Graz. Der Titel des steirischen herbsts ’22 wurde bereits im letzten Jahr beschlossen, sodass man nicht weitere Gedanken verschwenden muss, warum der russische Angriffskrieg in der Ukraine als Krieg in der Ferne bezeichnet wird, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Jedenfalls ist diese exzellente Ausstellung Ein Krieg in der Ferne. Prolog. Die umkämpfte Ukraine in Videokunst und Film, kuratiert von Mirela Baciak und David Riff, als Prolog zur Hauptausstellung des steirischen herbsts 2022 gedacht. Die Schau versammelt sieben Positionen, allesamt Videoarbeiten, und ist großzügig und präzise präsentiert, auch der Parcours und die informativen Kurztexte verdienen dieses Attribut.
Den Auftakt der Ausstellung bilden Bilder aus dem Film Arsenal (1928) des ukrainisch-sowjetischen Drehbuchautors, Filmproduzenten und Regisseurs Oleksandr Dovzhenko (1894–1956), der als einer der Pioniere des sowjetischen Kinos gilt. Eindrucksvoll lässt sich die Geschichte der Kyjiwer Arsenalwerkrevolte (1918) verfolgen, womit der Regisseur in die ideologischen Fronten zwischen ukrainischem Nationalismus und Bolschewismus gelangt war. Die erste Episode des Films zeigt Auswirkungen des Ersten Weltkriegs in Galizien und der Ukraine, unter anderem die berühmt gewordene Szene eines Gasangriffs auf einen Soldaten, dessen Qualen seltsame und unheimliche Reaktionen wie scheinbare Lachanfälle hervorrufen. Die Episoden dieses historischen Filmdokuments muten sehr aktuell an: die Darstellung der Auswirkungen der Hungersnöte, Gewalt in Form von sexuellen Übergriffen und Folter und das Schlachten. Dass diese starken historischen Bilder den Hintergrund für das aktuelle Geschehen in der Ukraine bilden, macht den Eintritt in die Ausstellung nicht leichter.
Die aus Melitopol stammende Künstlerin Dana Kavelina richtet mit ihrem Video Letter to a Turtledove (2020), das ursprünglich als Hörspiel konzipiert werden sollte, an die Frauen in den besetzten Gebieten eine bedrohliche Botschaft in nahezu religiösen „Tönen von Zerstörung und Erlösung“ (Kavelina). Die Künstlerin betrachtet Kriege aus der Perspektive von Vergewaltigungen. Stellvertretend wird im Video diese Leerstelle von ihrer Freundin und Muse dargestellt. „Sie ist eine Puppe, an der Verletzungen gezeigt werden können, oder besser gesagt, eine Puppe, die beschlossen hat, an sich selbst Verletzungen zu zeigen – als warnende Geste“, so die Künstlerin. „Am Ende könnte Katerina du sein oder wir oder ich.“ Diese Szenen werden von Animationen und Grafiken überlagert, die einen surrealistischen Impetus („Lippen und Gebeine vermischen sich“, aufgemalte Augen auf geschlossene Lider) haben, sowie von Archivmaterial und Found Footage aus dem anonymen fünfstündigen Dokumentarfilm To Watch the War (2018). Dieser stammt aus den Jahren des Kriegs nach der Annexion der Krim und der Gründung separatistischer „Republiken“ im Donbass im Jahr 2014.
Lange bevor der Faschismus eine politische Kraft wurde, war er ein kulturelles Phänomen. Davon zeugt Mykola Ridnyis Bildessay, das er während seines Romaufenthalts in der Villa Massimo recherchiert hat. Er hat ein Netz an Verbindungen über kulturelle und politische Phänomene zwischen Italien und der Ukraine hergestellt und veranschaulicht die ideologische Komplexität dieses Themas in seinem Film Temerari (2021). In der ukrainischen rechtsextremen Szene finden sich Anhänger*innen des italienischen Faschismus und Futurismus, zum Beispiel ein ukrainischer Verlag für die Übersetzung der Schriften Marinettis, einem der Ideologen des Futurismus, der Krieg „als avantgardistisches Todesfest imaginiert und ihm reinigende Wirkung“ zugeschrieben hat.
In Ridnyis collageartiger Filmerzählung kommen Beispiele aus der rationalen Architektur wie das Postamt an der Piazza Bologna in Rom vor, das in den 1970ern ein Sammelplatz der italienischen Neofaschist*innen war und hier als Hintergrund für die Akklamation zweier Museumsleute dient, die die italienische rechtsextreme Szene mit ihren Verbindungen zur Ukraine namentlich vorstellen und somit rechte Politik gegen ihre eigenen Rhetoriken als transnationales Netzwerk sichtbar macht.
Von der ersten Stunde des Kriegs an hat die ukrainische Zivilgesellschaft Kriegsvorgänge auf ihren Handys gefilmt und auf Telegram veröffentlicht. Bis zum 10. Mai war das möglich, dann wurde die Veröffentlichung der Kriegsbilder aus militärstrategischen Gründen untersagt. Diese Clips aus der ganzen Ukraine wurden vom anonymen Videoarchiv Proof of War gesammelt und werden in der Ausstellung auf einem Handy, das man nur im Stehen gut sehen kann, gezeigt, was die Ausdauer des Ansehens bewusst anstrengender macht.
Eine ausgelassene Silvesterfeier um die Jahrtausendwende in Riga zeigt das achtminütige Video von Philip Sotnychenko, Happy New Year (2018), gleichsam als Kontrapunkt, ebenfalls Found Footage, in welchem das Feuerwerk und die Explosionen noch andere Hoffnungen an die Zukunft evozierten.
Für die aus Mariupol stammende Fotografin und Filmerin Zoya Laktionova ist die postsowjetische Stadt mit ihren beiden Stahlwerken am Asowschen Meer das Herzstück ihrer Filme. In Diorama (2018) beklagt sie mit bestechenden Bildern die nicht mehr vorhandene Artenvielfalt am Meer, die nur mehr als Erinnerung in den Erzählungen und der Stimme ihrer verstorbenen Mutter vernommen werden kann. Territory of Empty Windows (2020) ist ebenfalls eng mit der Biografie Laktionovas Familie verknüpft, es ist eine bruchstückhafte Familiengeschichte. Die Familie arbeitete im riesigen Hüttenwerk von Asow Stahl. Das Asow’sche Werk wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wieder aufgebaut. Nun liegt dieses wieder in Schutt und Asche, und der 2020 fertiggestellte Film stellt ein Epitaph und Zeugnis auf die symbolische und wirtschaftliche Bedeutung dieser riesigen wie eine Stadt aufgebauten Industrieanlage dar.
Den Abschluss der Ausstellung bildet eine Dokumentation des moldawischen Künstlers Pavel Braila, der als Freiwilliger an der moldawisch-ukrainischen Grenze arbeitet und dort ein berührendes Filmporträt Vera Means Belief gedreht hat: Vera, eine aus der Ostukraine geflüchtete ukrainische Pensionistin, die sich seit Monaten standhaft wehrt, das Lager gegen bessere Bedingungen zu verlassen, da sie so nah wie möglich an ihrer Heimat sein möchte. Braila stellt Vera über ihre Beziehungen zu den Menschen im Lager und zu ihrer Familie übers Handy dar sowie über ihre Gedichte, die sie in der ukrainisch-russischen Mischsprache Surschyk schreibt.
„Sechs Kriegsmonate, sie scheinen in die Haut eingewachsen, ins Auge gefressen, sie geben allem eine ganz andere Farbe, ein ganz anderes Gewicht.“ Die Schau belegt diese Bemerkung des Charkiver Autors Serhij Zhadan nachhaltig.