Venedig. Neben der Hektik um die erste Post-Covid-Biennale wirkt der Punta della Dogana wie eine Oase der Ruhe, in der Bruce Naumans Werk im neuen Glanz erstrahlt. In Contraposto Studies wurden von den Kurator*innen Caroline Bourgeois und Carlos Basualdo neben frühen Werken des amerikanischen Künstlers auch neue Werke gezeigt, in denen Nauman insbesondere die Beziehung zu seinem Studio und seiner Tätigkeit als Künstler thematisiert. Seit Mitte der 1960er-Jahre hat der Künstler ein Werk geschaffen, das Skulpturen, Filme, Hologramme, interaktive Umgebungen, Neonwandreliefs, Fotografien, Drucke, Skulpturen, Videobänder und Performances umfasst.
Im Zentrum der Ausstellung steht auch ihr Titel – Contraposto bzw. der Kontrapost –, eines der grundlegendsten Stilmittel in der Bildhauerei, das als frühester Fund bei einer griechischen Statue von 480 vor Christus entdeckt wurde. Der Begriff bezieht sich auf die Pose eines stehenden menschlichen Körpers, dessen Gewicht auf einem einzigen Bein, dem Standbein, ruht, wodurch im Gegensatz zur Steifheit in der archaischen griechischen Skulptur eine dynamische Pose geschaffen wird. Der Kontrapost wurde zur Grundpose der Skulptur der Renaissance und der instabile Stand beeinflusst bis heute die kompositorische Herangehensweise von Künstler*innen in Malerei, Skulptur, Fotografie, Film und Video. Nauman bedient sich seit den 1960er-Jahren der Pose und die Ausstellung beginnt direkt mit einer Arbeit, die darauf Bezug nimmt.
Mit der Installation Contrapposto Studies, I bis VII (2015/16) greift Nauman ein früheres Werk wieder auf, den Film Walk with Contrapposto (1968). Die neuen technischen Möglichkeiten verleiteten Nauman zur Wiederaufnahme des Themas, da ein komplexes Zusammenspiel aus Bild und Sound möglich gemacht wurde, für das der Künstler in den 1960er-Jahren weder die finanziellen noch die technischen Voraussetzungen hatte. Wie bereits 50 Jahre zuvor geht er, in Jeans und weißem T-Shirt gekleidet, eine gerade Linie entlang, die Hände am Hinterkopf, wobei er mit jedem Schritt erneut die Haltung des Kontraposts einnimmt. Im Unterschied zum früheren Film unternimmt er eine Umkehrung des Verhältnisses zwischen Figur und Hintergrund. Während sich sein Körper im Film von 1968 kontinuierlich vor der weißen Wand entlang bewegt, bewegt er sich hier scheinbar nicht von der Stelle. Der Hintergrund scheint lediglich auf und ab zu wippen. Dieser Effekt wird erzeugt, indem die Bilder segmentiert und vor einen ebenen Grund gesetzt werden, bevor die Videocollage auf sieben großflächigen Projektionen gezeigt wird. Der Maßstab der Projektion unterstreicht die Monumentalität der Figur und die Bezüge zur klassischen Bildhauerei. Die Anzahl sieben spielt dabei auf die Vorstellung des ideal proportionierten Körpers in sieben Teilen an, wobei der Protagonist dieser Arbeit einen alternden und keinesfalls perfekten Körper repräsentiert. Sein Körper wird aus verschiedenen Perspektiven gezeigt, sodass seine physischen Schwierigkeiten, die Posen einzunehmen, unverkennbar von allen Seiten sichtbar sind. Durch die Wiederaufnahme des frühen Bildmotivs wird die Entwicklung des jungen agilen Künstlers hin zu einem alternden Menschen dokumentiert; ein Realismus, der bezeichnend ist für Nauman, der sein Publikum und sich selbst konsequent mit der Realität konfrontiert.
Ein Durchgangsraum des Palazzos ist mit Monitoren auf weißen Sockeln übersät, die die frühen Filme des Künstlers in seinem Studio zeigen, darunter Walk with Contrapposto. Die unnatürliche Haltung des Kontraposts, die eine Verrenkung des Körpers aus rein ästhetischen Gründen verlangt, steht sinnbildlich für einen Zugang zur Kunst, den Nauman in seinem Werk entschieden ablehnt. In seinem frühen Schwarz-Weiß-Film Bouncing in the Corner von 1968 ordnet sich nicht der Körper dem Geistigen oder der ästhetischen Erfahrung unter, sondern die Betrachter*innen werden mit einer radikalen körperlichen Erfahrung konfrontiert, die sich in seinen Arbeiten bis heute absichtlich den konventionell ästhetischen Ausdrucksformen widersetzen. Der Künstler filmt sich von oben, wie er seinen ganzen Körper wieder und wieder gegen die Ecke des Raums fallen lässt. Die 60-minütige Länge des Videos intensiviert die körperliche Erfahrung, die Nauman den Betrachter*innen kommuniziert. Im Film Stamping in the Studio (1968) führt Nauman über 60 Minuten eine Choreografie einer immer komplexer werdenden Schrittperformance auf. Eine Performance, mit der erneut die physischen Grenzen des Künstlers dokumentiert werden und die sich entschieden entschleunigend gegen die Schnelllebigkeit von heute stellt. Eine Arbeit, die die Kontemplation der Betrachter*innen entgegen der achtsekündigen Aufmerksamkeitsspanne sozialer Medien verlangt, um den tranceartigen Zustand des Künstlers nachempfinden zu können.
Für einige Besucher*innen womöglich unerwartete Arbeiten sind Naumans 3D-Videos bzw. interaktive Installationen, für die die Betrachter*innen mit einer 3D-Brille ausgestattet werden. In Contraposto Split (2017) und Walking a Line (2019) kommt er erneut auf Themen zurück, die sein künstlerisches Interesse geprägt haben: das Atelier als Ort des Schaffens, der Körper und die Schärfung der visuellen und körperlichen Wahrnehmung. Nauman bewegt sich auf einer geraden Linie in seinem Atelier, wobei durch den 3D-Effekt die Wirkung hervorgerufen wird, als befänden sich die Betrachter*innen selbst in seinem Studio. Stechend scharf sind die Fotos und Skizzen an der Wand, der umgedrehte Hammer und das Kabeldurcheinander am Boden. Durch die 3D-Version wirkt es, als öffne sich der Ausstellungsraum zu seinem Studio, da die Arbeit alle Details dieser Umgebung transportiert. Die Leinwand wurde in der Mitte geteilt und zwei unterschiedliche Aufnahmen der Szene kombiniert, sodass sich der Unter- und Oberkörper jeweils losgelöst voneinander bewegen. Es entsteht der Eindruck einer verdrehten menschlichen Gliederpuppe. Diese unnatürliche Körperlichkeit unterstreicht nochmals den Prozess des Alterns, in dem sich Nauman unaufhaltsam befindet und den er unmissverständlich zur Schau stellt.
In den hallenartigen Räumen des Punta della Dogana mit den freigelegten Ziegelwänden, dem offenen hölzernen Dachstuhl, dem Einsatz von Sichtbeton, Glas und edlem Holz wirkt es wie natürlich, dass Naumans Werk zu einem ästhetischen Erlebnis wird. Bei genauerer Betrachtung der Ausstellung wird jedoch deutlich, dass die Kurator*innen sehr gezielt mit den räumlichen Möglichkeiten gearbeitet haben, um eine Ausstellung zu produzieren, die sich einerseits den Besucher*innen öffnet und andererseits immer wieder intime Momente und spontane Entdeckungen in den offenen und gleichzeitig verschachtelten Räumen schafft.
So überrascht ein Turmzimmer, in dem eine unglaubliche Sicht auf den Canale Grande und die gegenüberliegenden Inseln geworfen werden kann, mit der Soundinstallation For Children (2010), in der Nauman ständig die Worte For Children wiederholt. Die Arbeit reflektiert die Wichtigkeit des Umgangs mit Kindern und damit unserer Zukunft wie auch die Dringlichkeit des ewigen Kindseins verdeutlicht wird, das die Fähigkeit zu spielen, zu lernen und stets an seine physischen und geistigen Grenzen zu stoßen, niemals aufgibt. Zwischen den vielen Film- und Videoarbeiten finden sich auch raumgreifende Installationen wie Diagonal Sound Wall (Accoustic Wall), ein Nachbau von 1970, und Accoustic Wedge (Mirrored) (2020), eine Neuproduktion der Ausstellung. Beide Installationen absorbieren Geräusche durch die verwendeten Materialien. Bewegt man sich innerhalb der Installation und erzeugt Geräusche, wird ein Gefühl der Orientierungslosigkeit erzeugt. Die Besucher*innen verlieren das Gleichgewicht und müssen Wege finden, dieses wiederherzustellen.
Die Ausstellung macht deutlich, dass Nauman mit einer breiten Palette von Materialien und Methoden arbeitet, und demonstriert die Unsicherheit einiger unserer Vorstellungen über Zeit, Raum und Sprache. In seinen Performances enthüllt er die grundlegendsten Prämissen der menschlichen Existenz, die auf Konventionen und Systemen gründen, indem er diese umdreht. In Naumans Augen muss Kunst keine Masse an Informationen liefern, sondern fähig sein, mit den Menschen zu kommunizieren, um eine individuelle Erfahrung zu schaffen. Oftmals rufen seine Performances ein Gefühl des Unbehagens hervor und fordern uns dazu heraus, ständig wachsam zu sein, wie auch sie eine Verbindung zwischen unserer Vernunft und unserem Körper schaffen. Nauman macht immer wieder aufs Neue deutlich, dass wir uns nicht ständig wie im Kontrapost verrenken sollten, indem wir unsere Körper der Vernunft und damit auch uns selbst gesellschaftlichen Normen unterordnen. Wie Kinder sollten wir nie damit aufhören, auf unsere Gefühle und unseren Körper zu hören, um Regeln und Konventionen zu hinterfragen, und uns vor allem zu trauen, diesen auch zu widersprechen.