Heft 3/2022 - Netzteil


Wolken aus Zement

Die materielle Basis der Cloud

Christoph Marischka


Die gegenwärtige, „disruptive“ Reorganisation von Wertschöpfungsketten im Zuge der „Digitalisierung“ wird von einem beträchtlichen Maß an Ideologie begleitet, die auch in der Sprache und der Assoziation von Begrifflichkeiten ihren Ausdruck findet. So gilt die digitalisierte Stadt als „smarte“ Stadt, und diese wiederum erklärt sich häufig als „nachhaltig“.1 Der abstrakte Ort, an dem sich die zunehmende Vernetzung von Subjekten und Objekten vollzieht und wo die gewaltig anwachsenden Datenmengen verwaltet und profitmaximierend verarbeitet werden, wird als „Cloud“ bezeichnet und weckt damit Assoziationen mit etwas Natürlichem, Leichtem und oft auch Schönem. Für den materiellen Kern der Cloud – Rechenzentren – erscheinen diese Adjektive jedoch reichlich unpassend. Deren gewaltiger Energieverbrauch und die Notwendigkeit ihrer kontinuierlichen Stromversorgung, welche im unmittelbaren Widerspruch zum Versprechen der Nachhaltigkeit stehen, erfahren mittlerweile einige Aufmerksamkeit. Auch ihr Flächenverbrauch, der zunehmend an den großer Logistikzentren und damit verbundener Wertschöpfungsketten heranreicht, wird verstärkt wahrgenommen. Zwar sind abgelegene Riesenanlagen, wie wir sie von Luftaufnahmen aus den USA und China kennen, in Europa noch eher die Ausnahme. Doch auch hier wachsen die Dimensionen entsprechender Gebäude zunehmend aus der Unscheinbarkeit fensterloser Funktionsgebäude in den Innenstädten oder an kleinere Fabrikgebäude erinnernder Hallen in Industriegebieten in Richtung sogenannter Hyperscaler. Diese reichen in ihrem Umfang an große Werkshallen heran und tendieren zunehmend dazu, Ausbauflächen für weitere Gebäude in vergleichbarem Ausmaß einzuschließen. Damit steigt auch die Sichtbarkeit der eigentlichen Rechenzentren. Zur materiellen Infrastruktur der Cloud gehört jedoch auch, was ich als deren „Vorhof“ bezeichne: die undurchsichtigen Geflechte jener Unternehmen, welche die Rechenzentren planen, verwalten und beständig auf Ebene der Soft- und Hardware warten und modernisieren; Zulieferer von Betriebsstoffen; Vertriebsstrukturen für die angebotenen Dienstleistungen; Anbieter von Objektschutz und Cybersicherheit usw. Gewöhnlich ist nur ein sehr kleiner Teil dieser Unternehmen auf dem Gelände der Rechenzentren selbst untergebracht, vielmehr meist in räumlicher Nähe in oft neuen Gewerbegebieten und Technologieparks. Dort befinden sie sich häufig in unmittelbarer Nachbarschaft jener Start-ups und Firmen, welche Produkte und Dienstleistungen entwickeln, die aufgrund der Digitalisierung möglich und nötig geworden sind – denn Digitalisierung bedeutet immer auch Outsourcing. Eigentlich müssten sie und die Dienstleister, die entsprechende Patente verwalten und Immobilien „entwickeln“, ebenfalls als Teil der materiellen Infrastruktur der Cloud betrachtet werden, um deren Energie- und Flächenbedarf zu erfassen und die Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Städte und Dörfer, ihre Übergänge, Architektur und soziale Zusammensetzung zu verstehen.

Hyperscaling Frankfurt
In Frankfurt am Main steht der materielle Kern der Cloud – die zunehmend als Hyperscaler dimensionierten Rechenzentren – im Mittelpunkt einer Transformation, die immer mehr Anwohner*innen auf die Barrikaden und die Stadtverwaltung zum Nachdenken zwingt. Da sich hier einer der weltweit wichtigsten Internetknotenpunkte befindet (im Grunde ein Archipel von Rechenzentren) und wegen der Nähe zur wichtigsten deutschen Börse und den Niederlassungen vieler Finanzdienstleister entstehen hier seit Jahren vermehrt und sich beschleunigend Hyperscaler auch im erweiterten innenstädtischen Bereich. Ein Beispiel ist der alte Hafen im Frankfurter Osten, südlich der Hanauer Landstraße. Hier existieren bereits – zwischen den Schüttguthalden der alten Industrie – Straßenzüge wie die Weißmüllerstraße, die von eng aneinander gebauten Rechenzentren, dem Surren ihrer Ventilatoren, der damit in den öffentlichen Raum abgeleiteten Abwärme und den vielen Überwachungskameras geprägt sind, welche die hohen Zäune und Drehtüren überwachen, die direkt an die engen Gehsteige anschließen. In der Verlängerung der Weißmüllerstraße befindet sich das riesige Gelände des ehemaligen Neckermann-Konzerns, eine Großbaustelle, auf der bereits erste Rechenzentren gebaut werden und weitere Ausbauflächen für deren batterieartige Ergänzung eingeebnet werden.
Nur wenige Hundert Meter nördlich, auf der anderen Seite der Bahntrasse an der Borsigallee, wird aktuell der „Iron Mountain“ fertiggestellt, ein Rechenzentrum mit nochmals größeren Dimensionen als jene im alten Hafen, das mit seiner kalten, fensterlosen Architektur zumindest ästhetisch bereits eine zentrale Kreuzung zwischen mehreren Vierteln Frankfurts prägt. Der Quadratmeterpreis der umliegenden Industrie- und Gewerbegebiete stieg angeblich um das Neunfache, ein großer Teil der Liegenschaften wurde rasch an undurchschaubare Konsortien verkauft. Menschen in gelben Westen dominieren das Bild und die angrenzenden Supermärkte, es riecht nach Diesel, den die Baumaschinen ausstoßen, die alte Industrie- und Gewerbegebäude abreißen, und Staub, der hierbei freigesetzt wird. In großem Tempo und großflächig verschieben sich die Besitzverhältnisse und damit die Flächennutzung. Dasselbe findet zunehmend auch auf der anderen Seite des Mains in Offenbach statt, wo die Stadtwerke im Westen Rechenzentren direkt hinter einem Kohlekraftwerk bauen haben lassen und im Osten ein großes Datacenter von CloudHQ entsteht, das mit Google assoziiert ist. In der Umgebung, am alten Hafen (im Westen) und am alten Güterbahnhof (im Osten), sprießen neue Wohn- und Gewerbegebiete, die zu einer beträchtlichen Ausweitung der urbanen Infrastruktur und versiegelter Flächen beitragen.

Stuttgarts digitalisierte Ränder
Solche Entwicklungen sind nicht grundsätzlich neu. „Der Campus in Stuttgart-Vaihingen liegt mitten im Grünen: zwischen Feldern, Wäldern und den Bärenseen“, so beschreibt das Studierendenwerk der Uni Stuttgart eine Betonlandschaft, bestehend aus den naturwissenschaftlich-technischen Instituten der Universität, öffentlichen und privaten Forschungseinrichtungen und Studierendenwohnheimen, für die seit dem Beginn des Ausbaus in den 1960er-Jahren am Rande Vaihingens über 100 Hektar Wald gerodet wurden. Hier, im Süden Stuttgarts, wird nicht nur an verschiedenen Einrichtungen in öffentlich-privater Partnerschaft an Quantencomputern geforscht, hier befindet sich mit dem Hochleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) auch einer der fünf schnellsten Supercomputer Europas. Etwa 500 Meter südöstlich Richtung Innenstadt entwickelt die landeseigene L-Bank über eine eigens hierfür gegründete GmbH seit 2000 den Stuttgarter Engineering Park (STEP) mit 120.000 m² Büroflächen, 160 Unternehmen, 5.500 Arbeitsplätzen und 2.150 Parkplätzen. Überragt wird der Park von einem Hochhaus, in dem Mobilcom/Debitel ein Rechenzentrum unterhält. Im Falle eines Stromausfalls übernehmen 20.000 Autobatterien die Stromversorgung, bis die Dieselaggregate angelaufen sind. Auch ansonsten sind hier viele namhafte Firmen – Daimler, Dassault, Microsoft, Lenovo, Hitachi … – präsent, jedoch augenscheinlich jeweils nur mit sehr wenigen Arbeitsplätzen.
Weniger glamourös sieht es etwas südlich von Vaihingen aus, wo ebenfalls in den 1960ern die Hochhaussiedlung Fasanenhof und daran anschließend ein Gewerbegebiet errichtet wurde, das in den vergangenen Jahren durch die ENBW-City des Stromversorgers ENBW beträchtlich erweitert wurde und seither vom 16-stöckigen Hauptsitz des Energieunternehmens überragt wird. In diesem Gewerbegebiet befindet sich mit Stuttgart-IX auch der vermeintlich wichtigste Internetknoten der Stadt mit mehreren Rechenzentren, die allerdings in ziemlich unscheinbaren Gebäuden untergebracht sind, welche von außen an relativ einfache Mehrparteien-Mietshäuser erinnern.
Diese und andere Rechenzentren mit angeschlossenen Technologieparks an den Rändern Stuttgarts liegen – oft relativ unauffällig – an Schnittstellen zwischen Schnellstraßen, Autobahnen und Bahntrassen, deren Umland noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt wirkt. Dies gilt auch für den nördlichen Rand der Landeshauptstadt um die beiden Ortschaften Ditzingen und Weilimdorf. Zwischen den beiden Orten, die im jeweiligen Kern eher dörflich erscheinen, verläuft die Autobahn 81 durch große Mais- und Weizenfelder. Allerdings haben sich beide Orte in den vergangenen Jahren durch den Ausbau ihrer einander gegenüberliegenden Gewerbegebiete beträchtlich ausgedehnt. Treibende Kräfte sind dabei auf Ditzinger Seite das Rüstungsunternehmen Thales und der Maschinenbauer Trumpf, in Weilimdorf der IT-Dienstleister Vector sowie Siemens und Atos – beide zentrale Cloud-Dienstleister öffentlicher Behörden und der Bundeswehr.

Verschwimmende Übergänge
Was sich am Rand großstädtischer Ballungsräume bislang eher subtil vollzieht, betrifft auch viele Mittelstädte um die 100.000 Einwohner*innen. Mit einer Breitbandverbindung, der oft zunächst unauffälligen Ansiedelung von Rechenzentren und (kleineren) Zweigstellen großer IT-Dienstleister (zum Beispiel Atos) werden die Grundlagen geschaffen, um Wissenschafts- oder Technologieparks am Stadtrand zu schaffen, wo sich begünstigt durch öffentliche Subventionen jeweils Dutzende bis Hunderte Start-ups, Ingenieur-, Anwalts- und Steuerberatungsbüros ansiedeln. Fast immer umfassen diese auch größere Parkhäuser, wie sie ansonsten in Ortsrandlage eher unüblich sind. Auch die öffentliche (Verkehrs-)Infrastruktur der Stadt wird entsprechend ausgeweitet, und häufig entstehen nahe den neuen Gewerbegebieten Wohnquartiere mit ähnlicher Struktur, Architektur und Ausdehnung. Technologieparks auf der grünen Wiese wirken als Katalysatoren für Neubaugebiete, die zugleich hochgradig verdichtet und hochpreisig sind. Die maximal genehmigte Höhe der Gebäude im Technologiepark entspricht oft denen der nahe gelegenen Wohnquartiere, die hierauf spezialisierten Entwicklungsgesellschaften und Eigentumsstrukturen überlappen sich. Aber auch in den Dörfern, die somit näher an die Städte rücken, wird die neue Industrie nicht nur durch Breitbandanschluss spürbar. In die alten Bauernhöfe ziehen gut verdienende junge Familien ein, die Preise steigen. Auf den zunehmend ausgebauten Wirtschaftswegen kommen sich E-Bikes und Traktoren in die Quere, verbliebene landwirtschaftliche Flächen transformieren sich in Naherholungsgebiete. Unterschiedliche Lebensmodelle und Einkommensniveaus treffen aufeinander.
Die hier beschriebenen Transformationen und Disruptionen werden mit Nachdruck nicht nur von der „unsichtbaren Hand des Markts“, sondern auch von der öffentlichen Hand vorangetrieben und vollziehen sich vor unseren Augen. Aus öffentlichen Investitionen resultieren dabei häufig private Profite, wobei die Eigentumsstrukturen an Daten, Land, Infrastruktur und Patenten obskur bleiben. Wie die Wolken am Himmel sind diese in beständiger Transformation und oft auch Auflösung begriffen. Ihre materielle Basis und die Versiegelung der Flächen werden bestehen bleiben. Diese Form der Stadt- und Technologieentwicklung mag für einige „smart“ sein – nachhaltig erscheint sie nicht.

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[1] Vgl. beispielsweise die Selbstdarstellungen unter https://www.smartmannheim.de/, https://frankfurt.de/themen/digitalisierung/smart-city-frankfurt, https://www.bochum-smartcity.de/. So definiert etwa die Stadt Frankfurt die „Smart City“ folgendermaßen: „Smart City ist ein Sammelbegriff für gesamtheitliche Entwicklungskonzepte, die darauf abzielen, Städte lebenswerter, effizienter, technologisch fortschrittlicher, ökologischer, nachhaltiger und sozial inklusiver zu gestalten und unterschiedliche Bereiche intelligent zu verknüpfen.“