Die Sehmaschine konstruiert das Andere. Das Sehen ist der Berührung überlegen, weil es dem Verstand näher ist. Berührung ist das Fühlen dunklen Fleisches. So heißt es in der optozentrischen – sehzentrierten – Geschichte westlichen Denkens. Die Augen sind unabhängig. Das Sehen dominiert die Hierarchie der Sinne und gilt als auserwählter Verbündeter des theoretischen Wissens. Die Berührung ist nichts von all dem.
Auch heute noch beherrscht das Auge die Zivilisation der Bilder. Die Welt ist nicht länger ein offenes Meer, sondern ein Bildschirm. Der Bildschirm hat die Sinne nicht folgenlos verschluckt. Er ist stets auf der Suche nach Einheit. Auf der Suche nach dem oder der Urheber*in, einer legitimen Instanz, die dem Bild Sinn und Zweck verleiht. Jetzt schauen wir auf das Bild vor uns und fragen uns, woher es stammt. Vielleicht hat es jemand gepostet. Vielleicht stammt es aus einem Archiv, und der Kontext wird uns damit nie ausgehen. Dann ist man versucht, nach einem großen Muster Ausschau zu halten, das die Position des Bilds beschreibt. Außer Acht gelassen wird dabei häufig ein Prozess, der uns miteinander verbindet und füreinander in Verantwortung nimmt.
Dem Blick wohnt eine gewisse Macht inne, eine sehr beherrschende Präsenz. Hinzuschauen und nicht wegschauen zu können, so wie beim Blick der Medusa, der alle, die sie ansahen, zu Stein werden ließ, bereitet ein perverses Vergnügen. Auch Bilder mit einem zentralen Blick haben die Macht, ihre Betrachter*innen zu lähmen.
Dennoch müssen wir uns von der Sehmaschine abwenden, welche die anderen als Bild formt und vorhergehende Seher*innen als Eigentümer*innen des Blicks. Das Sehen ist zu sehr auf das Bild fokussiert. Oder die Betrachter*innen, die ihrerseits die Aufmerksamkeit für ihren Blick einfordern. Und andere außen vor lassen. Es geht nicht darum, die Augen so weit wie möglich zu öffnen. Man muss ein wenig kurzsichtig sein, um sich heranzutasten, um andere Sinne zu erschließen.
Jetzt, wo das Anstarren und das Buhlen um Aufmerksamkeit den Fetischismus von Kultur und Kunst als Ware antreiben, brauchen wir eine taktile Wende, sowohl hinsichtlich der realen als auch der imaginären Funktionen des Berührens. Berührung eröffnet die Möglichkeit zu bestimmen, wie wir Betroffenheit nutzen, um beispielsweise eine künstlerische Aktivität zu erzeugen.
Taktilität und Empathie
Wenn wir jemanden buchstäblich berühren, werden auch wir gleichzeitig berührt. Das bedeutet aber nicht, dass die Berührung sich in der Gemeinsamkeit auflöst; Unterschiede bleiben bestehen. Das Fleisch ist Medium, nicht Organ. Das Fleisch besitzt wichtige Räume und Intervalle, welche die Berührung weiterleiten.
Berührung im wörtlichen Sinne dient der Übersetzung und Rückübersetzung der Unterschiede zwischen Selbst und Abnormalität. Sie ist ein „Medium“, das es uns erlaubt, andere Menschen bzw. die „äußere“ Welt zu berühren und von ihnen berührt zu werden, und filtert heraus, was uns merkwürdig und ungelenk vorkommt. Durch sie finden wir uns in der Welt zurecht, sie hilft uns zu unterscheiden, was vernünftig ist und was nicht, was freundlich ist und was nicht, was schädlich ist und was nicht. Alle Empfindungen beinhalten eine somatische Interpretation. Wer versucht, im Fleisch mehr zu sehen, verlässt die Metapher.
Berührung ist transgressiv. Die transgressive Macht liegt in der Intimität der Berührung. Der einzige Sinn, der intimer ist als der Tastsinn, ist der Geschmackssinn, der ebenfalls eine Berührung erfordert. Sehen kann so gezielt sein, dass seine Intimität soziale Konsequenzen hat. Dennoch ist es nicht transgressiv – man kann damit etwas bezeugen, aber nicht berühren.
Neben der wörtlichen Bedeutung ist Berührung eine Metapher für Kommunikation, beispielswiese in Ausdrücken wie „in Kontakt treten“ oder „Kontakt aufnehmen“. Eine bildliche Berührung. Berührung findet also nicht nur von Haut zu Haut, sondern auch als Interaktion der Sinne statt. Die nötigen Kommunikationskanäle werden durch die Metapher des Körperkontakts geschaffen und aufrechterhalten. Berührung ist auch direkter Kontakt, ohne Medien oder Distanz. Durch die „Kontaktaufnahme“ verschwinden Entfernungshindernisse.
Mit Berührung lassen sich emotionale Verbindungen beschreiben. Wenn man etwas Bemerkenswertes sieht, wurde man „berührt“ – das berührende Subjekt hat einen emotionalen Kontakt hergestellt. Dabei geht es auch um Intimität. Nur das, was uns wirklich wichtig ist, lässt sich als „berührend“ beschreiben.
Deutlicher wird die emotionale Verbindung, wenn über Gefühle in Form von Berührung gesprochen wird. Wenn uns das Leiden anderer berührt, spüren wir Mitgefühl. Wir sind wütend oder traurig oder glücklich, als sei das Gefühl ein von außen kommendes Objekt – eines, das uns (be-)trifft.
Indem wir die Welt berühren, konfigurieren wir unsere Erfahrungen kontinuierlich neu. Wenn wir die Hand ausstrecken, ist Berührung das, was uns am konkretesten und persönlichsten (be-)trifft. Sie macht die Welt erst möglich.
Zu berühren und gleichzeitig berührt zu werden impliziert, sich mit einer anderen Person auf eine Weise zu verbinden, die uns offen macht. Sensibler für Wunden und Narben, aufmerksam für unbewusste Erinnerungen und Traumata. Dies ist sehr wichtig, denn damit geht ein tiefes Gefühl der Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit einher. Ohne fühlbaren Kontakt gibt es keine echte Erfahrung.
Durch die Übersetzung zwischen einem weltlichen, selbstverorteten „Hier“ und dem anderen „Da“ macht die Berührung Empathie erst möglich. Sich selbst als eins mit dem anderen fühlen. Deshalb manifestierte sich die Berührung im sozialen Umgang zuerst in einem Händedruck: von offener Hand zu offener Hand – der Ursprung von Gemeinschaft.
Berührung kann in missbräuchliches (gewalttätiges) Verhalten ausarten. Sie lässt sich nicht von anderen Wahrnehmungen unterscheiden, bis hin zur Unempfindlichkeit. Diese Gewalt entsteht aus dem Kontakt wie Anfassen ohne Fühlen und Essen oder Trinken ohne Genuss.
Das greifbare, taktile Fleisch ermöglicht uns die engste Erfahrung mit anderen. Berührung ist nicht nur eine Möglichkeit, die oder den Andere*n aktiv wahrzunehmen. Sie ist auch eine Möglichkeit, von anderen wahrgenommen zu werden. Sie ist eine Schwingtür zwischen mir und anderen, wenn ich im Sensibilitätszyklus den Platz wechsle. Beiderseitige Berührung ist sensible Berührung.
Während das Sehen da draußen meine Überlegenheit verspricht, ist die Berührung die Schnittstelle zwischen mir und allem, was ich nicht bin. Sie verbindet andere da draußen in der Welt mit meiner Präsenz, die sich zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort manifestiert. Und weil die Taktilität die Empathie mit anderen ermöglicht, verliert eine Kultur bzw. Kunst, die den Kontakt zum Fleisch verliert, den Kontakt zur Gesellschaft. Zwischen Subjekt und Objekt besteht keine Dichotomie, denn beide werden komplett aktiv. Wenn ich etwas berühre, bin ich gleichzeitig auch berührbar.
Fruchtbarkeit der Liebkosung
In dem Essay „The Fecundity of the Caress“ (1984) argumentiert Luce Irigaray, dass in fürsorglichen oder liebevollen Beziehungen nicht das Optische, sondern die Berührung an erster Stelle stehe. Berührung ist die Poesie des Fleisches – und Zuwendung die Kunst des Liebens und Schaffens. In der doppelten Empfindung des Eros betritt man eine Welt der Verletzlichkeit und Kreativität, in der Menschen, die sich umeinander kümmern, zu Architekt*innen oder Schöpfer*innen einer neuen Welt werden, die neue Geburten in sich birgt.1
Das regenerative Potenzial des Erlebens eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Vergnügens ist ein wesentlicher Aspekt der Berührung, der lange Zeit vom optischen Idealismus ausgeblendet wurde. Irigaray merkt an: „Wir brauchen Architekt*innen. Architekt*innen der Schönheit, die Jouissance – ein sehr zartes Material – gestalten. Die es so lassen und damit bauen, dabei die Annäherung, die Schwelle, die Intensität respektieren. Die es drängen, sich zu entfalten, ohne Machtdemonstration. Bloße Untermalung? Es entfaltet sich nur, wenn es entfaltet wird. Es berührt sich selbst, wenn es berührt wird, während es sich selbst berührt. Es muss in sich bleiben können. In sich selbst weiterleben können, um „mit-leben“ zu können. Wir müssen das Herz unserer Behausung erreichen, um zusammenleben zu können. Dieses Herz ist immer in Bewegung und hat doch immer eine Wohnstatt. Eine qualitative Schwelle gibt der Liebe Sicherheit. Damit die Liebenden treu sind? Wird sie missachtet, nutzt die Schwelle sich ab. Das Haus aus Fleisch, durch das sie sich aneinander erinnern, einander rufen – auch aus der Ferne –, wird zerstört.“2
Berühren oder berührt zu werden ist mit Intimität verbunden, die sich nicht durch Anfassen erreichen lässt. Intimität entsteht durch gegenseitige innerliche oder intersubjektive Berührung. Auch kennzeichnet sie bestimmte Grenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen, beispielsweise durch die Notwendigkeit gegenseitiger Einvernehmlichkeit. Beide Subjekte müssen sich über die Beziehung einig sein, und es muss die Möglichkeit zur Einvernehmlichkeit bestehen.
Im Gegensatz zum Sehen sollte die Berührung das Subjekt nicht behindern oder einschränken, weil dies wiederum die Ökonomie der Subjektivität behindern würde. Der Akt der Berührung ist ein Ausdruck unendlicher Möglichkeiten. Die Berührung berührt so lange, wie sie die Autonomie der anderen Subjektivität nicht einnimmt oder zerstört.
Berührung an sich ist nicht genug. Sie ist stets auf den anderen Körper angewiesen. Diesen Körper zu respektieren ist die Voraussetzung für jede Berührung. Echte Berührung ist kontrolliert und nicht übergriffig. Berührung stört die Integrität des anderen Körpers, wenn sie dessen Ganzheit verletzt. Körper weisen die unwillkommene Annäherung von Berührung zurück. Sie widerstehen einer Berührung, die gewaltsam auf sie eindringt. Der Akt der Berührung sollte beruhigend sein, nicht beleidigend oder ärgerlich.
Multisensorisches Erkennen
Vielleicht machen Tastsinn und dreidimensionaler Raum den Augapfel zu einer Erweiterung des Körpers, der sich bewegt und wahrnimmt? Hier ist eine visuelle Taktilität am Werk. Auch wenn das Auge für seine Regulierung unerlässlich ist, ist diese Taktilität wahrscheinlich viel entscheidender für unsere räumliche Situierung, da wir ihre physischen und sozialen Aspekte kennen.
„Selbstverständlich tritt dadurch ‚in Beziehung stehen zu‘ an die Stelle von ‚etwas wissen‘. Dies ist so problematisch wie aufregend: Nicht nur sind wir angehalten, die Bedeutung von ‚Sehen‘ zu überdenken, da sich dieser Begriff vor unseren Augen zersetzt, sondern wir müssen uns auch fragen, warum das Sehvermögen ideologisch so privilegiert ist, während andere Sinnesarten, wenigstens in der euro-amerikanischen Kultur, im Sprachgebrauch eine völlig untergeordnete Rolle spielen, obwohl sie bis heute in entscheidender Weise an unserem Dasein als Menschen und am sozialen Leben mitwirken. Ich denke nicht nur an Taktilität, taktiles Erkennen oder an das im großen Unterboden eingeschlossene Wissen, von dem uns in geheimnisvollen Jargonwörtern wie ‚Tiefensensibilität‘ gesprochen wird. In einem Zeitalter von weltgeschichtlich beispielloser staats- und paramilitärischer Folter denke ich auch an die praktische Sprachlosigkeit des Schmerzes.“3
Berührt zu werden bedeutet, uns die Aspekte und Kräfte der Welt näherzubringen. Über Taktilität jenseits der Hautoberfläche nachzudenken, bedeutet, den anderen einzubeziehen, beinhaltet Empathie, Mitgefühl und die Anerkennung der Untrennbarkeit oder Kopräsenz von Berührung und Zuneigung. In Bezug auf Empathie und Interkorporalität stellt Michael Taussig fest: „Die Empfindung [sentience] führt uns aus uns selbst heraus.“4
Noch deutlicher wird dies, wenn man die Etymologie des Begriffs „sentience“ betrachtet, der vom lateinischen „sentire“ abgeleitet ist, was „fühlen“ bedeutet. Im, zwischen und durch den ganzen Körper fühlen. Die Mehrdeutigkeit der Berührung in physischer und affektiver, wörtlicher und metaphorischer Hinsicht reicht durch den Raum vom berührenden Subjekt zum berührten Objekt, erfasst es und zieht es in seine Nähe.
Dies steht im Gegensatz zu unserer Konsumkultur, in der die Berührung als Medium der sensorischen Überzeugung angesehen wird, das der Erzeugung von Affektivität, Intimität, Unmittelbarkeit und angenehmer Begegnungen mit dem Produkt dient. Es gibt nur mich und das Produkt. Ich werde nicht aufgefordert, mit meinen Augen zu berühren oder mit meinen Augen zu übersetzen. Diese taktilen Begegnungen sollen nicht intim, direkt und privat sein, sondern komplex, kollektiv und historisch. Berührung ist eine komplexe, multisensorische Art des Erkennens.
Wie können wir uns dem Texturalen nähern, ohne unserem dominanten Auge den Vorrang einzuräumen? Wie können wir „das Sehen“ als visuellen Akt und Möglichkeit des Erkennens überwinden und empfänglich werden für das Fühlen als einem mit sozialem und individuellem Wissen, Affekt und Erinnerung erfüllten Akt?
Wir lernen, dass taktile Informationen das Gehirn auf zwei Wegen erreichen. Wege, die helfen, die Grenzen für den Umgang mit unterschiedlichen materiellen Welten zu definieren. Zunächst gibt es eine spürbare Dissonanz zwischen meiner taktilen Erinnerung an die Außenwelt und der Berührung der Notizblöcke im Workshopraum. Auf dem ersten Weg gelangen wir zu Fakten über Berührung: Vibration, Druck, Lage und die angenehme Beschaffenheit von Objekten. Der zweite Weg vermittelt und bestimmt den sozialen und emotionalen Inhalt, der mit der Berührung assoziiert wird. Diese Informationen werden auf der Grundlage von Dingen wie zwischenmenschlichen Bindungen, wichtigen Anliegen, Lernen, Entscheidungsprozessen, Moral, Impulskontrolle, Emotionen und sozialen Bewertungen verschlüsselt.
Bedingt durch diesen sozioemotionalen Weg kann sich Berührung je nach sozialem Kontext, früheren Erfahrungen, Wissen und Moralvorstellungen körperlich unterschiedlich anfühlen. Aufgrund der Art und Weise, wie Informationen über Einflüsse und sozialen Kontext Teil dessen werden, was wir berühren und wie wir es berühren, können sich die gleichen Reize, für jede und jeden von uns unterschiedlich anfühlen, wie Notizen an den Wänden eines Raums.
Berührung ist spürbar, aber nicht ganz fassbar; das Wissen um sie und ihr Erleben liegen an der Grenze unserer alltäglichen Praxis der Repräsentation. Nähe und Intimität der Berührung sind mit einem Wirrwarr aus Informationen und Affekten behaftet. Bei der Berührung geht es nie allein um individuelle Erfahrungen. Die unmittelbare Gegenseitigkeit der Empfindungen, wie sie für jede einzelne Begegnung spezifisch sind, hat auch eine soziale und historische Dimension.
Wenn wir multisensorische Erkenntnisformen (wie die Berührung) ernst nehmen wollen, können wir uns nicht einfach auf das Lesen und eine interpretierende Analyse beschränken. Die analytische Auseinandersetzung mit der Berührung erinnert uns daran, dass sie kein passiver Akt ist. Jede Berührung berührt auch immer zurück.
Ausnahme von der Berührung
Wir hören nie auf, zu berühren; wir tun es immer, auch bei den Unberührbaren. Wir wissen, dass das Festlegen von Grenzen nur zu Ausnahmen führt. Dies zeigt auch ein kürzlich erschienener Bericht über die Pandemie und die Ausnahme von der Berührung:
„Brahmanen sind eine Ausnahme, denn nur sie beherrschen die Rituale, von denen die gesellschaftliche Ordnung bestimmt wird, und sie dürfen aus Angst vor ritueller Verunreinigung von Menschen aus den unteren Kasten nicht berührt (geschweige denn begehrt) werden. Heutzutage gibt es für sie deshalb mitunter separate öffentliche Toiletten. Auch die Dalits, die Menschen der untersten Kaste, dürfen von den oberen Kasten nicht berührt, geschweige denn begehrt werden, da sie als ‚schmutzig‘ gelten. Von daher unterscheidet sich die Ausnahme der Brahmanen von der Ausgrenzung der Dalits. Eine der Dalit-Kasten, die Kaste der Pariah, wurde von Hannah Arendt zu einem ‚Paradigma‘ gemacht, das das wahre Ausmaß ihres Leids leider beschönigte. Als 1896 die Beulenpest nach Bombay kam, versuchte die britische Kolonialverwaltung, die Ausbreitung der Krankheit mit dem Epidemic Diseases Act von 1897 zu bekämpfen. Die Kastenschranken, darunter die Forderung der oberen Kasten nach getrennten Krankenhäusern und ihre Weigerung, sich von Angehörigen der unteren Kasten unter dem medizinischen Personal behandeln zu lassen, trugen jedoch dazu bei, dass mehr als zehn Millionen Menschen in Indien starben.“5
Nichts hört je auf zu berühren. Es gibt keine getrennten Dinge: Kein Objekt ist als Ganzes je getrennt von allen anderen Dingen. Man sieht sich selbst nie sehen. Jemand kann in den Spiegel schauen und die eigenen Augen sehen, aber das Auge sieht sich nie selbst sehen. Es gibt einen blinden Fleck. Man berührt ständig und wird ständig berührt. Es ist unmittelbar und bereits geschehen. Es ist möglich, zu sehen, ohne gesehen zu werden, aber es ist unmöglich, zu berühren, ohne berührt zu werden.
Etwas ist undurchdringlich, nicht weil es unmöglich wäre, seine äußeren Schichten zu überwinden und auf seine Eigenschaften zuzugreifen, sondern weil es keine wesenhafte Natur gibt. Nichts geschieht außerhalb der Dinge, also ist auch nichts „im Inneren verborgen“. Man befindet sich immer inmitten aller Dinge, ohne dass dies eine besonders privilegierte Position wäre, die es einem erlauben würde, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Die Wirklichkeit kann nicht erreicht werden, weil es nichts gibt, was erreicht werden kann, sie wird von keinem Wesen transzendiert; Essentialist*in zu sein, ist keine erfrischend knappe Antwort. Berührung muss nicht an die Grenze gehen oder irgendwo eindringen, um die Unberührbaren zu erreichen. Wir waren bereits zusammen.
Mit-Sein und Existieren
Berührung verweist auf zwei Aspekte ein und derselben Konfiguration. Der erste ist das sogenannte „Gemeinsame“, das kein abgeschlossenes Ganzes ist. Alles, was existiert, muss immer im Miteinander von allem vorkommen, was existiert. Die Welt besteht nur aus dieser Tatsache: alle Dinge, die zusammen geschehen, ohne dass eine Essenz sie zusammenhält. Das Gemeinsame besteht in der Tatsache, dass es ein koextensives Mit-Sein gibt. Der zweite Aspekt ist die Tatsache, dass die Existenz eine gewisse Regularität besitzt. Sie ist spezifisch, aber nicht außergewöhnlich, weil Individualisierung keine Essenz besitzt. Daher ist die Existenz immer allgemein. Berührung kennzeichnet die oberflächliche Tatsache, dass die Existenz nichts anderes ist als der Akt des Existierens als ein Geschehen unter anderen.
Unsere Aufmerksamkeit für das taktile Gedächtnis in der visuellen Welt rührt daher, dass wir uns Sorgen machen um jetzige und zukünftige Implikationen. Wie setzt Hautkontakt ethische Bedenken, Verbindungen und unser Dasein in dieser Welt frei? Wir wissen, dass die Zukunft ziemlich verschwommen aussieht, klar ist jedoch, dass wir keine Möglichkeit haben, mit der Welt um uns herum in Kontakt zu treten, wenn wir die Berührung oder das Visuelle außer Acht lassen. Wir haben dann keine Möglichkeit, unser Trauma einzugestehen, und auch keine neuen Möglichkeiten, Bildung zu gestalten und neu zu konfigurieren.
Wir können unser Verständnis darüber erweitern, wie sich die Sinne buchstäblich mit unseren Verhandlungen mit der Welt überschneiden. Wie berühren wir? Was berühren wir? Mit wem berühren wir? Lassen wir die Hände von etwas oder legen wir Hand an? Was ist die richtige Methode, um aus unserer Betroffenheit eine künstlerische Praxis zu machen? Diese Frage kann als gemeinsames Instrument zur Untersuchung der sogenannten Ästhetik der Betroffenheit verwendet werden.
Wir können wählen, was uns am meisten betroffen macht, nämlich die „Dinge“, die von Bedeutung sind, auch wenn eine Ungewissheit bleibt. Ungewissheit der Berührung heißt, wir sind auch mit dem Bereich des Möglichen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und dem der affektiven Bindung (sozial, politisch, historisch) in Kontakt.
Diese Art von Ästhetik leitet sich von etwas ab, das man als Berührung mit „Anliegen“ bezeichnen könnte, und diese kennzeichnet die einzigartige Natur der künstlerischen Praxis. „Dinge“, die uns wichtig sind, die uns am stärksten miteinander verbinden, sind offenbar Dinge, die zu überbrücken oder für die eine gemeinsame Basis zu finden unmöglich erscheint.
Das ist auch der Grund, warum „Dinge“, die wichtig sind, eine demokratische Möglichkeit in sich bergen: Sie bringen uns zum Reden, Diskutieren und Debattieren. Wir fahren fort, einander zu berühren, und das ist mit „gemeinsam“ gemeint: Gemeinschaft. Kunstaktivitäten brauchen mehr Repräsentation, Vermittlung und Übersetzung unserer Anliegen. Dazu benötigen wir einen neuen, anderen „Vervielfältiger“, der in der Lage ist, die uns wichtigen Anliegen auf eine Weise zu repräsentieren, die das Publikum anspricht.
Nicht, dass Kunstprojekte, die sich (nur) mit bestimmten sozialen Themen befassen, so gut geeignet wären, die „Dinge“ zu reproduzieren, die wirklich wichtig sind. Vielmehr deutet dies darauf hin, dass die „Dinge“ aus Kunstprojekten und die „Dinge“, die uns wichtig sind, im Grunde dasselbe sind – wenn auch natürlich in unterschiedlichen Settings. Mit anderen Worten: Da Kunstprojekte hybrid und durch ihren sozialen Kontext sowie ihre vielfältigen Akteur*innen umfassend beeinflusst sind, „repräsentieren“ sie nicht nur Probleme und Anliegen, sondern sind im Gegenteil ein Teil davon, so wie alle anderen am Alltagsgeschehen beteiligten Akteur*innen auch.
Die englische Originalfassung dieses Essays wurde erstmalig 2022 von Arts Cabinet im Editorial Ways into Knowing veröffentlicht.
Acong alias Onyenho (*1980) ist Bibliothekar und Archivar, Mitglied des KUNCI Study Forum & Collective (gegründet 1999 in Yogyakarta, Indonesien), freischaffender Musiker und bildender Künstler. Seine künstlerische Praxis besteht aus Illustrationen und grafischen Arbeiten. Er ist auch Sänger von Tjuei Lan Tseng, einer Soundcloud-Band, die mit einer Mischung aus Melayu-Klängen und madurischem Dialekt sowie einer Kombination aus arabischer und chinesischer Musik experimentiert. Aktuell betreibt er im Rahmen der kollektiven Experimente des KUNCI Study Forum & Collective mit nachhaltiger Wirtschaft zudem einen kleinen Verlag mit einem RISO-Drucker in der KUNCI Copy Station.
Khoiril Maqin (*1994) ist als Übersetzer, Redakteur und Autor für verschiedene lokale Verlage in Yogyakarta, Indonesien, tätig. In seinen Texten geht es um Humor, Ästhetik und Popkultur. Seit er 2016 Mitglied der School of Improper Education des KUNCI Study Forum & Collective wurde, hat er mit dem Kollektiv bei verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation über visuelle Kultur und Jugendfantasie im Studiengang Kulturwissenschaften an der Sanata Dharma University.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] Vgl. Luce Irigaray, The fecundity of the caress, in: Tina Chanter (Hg.), Feminist Interpretations of Emmanuel Levinas. Pennsylvania 2010, S. 119–144.
[2] Vgl. ebd., S. 142.
[3] Michael Taussig, Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Hamburg 1997, S. 36.
[4] Ebd., S. 49.
[5] Vgl. Divya Dwivedi/Shaj Mohan, The community of the forsaken: A response to Agamben and Nancy, in: Fernando Castrillón/Thomas Marchevsky (Hg.), Coronavirus, Psychoanalysis, and Philosophy. Conversations on Pandemics, Politics and Society. London 2021, S. 31–34.