Heft 3/2022 - Artscribe


The Living and the Dead Ensemble – Lanjelis

1. Juli 2022 bis 20. November 2022
Badischer Kunstverein / Karlsruhe

Text: Carmela Thiele


Karlsruhe. Die Sonne scheint, die Türen stehen offen. Frauen und Kinder laufen vorbei, ein Mann sitzt im Bett und telefoniert. Ob er wieder Informationen und Bilder liefern solle, fragt er. Worum es genau geht, ist unklar: eine nächtliche Demonstration gegen den korrupten Staat von Haiti oder einen gewaltsamen Konflikt? Der Anbieter gehört zum The Living and the Dead Ensemble und ist, wie sich an anderer Stelle herausstellt, ein talentierter Slam-Künstler. Diese Szene, die ein Schlaglicht auf den politisierten Alltag von Haiti wirft, ist Teil der Drei-Kanal-Videoinstallation The Wake. Im Badischen Kunstverein leuchtet sie wie ein dreiflügeliger Altar aus dem Dunkel hervor. Sie ist eines der zwei großen Projektfelder des The Living and Dead Ensemble, die sich mit Fragen der kulturellen Identität auseinandersetzen.
Der Begriff „Nachtwache“ spielt in diesem Fall nicht auf Rembrandts weltberühmtes monumentales Gemälde an. Vielmehr ist er wie der Ausstellungstitel Lanjelis ein Hinweis auf die Nacht als Zeitraumkontinuum, in dem sich einst die Versklavten der Kontrolle ihrer Herren entzogen, sich auf ihre Wurzeln besannen, ihre Wünsche, ihre Identität. Bis auf eine kleine weiße Minderheit stammen alle Einwohner der Karibikinseln von Versklavten ab, die seit dem 18. Jahrhundert über den Dreieckshandel von Afrika nach Amerika verschifft wurden, damit sie auf den Plantagen Zuckerrohr, Tabak, Kaffee oder Indigo pflanzten und ernteten.
Doch geht es der Gruppe nicht in erster Linie um eine Geschichtsstunde, darum zu zeigen, wie sehr das Schicksal der ehemaligen Kolonie St. Domingo, heute Haiti, mit der auf wirtschaftliche Effizienz und imperiale Macht ausgerichteten Geschichte Europas und den USA verbunden ist. Ihre Arbeit hat eine Vorgeschichte: Der britische Filmemacher Louis Henderson setzte sich schon länger im Rahmen verschiedener Ausstellungsbeiträge mit dem haitianischen Revolutionsführer Toussaint Louverture auseinander. Ihm war früh klar geworden, dass es kein Film über, sondern ein Film mit Schauspieler*innen in Haiti werden sollte. Gemeinsam mit seinem Produzenten Olivier Marboeuf fand er 2017 in Port-au-Prince acht Schauspieler*innen und Dichter, die Interesse an dem Projekt hatten. Ihre politischen Debatten, ihre Musik, ihre Voodoopraktiken sollten sich im gemeinsam verfassten Drehbuch niederschlagen. Während der vorbereitenden Workshops übersetzte die Gruppe Édouard Glissants Theaterstück Monsieur Toussaint ins haitianische Kreol. Einige Szenen des Films zeigen die Ensemblemitglieder bei der Textarbeit und beim Memorieren ihrer Rollen oder dokumentieren ihre Gespräche, während sie durch Port-au-Prince streifen.
Der 2020 auf der Berlinale uraufgeführte Kinofilm Ouvertures bildet das Herzstück der Ausstellung im Badischen Kunstverein. Der Große Saal ist zum Kino geworden, wo zweimal täglich der 132 Minuten lange Film gezeigt wird. Im Zentrum der Geschichte steht der 1803 während der Haft im Fort de Joux an der französisch-schweizerischen Grenze gestorbene Toussaint Louverture. Wie in Glissants poetischem Drama überwindet der Film, der Landschaftsaufnahmen mit Bildern aus der Zelle Louvertures verbindet, chronologische und topografische Distanzen. Er evoziert die Migration der letzten Gedanken des als Sklave geborenen Jakobiners aus der Kälte des Juragebirges über das alles verbindende Element Wasser zurück in seine karibische Heimat Haiti.
Auch die Symbolik des Meeres spielt als Trennline zwischen der Welt der Lebenden und der Toten eine wichtige Rolle. So wundert es nicht, dass die Wände des Kunstvereins blau gestrichen sind. Die Farbflächen dienen als Tafeln für in weißer Kreide angefertigte Wandzeichnungen. Eine riesige, gemeinsam mit dem Team des Kunstvereins erarbeitete Mindmap erinnert an die verwobene Geschichte Haitis und Europas, im „Gemeinschaftsraum“ sind die Workshopgespräche mit Studierenden der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe dokumentiert.
Das blaue Band umfasst die Ausstellung auch metaphorisch. Neben dem materiellen Hinweis auf die koloniale Indigoproduktion klingt das aus der Romantik stammende Motiv der Blauen Blume für die Poesie an, genauso wie Édouard Glissants im Landschaftlichen begründete Inselphilosophie. Danach bietet eine Insel immer den freien Blick auf das Meer an und damit auf das freie Denken. Glissant gehörte mit Frantz Fanon und Aimé Césaire zu den Vordenkern der postkolonialen Theorie. Alle drei stammen von der bis heute zu Frankreich gehörenden Insel Martinique. Die Ausstellung im Kunstverein ließe sich vor diesem Hintergrund als temporäre Insel begreifen, umgeben vom Blau des Wassers, als Ort mit weitem Horizont.
In der internationalen Kunstszene ist der karibische Denker schon länger ein Begriff.1 So ließe sich die Schau Lanjelis auch als Hommage an den 2014 verstorbenen Glissant beschreiben, vielleicht aber auch als Probelauf, ob sein Denken auch 2022 noch funktioniert. Im Gegensatz zum polarisierten documenta-Streit baut The Living and the Dead Ensemble symbolisch Brücken zwischen den Inseln und den Kontinenten, zwischen unterschiedlichen kulturellen Auffassungen und alten wie neuen Erzählformen. Der in Kassel postulierte Gegensatz von postkolonialer Kunst und westlichem Kunstbegriff spielt in ihrer Arbeit keine Rolle. Die in ihrem Realismus poetischen Szenen und Bilder offerieren auf wunderbare Weise unendlich viele Ansatzpunkte und Lesarten.

 

 

[1] Vgl. Edouard Glissant/Hans Ulrich Obrist, 100 Notes – 100 Thoughts/100 Notizen – 100 Gedanken, No. 038, dOCUMENTA (13). Hatje Cantz Ostfildern, 2011. Für Obrist ist Glissant „der wichtigste Schriftsteller und Philosoph unserer Zeit“. Glissants „archipelisches Denken“ versuche, der Vielfältigkeit des Lebens gerecht zu werden, es stehe dem kontinentalen Denken entgegen, das sich selbst absolut setze.