen“, so Lek. Die Besucher*innen finden talabwärts entlang eines Flusses besondere Orte wie eine Quelle oder einen Schrein. Die Idee des romantischen zentraleuropäischen Wanderers bzw. das Erklimmen eines Gipfels werden subversiv verkehrt und in ein bedächtiges Abwärtsschreiten uminterpretiert – es geht um die Vereinigung mit der Natur und nicht um die Herrschaft über sie. Der Titel des Werks ist an eine Medizin aus der griechischen Mythologie angelehnt, die Sorgen und Leid vergessen lässt. Inspiriert vom Gedanken der Regeneration in Videospielen soll Nepenthe Valley eine reale Form der Heilung darstellen, die zwar durch ein Spiel bzw. eine virtuelle Welt entsteht, deren Wirkung jedoch auch im „echten“ Leben erfahren werden kann.
Erholung in der Natur und das Wiederentdecken unserer Umgebung sind heute so relevant wie während der ersten Welle der romantischen (zentraleuropäischen) Idee des Wanderers, der sich in der Natur verliert und dadurch der zunehmend industriell bzw. urban geprägten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entflieht. In dieser malerisch-meditativen Sphäre verbirgt sich jedoch eine weitere Thematik, mit der sich Lek in verschiedenen Aspekten des Werks auseinandersetzt. Er spricht davon, dass „die Herrschaft über die Natur durch Technologie mit einem Drang nach dem Sich-Verlieren in der Natur einhergeht“. Diese Sehnsucht stellt er dem Erkunden des Globus und der Kolonialisierung nicht-europäischer Länder gegenüber. In der Landschaft verteilt stehen Ruinen, die auf eine antike Gesellschaft bzw. eine reichhaltige Geschichte dieser fiktiven Welt schließen lassen. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass die Ruinen zugleich antik wie auch futuristisch erscheinen. „In Fantasy-Spielen verbergen sich oft erfundene Historien, wie sie besonders in den vergangenen Jahren in unseren Medien aufgetaucht sind“, so Lek. Als Anspielung auf fiktive Geschichten deuten diese Ruinen auch fiktive Nachrichten und manipulierte Informationen im digitalen Raum an. Was als Fakt im Internet präsentiert und wahrgenommen wird, kann sich bei genauerer Betrachtung als frei erfunden entpuppen.
In Verbindung mit der Musik, die ebenfalls an RPG-Spiele (Role Playing Games) und Fantasy-Filme gepaart mit Meditationsklängen erinnert, bieten die NFTs eine Vielfalt an Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten, die weit über die Zweidimensionalität und Oberflächlichkeit populärer Versionen dieses neuen Mediums hinausgehen und somit als „High Art“-NFTs eine eigene Kategorie für sich beanspruchen. Durch die digitale Distribution seines Werks sieht Lek eine Chance für die demokratische Aufnahme seiner Kunst. Im Hinblick auf die Kontrolle, die der Künstler über die Spieler*innen erlangt, spricht Lek über die digitale Kunst als ein für ein breites Publikum zugängliches Medium. Das Verständnis des digitalen Raums als einem vertrauten Ort entspricht einer Neuinterpretation der sogenannten Non-Places von Marc Augé. Dies sind Räume ohne genügend Signifikanz, um als tatsächliche Orte im anthropologischen Sinne verstanden zu werden. Vielmehr können sich Menschen darin anonym bewegen. Diese Selbstverständlichkeit hat sich im vergangenen Jahrzehnt besonders beim jüngeren Publikum herausgebildet, wodurch es möglich wird, dass nun auch intime Themen wie Regenerierung und Heilung im virtuellen Raum verhandelt werden können.
Mit der digitalen Verbreitung seiner Werke geht für Lek auch ein Wandel weg von der Kontrolle über eine kleinere hin zu einer größeren Betrachter*innengruppe einher, da nun ein breiteres Publikum erreicht werden kann, die Interaktion mit dem Werk jedoch nur begrenzt steuerbar ist. Während Werke wie Notel, das 2019 auf der Art Basel präsentiert wurde, stark von der Autorität des Künstlers, der Galerie und der Messe bestimmt wurden, sind das Erleben des und die Interaktion mit digitalen Werken außerhalb des physischen Ausstellungsraums nicht unmittelbar vorgegeben. Leks Arbeit entfaltet sich erst im kollaborativen Prozess der beteiligten Plattformen einschließlich des Publikums, der Eigentümer*innen der NFTs sowie der Kurator*innen, wodurch sich die Distribution und die Konstruktion des Werks miteinander verbinden. Als Teil des Entstehungsprozesses will Lek sich weiter mit der Erwartungshaltung und Spekulation des Publikums im Hinblick auf mögliche Formen, die das Werk annehmen kann, auseinandersetzen.
Mittlerweile hat sich ein breiteres Verständnis für digitale Kunst und Videospiele als Kunst etabliert. Befeuert wird dies durch die gegenwärtige Popularität von NFTs. Dies erlaubt es Lawrence Lek, hin zu einer freieren Form des Erzählens und Weltenbildens voranzuschreiten. Nach zehn Jahren kontinuierlicher künstlerischer Produktion kann Nepenthe Valley mit seiner mehrstufigen Entwicklung nicht nur als ein Schritt hin zu neuen Distributionsformen gesehen werden. Vielmehr vermittelt die Arbeit ein subtiles und delikates Freitasten, weg von einer dirigierenden und hin zu einer spielerischen Position des Künstlers.
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