Heft 3/2022 - Netzteil
Weißer Schaum tanzt durch das Bild und glitzert im Licht der Scheinwerfer. Die Stille wird unterbrochen von einem dunklen Schatten, der durch das Bild flitzt – zu schnell, um zu erkennen, was er ist. Mit grinsenden Gesichtern und zerrissenen T-Shirts laufen Teenager im Kreis, blicken mal in die eine, mal in die andere Richtung – stets synchron. Der Sound erinnert an einen Horrorfilm.
Yalda Afsahs Filme beginnen nicht selten mit dem Unbekannten, das den Zusehenden vorerst verborgen bleibt. In Afsahs erster institutioneller Einzelausstellung, einer Kooperation zwischen dem Kunstverein in München und der Halle für Kunst in Graz, werden wir zu Beobachter*innen von Beobachtenden. In langsamen poetischen Aufnahmen spürt sie den vielen Komplexitäten der Beziehung zwischen Mensch und Tier nach, stets ohne wertenden Blick. Tourneur und Vidourle dokumentieren das groteske Katz-und-Maus-Spiel im Zuge der sommerlichen Stierkämpfe in Südfrankreich. Der Terror in den Augen des Stiers in Tourneur trifft auf die Abenteuerlust der Teenager, die mit ihrem Spiel die unvermeidbare Schlachtung des Tieres heraufbeschwören. In Centaur begegnen wir einem Pferdedresseur in Dänemark, dessen Verhältnis zu den Pferden eine seltsame Mischung aus sorgsamer Zuneigung und kalter Kontrolle ist. Der gestriegelte Dresseur wird dabei zum toxischen Boyfriend, der seine animalischen Geliebten mit Klickgeräuschen und sanften Peitschenschlägen zum Tanzen bringt – und das vor der stolzen Kulisse seiner Vorväter.
Mit Kontrolle einer anderen Art beschäftigt sich Afsahs Film SSRC, der an dieser Stelle als Ausgangspunkt für eine umfassendere Fragestellung dienen soll. Diese jüngste der vier ausgestellten Arbeiten ist auch die einzige, in der die Protagonisten zu Wort kommen und aus ihrer passiven Rolle heraustreten. „SSRC“ bezeichnet den Secret Society Roller Club, einen Verein passionierter Taubenzüchter in Compton, Los Angeles.1 Spätestens seit den 1970er-Jahren wird hier Taubenzucht betrieben, was vielen jungen Männern die Chance bot, sich von der Straße fernzuhalten und dem von Polizeirepression und Rassismus geprägten Alltag zumindest zeitweise zu entkommen.2 Im sozial benachteiligten Viertel Compton wird die Taubenzucht somit zum emanzipatorischen Akt. Im Unterschied zu Afsahs anderen Filmen steht hierbei weniger die Kontrolle der Tiere im Vordergrund als deren Pflege und der sorgsame Umgang mit ihnen.
Den Blick nach oben gewandt und in stiller Konzentration den Flug der Vögel beobachtend, wiederholen die Männer jene Pose, die einem Vogelbeobachter im Central Park 2020 beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Eine weiße Hundebesitzerin hatte angesichts der schwarzen Hautfarbe des Mannes die Polizei alarmiert – nur wenige Stunden später wurde George Floyd in Minneapolis von Polizisten ermordet. Christian Cooper, der seit seinem zehnten Lebensjahr passionierter Vogelbeobachter ist und beruflich queere Charaktere für Marvel Comics entwirft, stellte das Video des Vorfalls ins Netz und darf sich inzwischen freuen, seine eigene Tierdoku auf National Geographic zu moderieren.3 Trotz des positiven Ausgangs wirft diese Geschichte Fragen auf, die sich im amerikanischen Kontext auch Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zunehmend stellen: Wer darf sich wie in der „Natur“ aufhalten und bewegen? Wem stehen Nationalparks und geschützte Wälder als Ausflugsziele zur Verfügung?
Jacqueline L. Scott betreibt seit über fünf Jahren einen Blog namens Black Outdoors, in dem sie auf die koloniale und rassistisch geprägte Geschichte jener Orte eingeht, die sie als naturbegeisterte Wanderin, Kanu-, Rad- und Skifahrerin häufig besucht. Die Autorin zahlreicher Reiseführer für PoC befasst sich darüber hinaus mit der Frage, wie sich Natur und Umwelt von Schwarzen und PoC als Rückzugsorte (zurück-)erobern lassen.4 Dass das Verhältnis mancher Afroamerikaner*innen zur sogenannten Wildnis alles andere als entspannt ist, hat nicht zuletzt die Autorin Carolyn Finney in ihrem 2014 erschienenen Buch Black Faces. White Spaces aufgezeigt.5 In mehreren empirischen Studien ging sie der Frage nach, wieso Nationalparks und Wälder so wenig von Afroamerikaner*innen genutzt werden. Abgesehen von der fehlenden Repräsentanz Schwarzer Menschen in den Beschäftigungsverhältnissen vor Ort bzw. als Werbeträger*innen zeigte sich, dass sich die Spuren von Sklaverei und Lynchings tief in das Empfinden vieler über die „Natur“ eingeprägt haben. „Natur“ und „Wildnis“ sind im Denken vieler Afroamerikaner*innen weniger Rückzugsorte als vielmehr Gefahrenzonen, in denen sie der Willkür einer rassistischen Gesellschaft schutzlos ausgesetzt sind.6
Interessant ist, dass Yalda Afsah im Titel ihrer Ausstellung – bewusst oder unbewusst – auf genau jene Episode in der amerikanischen Geschichte zurückgreift, der sich auch Finney eingehend in ihrem Buch widmet: der Entstehung der amerikanischen Nationalparks. Im Satz „Every word was once an animal“ klingt ein Gedicht eines der bekanntesten Vertreter des amerikanischen Transzendentalismus, Ralph Waldo Emerson, nach: „Every word was once a poem“7. Der amerikanische Transzendentalismus sah das Göttliche in der Natur manifestiert anstatt in einem abstrakten Gott und beeinflusste grundlegend jene Person, die als Vater der amerikanischen Nationalparks gilt, John Muir. Finney schildert die Entstehung der Nationalparks ausgehend von Muir als „Nation building“-Projekt, das der Idee einer „reinen“ Natur verpflichtet war und der romantischen Imagination weißer Männer entsprang: „Von Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre verwandelte sich die Akzeptanz wilder, von Naturvölkern bewohnter Landschaften in eine Idealisierung unbewohnter Landschaften, die Teil der nationalen Identität sind und erhalten werden müssen. Wissenschaftler*innen wie George Perkins Marsh und vereinzelte Enthusiasten wie Henry David Thoreau oder John Muir setzten sich für diese Ideale ein, die noch heute die Grundlage der amerikanischen Umweltideologie bilden.“ Und weiter: „Das Narrativ der ‚Great Outdoors‘ […] geht implizit auf das Vermächtnis des Eurozentrismus zurück bzw. die Verbindung von Wildnis zu Weiß-Sein, wobei diese Kombination universalisiert und naturalisiert wird.“8 Dass dabei sowohl die indigene als auch die Schwarze Bevölkerung außer Acht gelassen wurden, muss nicht weiter ausgeführt werden. Kontrolle und Genuss der „reinen“ Natur waren nur wenigen vorbehalten.9
Dass fehlende Repräsentanz nicht nur im Anbetracht der Nationalparks ein Problem darstellt, zeigt sich laut Finney auch am Beispiel der Umweltbewegung. Diese sei ebenfalls als weißes Projekt definiert, was das Engagement vieler PoC untergräbt, wobei oft vergessen wird, dass statistisch gesehen mehr PoC und Schwarze von schädlichen Umwelteinflüssen betroffen sind.10 Auch Compton leidet aufgrund der dort angesiedelten Schwerindustrie unter einer starker Umweltverschmutzung und hat im Gegensatz zu anderen Teilen von Los Angeles nahezu keine Grünflächen.11 Vor diesem Hintergrund gewinnt die in Afsahs Film dokumentierte Taubenzucht in Compton noch mehr an Relevanz, insofern dort der Zugang zu dem, was als „Natur“ definiert wird, äußerst beschränkt ist.
Yalda Afsah – Every word was once an animal, Halle für Kunst Steiermark, Graz, 24. Juni bis 4. September 2022.
[1] Als „Roller Pigeons“ werden besondere Taubenarten bezeichnet, die während des Flugs Rückwärtssaltos vollführen.
[2] Shanna B. Tiayon, If We Can Soar: What Birmingham Roller Pigeons Offer the Men of South Central, Juni/Juli 2021; https://pipewrenchmag.com/roller-pigeons/.
[3] Faith Karimi, The Black birdwatcher who recorded a viral clash with a White woman in New York’s Central Park will host his own National Geographic show, 24. Mai 2022; https://edition.cnn.com/2022/05/24/entertainment/christian-cooper-national-geographic-show-cec/index.html.
[4] Siehe https://blackoutdoors.wordpress.com.
[5] Carolyn Finney, Black Faces. White Spaces. Reimagining the Relationship of African Americans to the Great Outdoors. Chapel Hill 2014.
[6] Ebd., S. 8.
[7] Satz aus „The Poet“ von Ralph Waldo Emerson, in: Essays: Second Series, 1844.
[8] Finney, S. 28.
[9] Dass auch in Österreich die Vorstellung, wer sich wie in der Natur bewegen darf, rassistisch geprägt ist, zeigte ein Kurier-Artikel von 2021, kommentiert unter https://www.derstandard.at/story/2000122952584/migranten-schuld-am-ski-chaos-anscheinend/.
[10] Alex Janin/Daina Beth Solomon, Facing off against pollution in South LA neighborhoods, Mai 2014; https://intersectionssouthla.org/story/facing-off-against-pollution-in-south-la-neighborhoods/.
[11] Malcom Ferdinand betont in seinem Buch Decolonial Ecology. Thinking from the Caribbean World (2022) die Verbindung der Umweltbewegung mit antikolonialen und antirassistischen Agenden. Diese Bereiche seien in Anbetracht der Geschichte der Sklaverei nicht zu trennen. Ausgehend von Donna Haraway wird auch auf Mensch-Tier-Allianzen zur Zeit der Sklaverei in den USA und der Karibik eingegangen.