Prishtina. Seit ihrer Gründung Mitte der Neunzigerjahre war die europäische nomadische Biennale Manifesta stets für ambitionierte Städte konzipiert, die zeitgenössische Kunst als Katalysator für urbane Entwicklungen einsetzen und international auf sich aufmerksam machen wollten. Nicht immer erwies sich die Kür des Orts als glücklich, 2022 ist man mit Kosovos Hauptstadt Prishtina in einer nahezu prädestinierten Metropole angekommen – gerade wegen der Schwierigkeiten der kleinen Republik, deren 2008 deklarierte Unabhängigkeit vom Nachbarn Serbien und selbst manchen EU-Staaten bislang nicht anerkannt wird.
Die Manifesta 14 ist dabei nicht nur größte Veranstaltung zu zeitgenössischer Kunst, die der Kosovo je gesehen hat, sie zeichnet sich auch durch einen für die Wanderbiennale ungewöhnlichen regionalen Fokus aus: Von 103 Teilnehmer*innen, darunter auch Kollektive, stammen 65 Prozent vom Westbalkan und 39 Prozent haben gar kosovarische Wurzeln. Die Beiträge von Letzteren vermitteln keinesfalls den Eindruck, dass sie nur aufgrund ihrer Abstammung zum Zug gekommen sind. Trotz schwacher institutioneller Voraussetzungen konnte sich vor Ort eine beachtliche Kunstszene etablieren.
Bekannte Narrative über nationalistische Ideologien und kapitalistischen Triumphalismus würden unvermeidlich schlecht enden, sie erzählten von ultimativer Auslöschung und nie über Fortdauerndes, schreibt die australische Co-Kuratorin Catherine Nichols über ihre Ausstellung, die in Anspielung an ein Wortspiel der US-amerikanischen Feministin Donna Haraway den Titel „Es spielt eine Rolle, welche Welt die Welt weltet: Wie man Geschichten anders erzählen kann („It matters what world worlds world: how to tell stories otherwise“) trägt.
„Ist das eine Sünde, dass ich als Albaner im Kosovo geboren wurde?“, fragt Driton Hajredini in einer Manifesta-Schlüsselarbeit, die auch fast zwei Jahrzehnte nach ihrer Entstehung kaum an Aktualität eingebüßt hat. In dem bereits 2004 mit versteckter Kamera gedrehten Video dokumentiert der Künstler seine Beichte im deutschen Münster. Er müsse als Kosovare viel Geld für Visa ausgeben, um Ausstellungen im Ausland besuchen zu können, klagt er. Eine Sünde sei die Geburt im Kosovo freilich nicht, informiert ihn der Geistliche: „Man könnte sich aber fragen, ob das eine Strafe ist.“
Hajredinis Arbeit in der zentralen Ausstellungslocation Grand Hotel Prishtina bleibt freilich nicht das einzige Echo der Jugoslawien-Kriege. Gemeinsam mit den Bewohner*innen rekonstruierte die gelernte Architektin Argjirë Krasniqi den vergangenen Alltag des Dorfs Janjeva. Als die kroatische Mehrheitsbevölkerung in Erwartung herannahenden Unheils Anfang der 1990er-Jahre aus ihrem Heimatdorf im Kosovo zog, ließ sie Häuser zurück, deren Verfall Krasniqi dokumentierte. Auf die bereits eingetretene Katastrophe verweist indes eine Videoarbeit der Bosnierin Lala Raščić, die einen Korpus von einschlägigen Zeitzeug*inneninterviews mit dem Skalpell der quantitativen Linguistik zerlegt und derart anhand von anscheinend banaler Worthäufigkeiten über den Zerfall Jugoslawiens erzählt.
Die Hauptausstellung im heruntergekommenen Hotel, auf dessen glorreichere Vergangenheit ein seinerzeit von Tito verwendetes Zimmer verweist, positioniert sich dabei selbst als kleine Enzyklopädie. Auf sieben Stockwerken beschäftigen sich Arbeiten von mehr als 70 Künstler*innen und Kollektiven mit für die Region relevanten Sujets, von Wandel, Migration bis hin zu Wasser und Liebe. Für Optimismus sorgt eine Installation des Kosovaren Petrit Halilaj, der am Hoteldach nicht nur fünf Sterne umgruppiert hat, sondern in albanischer Sprache auch den Spruch „Wenn die Sonne verschwindet, malen wir den Himmel an“ montiert hat.
Akzente setzt die Biennale auch mit Kunstwerken an mehr als 20 weiteren Locations, die der italienische Co-Kurator und Architekt Carlo Ratti zu einem Parcours verbunden hat. Rattis Interventionen im öffentlichen Raum fungieren dabei sichtlich als Versuchsballon für die künftige Stadtentwicklung: Einerseits gilt es, in den motorisierten Individualverkehr einzudämmen – in Pristhina gilt selbst das Überqueren von Straßen als bisweilen riskant –, andererseits sorgen Besucher*innen der Biennale vor allem im jugoslawisch geprägten Südteil des Zentrums für einen kritischen Fokus auf Orte, mit denen die Stadtpolitik Pläne haben dürfte. Letzteres gilt etwa für den teils zur versifften Parkgarage degradierten Palast der Jugend und des Sports, in dem die Südkoreanerin Lee Bul ein Ellipsoid schweben lässt. Oder auch für die brutalistische Druckerei der eingestellten Tageszeitung Rilindja, in der der Türke Cevdet Erek in einer Soundinstallation an eine Verwendung als Location für Raves erinnert.
Im osmanisch geprägten Norden des Zentrums hat die Wanderbiennale indes sichtlich zur Beschleunigung mancher Pläne beigetragen. Das ehemalige Gebäude der Stadtbibliothek wurde in ein Zentrum für narrative Praxen verwandelt, das auch nach der Manifesta betrieben werden wird. Im frisch renovierten großen Hammam, einem künftigen Veranstaltungszentrum, hat die Japanerin Chiharu Shiota Blätter mit persönlichen Geschichten mit roten Fäden zu einer großen Rauminstallation verarbeitet. In der Nähe befindet sich hier auch die eine 2021 öffnete Galerie 17, wo das Belgrader Zentrum für kulturelle Dekontamination eine symbolträchtige Ausstellung kosovarischer Künstler in der serbischen Hauptstadt dokumentiert und damit einen wichtigen versöhnlichen Akzent setzt.
Auf das schwierige Verhältnis von Serb*innen und Kosovar*innen verweist aber auch das wohl politisch relevanteste Projekt der Manifesta, das zwar im Grand Hotel präsentiert, selbst aber außerhalb der Hauptstadt zu sehen ist. Die in Sarajevo lebende Ukrainerin Stanislawa Pintschuk (Stanislava Pinchuk) hat im Fluss Ibar, der den albanischen und serbischen Teil der nordkosovarischen Stadt (Kosovska) Mitrovica trennt, drei Metallgerüste mit Sitzgelegenheiten installiert. Sie reproduziert damit die Konturen des über der Stadt thronenden Bergarbeiterpartisanendenkmal, das der große Modernist Bogdan Bogdanović 1973 hier errichtet hat. Pintschuks Arbeit ist eine Einladung an beide Volksgruppen, doch miteinander ins Gespräch zu kommen, sowie eine Kritik an jenen realistischen Heldendenkmälern im Geist des 19. Jahrhunderts, die auf beiden Seiten des Ibars Versöhnung äußerst schwierig erscheinen lassen. Wenige Tage nach der Eröffnung der Manifesta schrieb Mitrovica im Zusammenhang mit Befürchtungen, dass Serbien militärisch intervenieren könnte, deshalb wieder einmal internationale Schlagzeilen.