Den zentralen Gegenstand dieser Präsentation von über 70 Künstler*innen mit teilweise mehreren Arbeiten und Installationen bilden die Machtverhältnisse, die der Dekolonisierung der Welt nach wie vor entgegenstehen. Sie haben sich in alle möglichen Strukturen eingeschrieben, und es kommt darauf an, sie freizulegen und einer zerstreuten Öffentlichkeit bewusst zu machen, der viele Informationen nicht nur vorenthalten werden, sondern die auch selbst kulturell und imaginär in die Kämpfe um Souveränität verstrickt ist.
Wenn die Recherchen von Forensic Architecture schon mit der Präzision der Analysen von Materialien aus verschiedenen Quellen und ihrer audiovisuellen Aufbereitung bestechen, kommen bei den vielen mit lokalen Verhältnissen enger vertrauten Künstler*innen dann noch eindringlichere Stimmungsbilder hinzu. Ammar Bouras etwa verbindet beides zu einer vielstimmigen Videocollage über die französischen Atombombentests in der algerischen Sahara und ihre nachhaltige Verdrängung. Imani Jacqueline Brown rekonstruiert die kulturelle und ökologische Verwüstung, die in Louisiana durch die Ölgewinnung – von der Erschließung Tausender Quellen bis zur industriellen Produktion der verschiedenen Brennstoffe – stattfindet.
In historischer Perspektive erinnert Sammy Baloij als indirekt Betroffener an jene Schwarzen Freiwilligen, die im Ersten Weltkrieg in der belgischen Armee kämpften; einer von ihnen landete in einem Gefängnis in Münster und wurde als Exemplar einer fremden „Rasse“ zum Gegenstand anthropologischer Erfassung. Diese umfasste auch Aufnahmen mit Sprech- und Gesangsproben und Baloij spielt sie nun neben „exotischen“ Pflanzen als analoges Objekt kolonialer Extraktion ab.
Beinahe unmöglich ist es, Archivmaterial zu den massenhaften Vergewaltigungen zu finden, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland stattgefunden haben. Ariella Aïsha Azoulay versammelt in bild- und archivkritischer Recherche nicht nur Materialien zu diesem unterschlagenen Akt. Für die nicht-existenten Bilder schreibt sie erläuternde Hinweise unter schwarze Rechtecke, um das Recht auf Wahrnehmung eines Verbrechens geltend zu machen, das ihrer Ansicht nach mit der Durchsetzung vieler heutiger Demokratien ursächlich verbunden ist, während deren Opfern bis heute das Recht auf Beachtung verwehrt wird.
Solchen um Objektivität ringenden Darstellungen stehen die stärker subjektiv gefärbten gegenüber, die traumatische Verletzungen introspektiv zu verarbeiten, sie im Imaginären zu verwinden oder zu lösen versuchen. Amal Kenawy ist durch mehrere Konvolute von Zeichnungen und Fotocollagen vertreten, die skizzierte Wunden und leidende Körper zeigen. Und wenn es der erste Schritt ist, verdrängte Erfahrungen von Gewalt wieder hervorzuholen, dann könnte es das Ziel des Videos von Maithu Bùi sein, einen Schritt weiterzugehen. Sie illustriert die (vorgelesene) Schilderung der Erlebnisse eines Kindes, dessen vietnamesische Familie in der Rostocker Pogromnacht beinahe ums Leben kam, mit 3D-animierten virtuellen Pflanzen als bizarr-eigensinnigem Versuch, Lebensenergie aus Produkten der Fantasie zu gewinnen. In zweifelsfreier Entschiedenheit setzt Mónica de Miranda eine fiktive angolanische Freiheitskämpferin filmisch beeindruckend in Szene, die allein in einem Boot den Dschungel durchquert. Der Fluss Kwanza, dem die poetisch verklärte Story folgt, bildete im Angola-Krieg eine wichtige Route, auf der sich tatsächlich zahlreiche Kämpfer*innen bewegten, für die Freiheit und der Schutz der Natur zusammengehörten.
Taloi Havinis spiralförmige Aneinanderreihung von Keramikperlen verleihen melanesischem Muschelgeld eine Aura, um damit die Vorzüge tauschbasierter Kulturen zu würdigen. Vergleichbar lässt sich die skurrile Sammlung banaler Alltagsobjekte, die der Onkel von Khandakar Ohida während ihrer Kindheit angelegt hat und die sie später in ein paar Metallkisten entdeckte, als rückwirkende Bejahung abgewerteter oder ausgeschlossener Objekte verstehen, als Ritual zweckfreier Akzeptanz. Aber sie könnten auch jenen verklärt-distanzierten Blick affirmieren, der die Logik der kolonialen Enteignung bestätigt.
Von der Art, wie Deneth Piumakshi Veda Arachchige und Mayuri Chari je auf ihre Weise weibliche Nacktheit thematisieren, kann man das so nicht behaupten. Letztere erkennt in der Tabuisierung weiblicher Nacktheit in Indien ein Relikt viktorianischer Dogmen und antwortet darauf mit gestickten lebensgroßen Zeichnungen einer nackten Frau, die auch dem Schlankheitsdogma nicht entspricht. Die andere ist mit einer ebenfalls lebensgroßen Replik ihres eigenen Körpers vertreten, die in ihren Händen einen Schädel hält. Es handelt sich um den Teil einer schweizerischen ethnologischen Sammlung, über deren Restitution langsam nachgedacht wird. Die Künstlerin, deren Vorfahren (wie der Schädel) in Sri Lanka beheimatet waren, inszeniert sich nun selbstbewusst als idealisierte Überbringerin, als kultische, die Ordnung wiederherstellende Figur.
Der Künstler Jean-Jacques Lebel wollte die öffentliche Aufmerksamkeit nutzen, um einen Skandal zu provozieren und die US-amerikanische Irak-Politik nachträglich in ein mediales Kreuzfeuer zu zwingen. Die Reaktion auf seine Präsentation der abscheuerregenden Bilder, die bereits allzu bekannt sind, löste aber vor allem den begründeten Protest irakischer Künstler*innen aus, die dieser rücksichtslosen Instrumentalisierung der Ausstellung widersprochen haben und ihre Beteiligung zurückzogen.
Um komplexe Thematiken besser zu erfassen, legt der Politologe Moses März umfangreiche kartografische Zeichnungen an. Für postkoloniale Konflikte sensibilisiert wurde er durch längere Aufenthalte in Südafrika. Seine überdimensionalen Mental Maps zu den Themen Schwarze Befreiungsbewegung, Schwarzer Feminismus oder antikoloniale Theorie nehmen auch immer wieder Bezug auf die Rollen, die die Stadt Berlin dabei gespielt hat. Angeleitet etwa durch die Schriften Édouard Glissants legen es die rhizomatischen Verflechtungen darauf an, die Entwicklungen und Kämpfe aus der Mitwirkung vieler verschiedener Einflüsse, Fakten und Ereignisse zu verstehen.
Würde man diese Methode und die Konsequenz, mit der sie hier über die Grenze dessen hinausgetrieben wird, was sich noch aus sicherer Distanz erfassen lässt, auf die Biennale selbst anwenden, dann würde auch daraus ein mehrdimensionales Gebilde von verschiedenen Positionen, Interessenlagen und Einflüssen, von diversen Ästhetiken, Konflikten und Kalkülen resultieren. Dessen Bewertung hinge von der Art und Weise ab, wie und an welchem Punkt sich die jeweiligen Betrachter*innen daran anschließen, von welchen Dynamiken und Ideen sie sich mitreißen lassen oder welchen Strang sie aufgreifen, wofür oder wogegen sie kämpfen. Das schließt aber nicht aus, dass inmitten dieser Vielfalt in irgendeiner Form ein gemeinsames Motiv, ein übergeordnetes Ziel verborgen liegt.