Heft 4/2022 - Touch


Das Fremde in sich berühren – Die Alterität, die ich also bin

Karen Barad


Wenn zwei Hände sich berühren, entsteht eine fleischliche Sinnlichkeit, ein Austausch von Wärme, ein Gefühl von Druck, von Präsenz und eine Nähe des Andersseins, durch die man dem anderen fast so nahe ist wie sich selbst. Vielleicht sogar näher. Und wenn die beiden Hände zu ein und derselben Person gehören, könnte dies dann nicht ein unheimliches Gefühl des Andersseins des Selbst hervorrufen, ein buchstäbliches Sich-selbst-auf-Distanz-Halten beim Empfinden der Berührung, eine Begrüßung des Fremden in uns? Bei einer Berührung passiert so viel: Eine Unendlichkeit von anderen – andere Wesen, andere Räume, andere Zeiten – wird erweckt.
Wie nah sind sich zwei Hände, die sich berühren? Wie wird Nähe gemessen? Für welche Wissensinstitutionen, politischen Parteien, religiösen und kulturellen Traditionen, für den Infektionsschutz zuständigen Behörden, Einwanderungsbehörden oder politischen Entscheidungsträger*innen ist diese Frage nicht von Interesse, auch wenn sie keine angemessene Antwort darauf haben? Wenn es um das Thema Berührung geht, stehen fast allen die Haare zu Berge. Ich kann hier nur einige wenige Aspekte der Berührung aufgreifen und höchstens eine zarte Andeutung machen, was es bedeuten könnte, sich dieser unendlichen Endlichkeit zu nähern, es zu wagen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Viele Stimmen sprechen hier in den Zwischenräumen, in einer Kakofonie aus sich immer schon wiederholenden, intra-agierenden Geschichten. Es sind ineinander verschränkte Geschichten. Jede ist von der anderen durchdrungen und umhüllt. Liegt das nicht in der Natur der Berührung? Ist Berührung nicht ihrem Wesen nach immer schon eine Involution, eine Einladung, ein Besuch, ob gewollt oder ungewollt, des Fremden in einem selbst?

Elektrische Felder & Sehnsüchte: Anziehung und Abstoßung, Berührung kurz gestreift
Für Physiker*innen ist Berührung nichts weiter als eine elektromagnetische Interaktion. Eine gängige Erklärung für die Physik der Berührung besteht darin, dass sie eine Sache nicht beinhaltet … und zwar Berührung. Ein wirklicher Kontakt findet also gar nicht statt. Wir denken vielleicht, dass wir unsere Kaffeetasse berühren, wenn wir diese zum Mund heben, aber unsere Hand berührt die Tasse nicht wirklich. Natürlich können wir die glatte Oberfläche der Tasse dort spüren, wo unsere Finger damit in Kontakt kommen (oder zu kommen scheinen), aber was wir tatsächlich spüren, ist die elektromagnetische Abstoßung zwischen den Elektronen der Atome, aus denen unsere Finger bestehen, und denen, aus denen die Tasse besteht. Elektronen sind winzige, negativ geladene Teilchen, die die Atomkerne umgeben, und da sie die gleiche Ladung haben, stoßen sie sich gegenseitig ab, ähnlich wie starke kleine Magnete. Je geringer der Abstand zwischen ihnen ist, desto stärker wird die Abstoßungskraft. Egal, was man versucht, zwei Elektronen lassen sich nicht in direkten Kontakt miteinander bringen.
Der Grund dafür, dass sich der Tisch fest anfühlt oder das Fell der Katze weich oder dass wir (überhaupt) Kaffeetassen und einander die Hände halten können, ist ein Effekt der elektromagnetischen Abstoßung. Alles, was wir spüren, ist die elektromagnetische Kraft, nicht das andere, dessen Berührung wir suchen. Atome bestehen größtenteils aus leerem Raum, und die Elektronen, die sich am äußersten Rand der Atome befinden und Aufschluss über deren Umfang geben, können keinen direkten Kontakt ertragen. Elektromagnetische Abstoßung: Auf Distanz kommunizierende, negativ geladene Teilchen stoßen sich gegenseitig ab. Das ist die Geschichte, die uns die Physik normalerweise über Berührungen erzählt. Abstoßung als Kern der Anziehung. Schauen wir mal, wie weit wir bei Liebenden mit dieser Geschichte kommen. Kein Wunder, dass die Dichter*innen der Romantik die Nase voll davon hatten.
Die Quantentheorie der Berührung unterscheidet sich radikal von der klassischen Erklärung. Wie wir sehen werden, ist sie eigentlich radikal queer.

Die Quantenfeldtheorie: Eine virtuelle Einführung
Die Quantenfeldtheorie (QFT) erlaubt in der Geschichte der westlichen Physik einen radikal neuen Gedanken: den der Vergänglichkeit der Existenz von Materie. Nicht länger in der Unendlichkeit aufgehoben, wird Materie geboren, lebt und stirbt. Und darüber hinaus kommt es zu einer radikalen Dekonstruktion der Identität und der Gleichsetzung von Materie und Essenz auf eine Weise, die selbst das tiefgreifende Un/Geschehenmachen [un/doing] der (nicht-relativistischen) Quantenmechanik übertrifft. Die QFT ist ein Aufruf, ein lockendes Gemurmel aus dem Nichtwahrnehmbaren [insensible] innerhalb des Wahrnehmbaren [sensible] heraus, die Natur des Seins und der Zeit neu zu konzipieren. Die Einsichten der QFT sind entscheidend, doch das philosophische Terrain ist unwegsam, heikel und größtenteils unerforscht. Die Frage lautet, wie man hier mit äußerster Sorgfalt vorgehen kann. Wir müssen uns innerhalb der Wissenschaft bewegen und ein Teil von ihr sein, daran führt kein Weg vorbei. Leider kann ich in diesem eng gesteckten Rahmen nur die Oberfläche leicht berühren, sie gerade einmal streifen.
Die QFT unterscheidet sich von der klassischen Physik nicht nur hinsichtlich ihres Formalismus, sondern auch in ihrer Ontologie. Die klassische Physik steht in der Tradition der demokritischen Ontologie, die nur Teilchen und die Leere kennt, und fügt ein Element hinzu: Felder. In der klassischen Physik sind Teilchen, Felder und die Leere drei separate Elemente, während sie in der QFT drei intern aufeinander bezogene, sogar co-konstitutive Elemente sind.
Zum einen gibt es eine Entsprechung zwischen Teilchen und Feldern: Teilchen sind nämlich Quanten der entsprechenden Felder. So wird zum Beispiel eine gemäß der Newton’schen Physik äußere Kraft wie etwa die elektromagnetische Kraft oder die Gravitationskraft als Feld neu gedacht, das heißt, als elektromagnetisches Feld oder als Gravitationsfeld. In der QFT ist ein Teilchen oder Quant eines elektromagnetischen Felds ein Photon, das Quant eines Gravitationsfelds ist ein Graviton. Was wir in der Regel für Teilchen halten, sind Quanten der entsprechenden Felder. Demnach ist ein Elektron ein Quant eines Elektronenfeldes usw.
Ein weiteres Merkmal besteht darin, dass die Leere alles andere als leer ist und etwas sehr Tiefgreifendes mit dem Verhältnis zwischen Teilchen und Leere passiert. Im Folgenden werde ich erklären, wie dieses Verhältnis radikal neu gedacht werden kann. Zunächst möchte ich nur darauf hinweisen – ohne Demokrit nahetreten zu wollen –, dass Teilchen nicht länger ihren Platz in der Leere einnehmen. Stattdessen sind sie mit der Leere konstitutiv verschränkt.
Beginnen wir also mit der Frage, was Leere ist. Nichts. Eine Abwesenheit von Materie. Die leere Seite. Vollkommenes Schweigen. Kein Ding, kein Gedanke, kein Bewusstsein. Völlige ontologische Unbestimmtheit.
Sollen wir einige Worte über das Nichts äußern? Was gibt es da zu sagen? Wie anfangen? Wie kann etwas über das Nichts gesagt werden, ohne gegen seine Natur selbst zu verstoßen, vielleicht sogar seine Möglichkeitsbedingungen? Ist nicht jede Äußerung über das Nichts immer schon ein performativer Bruch mit dem, was man anzusprechen beabsichtigt? Haben wir nicht bereits zu viel gesagt, einfach indem wir seinen Namen aussprechen?
Im herkömmlichen Sinn ist die Leere das, was frei von Materie ist, das, was buchstäblich keine Rolle spielt.
Was das Quantenvakuum anbelangt, findet sich im Kern von (der) Materie … und Nicht-Materie wie bei allen Quantenphänomenen eine ontologische Unbestimmtheit (jedoch keine epistemologische Unschärfe). Geht es nicht vielmehr genau um das Wesen der Existenz bzw. Nichtexistenz oder um die Un/Möglichkeitsbedingungen von Nicht/Existenz? … Vielleicht handelt es sich hierbei um genau die Frage, die sich das Vakuum selbst stellt. Möglicherweise erzeugt oder vielmehr macht diese andauernde Selbstbefragung die Struktur des Nichts aus. Zweifelsohne experimentiert das Vakuum selbst mit dem Nicht/Sein. Un/Bestimmtheit ist nicht der Zustand eines Dings, sondern ein nicht enden wollender Dynamismus. Das Spiel der Un/Bestimmheit bedingt das Un/Geschehenmachen des Nicht/Dingseins [no/thingness].
Aus der Perspektive der klassischen Physik besitzt das Vakuum keine Materie und keine Energie. Doch das Quantenprinzip der ontologischen Unbestimmtheit zieht das Vorhandensein eines solchen Null-Energie-, Null-Materie-Zustands in Zweifel bzw. lässt ihn zu einer Fragestellung ohne entscheidbare Antwort werden. Nicht zu einer geregelten Angelegenheit bzw. überhaupt einem Thema. Und wenn die Energie des Vakuums nicht mit Bestimmtheit null ist, dann ist dieses auch nicht mit Bestimmtheit leer. Tatsächlich ist diese Unbestimmtheit nicht nur dafür verantwortlich, dass die Leere nicht nichts ist (wobei sie aber auch nicht etwas ist), sondern möglicherweise ist sie de facto die Quelle alles Seienden, ein Schoß, der Leben gebiert. Geburt und Tod sind nicht das alleinige Vorrecht der belebten Welt. „Unbelebte“ Wesen haben ebenfalls eine endliche Lebensdauer. „Teilchen können entstehen und sie können vergehen“, erläutert ein Physiker. Tatsächlich „ist es eine Angelegenheit von Geburt, Leben und Tod, die nach der Entwicklung eines neuen Fachs in der Physik, nämlich der Quantenfeldtheorie, verlangt. […] Die Quantenfeldtheorie ist eine Reaktion auf die flüchtige Natur des Lebens.“1
Der QFT zufolge kann das Vakuum nicht mit Bestimmtheit nichts sein, weil das Unbestimmtheitsprinzip „Fluktuationen“ des Quantenvakuums zulässt. Was verstehen wir unter solchen „Vakuumfluktuationen“?
Wenden wir uns einem sehr einfachen Beispiel eines Felds zu: einem unendlich großen Schlagzeugfell. Wenn das Fell nicht schwingt, ist es vollkommen plan und weist überall den gleichen Wert auf – nennen wir dies entsprechend der nicht vorhandenen Auslenkung den Nullwert. Wenn nun ein Trommelschläger die Membran anschlägt, schwingt sie und Energiewellen fließen vom Ort des Anschlagens nach außen. Bis hierhin folgen wir der klassischen Feldtheorie, in der ein vollkommen bewegungsloses Fell das klassische Vakuum (oder den energetischen Grundzustand) symbolisiert und ein schwingendes Fell einen energetisch angeregten Zustand. Nun ergänzen wir die Quantenphysik.
Das Feld zu „quantisieren“ bedeutet, dass lediglich bestimmte eigenständige Schwingungszustände existieren. (Sollten Sie nicht gewohnt sein, über verschiedene Schwingungsmodi einer Trommel nachzudenken, ist es möglicherweise einfacher, sich ein Saiteninstrument vorzustellen, bei dem nur eine diskrete Folge stehender Wellen oder Oberwellen möglich ist.) Jetzt fügen wir die spezielle Relativitätstheorie hinzu, insbesondere die Erkenntnis, dass Masse und Energie äquivalent sind (E = mc²). Da Schwingungen des Felds Energie leiten, nur eine bestimmte Anzahl an Energiezuständen besteht und jedem Energiezustand eine bestimmte Masse zugeordnet werden kann, können wir erkennen, dass ein mit einer bestimmten Frequenz oder Energie schwingendes Feld mit dem Vorhandensein von Materieteilchen mit einer bestimmten Masse äquivalent ist. Diese Entsprechung zwischen Quantenteilchen und quantisierten Feldern ist der Eckpfeiler der QFT.
Kehren wir nun zu unserer Frage zurück: Was ist eine Vakuumfluktuation? Folgt man dem Beispiel der Trommel, würde das Quantenvakuum einem Zustand entsprechen, bei dem der Durchschnittswert der Auslenkungen überall null ist, das heißt, es gibt keinen Trommler, der die Membran anschlägt. Und doch ist die Reglosigkeit des Trommelfells nicht gesichert bzw. gibt es keinen definitiven Sachverhalt im Hinblick auf die Frage, ob die Membran selbst in Abwesenheit jeglicher externer Störgrößen einschließlich des Trommelns absolut reglos ist oder nicht.
Das Vakuum ist beredtes Schweigen: Die leise Kakophonie verschiedener Frequenzen, Tonhöhen, Tempi, Melodien, Geräusche, pentatonischer Tonleitern, Schreie, von Geschmetter, Sirenen, Seufzern, Synkopen, Vierteltönen, Allegros, Ragas, Bebops, Hip-Hops, Wimmern, Jaulen, Kreischen – sie zieht sich durch die Stille, bereit, sich zu entladen, gleichzeitig jedoch von einer Störung unterbrochen, die den anhebenden Laut in ein Nicht/Sein, in eine unbestimmte Symphonie von Stimmen zerstreut und auflöst.
Anders ausgedrückt sind Vakuumfluktuationen die unbestimmten Schwingungen des Vakuums oder energetischen Grundzustands. Wenn wir diesen Gedanken in die Komplementärsprache der Teilchen statt in die der Felder übertragen, können wir Vakuumfluktuationen unter dem Aspekt des Vorhandenseins virtueller Teilchen verstehen: Virtuelle Teilchen sind Quanten der Vakuumfluktuationen. Demnach sind virtuelle Teilchen quantisierte Unbestimmtheiten in Aktion.
Das Vakuum stellt einen lebendigen Dynamismus im Hinblick auf die Unbestimmtheit des Nicht/Seins dar. Es ist ein Nicht/Dingsein. Es ist weder nichts noch etwas, sondern eine aufgeregt-ausschweifende Erforschung der Virtualität, in der virtuelle Teilchen, deren identifizierendes Merkmal die Unbestimmtheit ist, das Feld beim Experimentieren mit Sein und Zeit bespielen. Das heißt, Virtualität ist eine Art Gedankenexperiment, das die Welt vollzieht.
Virtuelle Teilchen haben nichts mit einer Metaphysik der Präsenz zu tun. Sie existieren nicht in Raum und Zeit. Sie sind geisterhafte Nicht/Existenzen, die auf dem schmalen Grat zwischen Sein und Nichtsein taumeln. Zugegebenermaßen ist die Virtualität schwer zu fassen. Das liegt in der Tat in ihrer Natur.

Quantenfeldtheorie: Eine heikle Angelegenheit
Was die QFT betrifft, so stößt man schnell auf Probleme: in erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht oder im Hinblick auf Arten, Identitäten, die Natur von Berührung und Selbstberührung, das Sein und die Zeit, um nur einige zu nennen. Nicht, dass hinter jeder Ecke Probleme lauern; laut der QFT befindet sich das Problem in uns und wir uns in ihm bzw. das Problem steckt in allem und in nichts – der Materie und der Leere.
Wie versteht die QFT das Wesen der Materie? Beginnen wir mit dem Elektron. Es ist eines der einfachsten Teilchen, ein Elementarteilchen, ein unstrukturiertes Teilchen. Noch das einfachste bisschen Materie verursacht alle möglichen Schwierigkeiten für die QFT, denn infolge seiner „zwischenzeitlichen“ Unbestimmtheit existiert das Elektron nicht als isoliertes Teilchen, sondern ist stets untrennbar mit den wilden Aktivitäten des Vakuums verbunden. Mit anderen Worten, das Elektron intra-agiert immer (schon) auf jede nur erdenkliche Weise mit den virtuellen Teilchen des Vakuums. So kann das Elektron ein virtuelles Photon emittieren und es dann wieder absorbieren. Diese Möglichkeit wird als elektromagnetische Intra-Aktion des Elektrons mit sich selbst verstanden. Ein Teil dessen, was ein Elektron ausmacht, ist die Intra-Aktion seiner Selbstenergie. Aber auch die Intra-Aktion seiner Selbstenergie ist kein Prozess, der isoliert abläuft. In dieser schäumenden virtuellen Suppe der Unbestimmtheit, die wir ironischerweise für einen Zustand der reinen Leere halten, können alle möglichen noch verwickelteren Dinge geschehen – und geschehen auch. Beispielsweise kann nicht nur das Elektron ein virtuelles Photon mit sich selbst austauschen – das heißt, sich selbst berühren –, sondern es ist auch möglich, dass das virtuelle Photon sich in anderen Intra-Aktionen mit sich selbst ergeht: So kann das virtuelle Photon eine Metamorphose/Transition vollziehen – seine eigene Identität ändern. Es kann sich in ein virtuelles Elektron-Positron-Paar verwandeln, dessen Teilchen sich anschließend gegenseitig auslöschen und in ein einzelnes virtuelles Photon zurückverwandeln, das dann wieder vom Elektron absorbiert wird. (Ein Positron ist das Antiteilchen des Elektrons – es hat die gleiche Masse, aber die entgegengesetzte Ladung und läuft in der Zeit rückwärts, was darauf hinausläuft, dass selbst die Richtung der Zeit unbestimmt ist.) Und so weiter. Dieses „und so weiter“ ist die Kurzfassung einer unendlichen Menge an Möglichkeiten, die alle möglichen Intra-Aktionen mit allen möglichen virtuellen Teilchen umfasst, mit denen es intra-agieren kann. Es findet also eine virtuelle Erkundung sämtlicher Möglichkeiten statt. Und diese unendliche Menge an Möglichkeiten oder unendliche Summe von Geschichten bringt es mit sich, dass ein Teilchen sich selbst berührt und das Teilchen, das die Berührung überträgt, sich verwandelt, dass diese Berührung sich wiederum selbst berührt und verwandelt und schließlich andere Teilchen berührt, die das Vakuum bilden, und so weiter, ad infinitum. (Nicht jede Intra-Aktion ist möglich, doch die Anzahl der Möglichkeiten ist grenzenlos.) Jede Ebene der Berührung wird also selbst von allen möglichen anderen berührt. Die Intra-Aktionen der Teilchen mit sich selbst führen zu Teilchenübergängen von einer Art zu einer anderen – ein radikales Rückgängigmachen von Arten, oder auch: Queer/Trans*Formationen. Selbstberührung ist also eine Begegnung mit der unendlichen Andersartigkeit des Selbst. Materie ist ein Umfassen, eine Involution, sie kann nicht anders, als sich selbst zu berühren, und in dieser Selbstberührung kommt sie in Kontakt mit der unendlichen Alterität, die sie ist. Polymorphe Perversität, zu einer unendlichen Macht erhoben: Das ist queere/Trans*-Intimität!
Was hier infrage gestellt wird, ist die eigentliche Natur des „Selbst“, und zwar nicht nur in Bezug auf das Sein, sondern auch auf die Zeit. In einem wichtigen Sinne wird das Selbst also durch Zeit und Sein zerstreut/gebrochen. Der Physiker Richard Feynman, der für seine Beiträge zur Entwicklung der QFT mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, äußerte sich in einem Kommentar zur Selbstenergie des Elektrons entsetzt über die monströse Natur des Elektrons und seine perverse Art, sich mit der Welt auseinanderzusetzen: „Anstatt sich direkt von einem Punkt zu einem anderen zu begeben, kann es nach einem Stück Wegs plötzlich ein Photon emittieren und dann (o Schreck!) das eigene Photon absorbieren [...], mag so etwas nun ,unmoralisch‘ sein oder nicht!“2
Der Begriff der Selbstenergie/Selbstberührung wurde auch als Perversität der Theorie bezeichnet, weil die Berechnung dieser Selbstenergie ins Unendliche geht und dies eine inakzeptable Antwort auf die Frage nach der Natur des Elektrons darstellt (zum Beispiel welche Masse oder Ladung es hat). Sich selbst zu berühren oder von sich selbst berührt zu werden – die Vieldeutigkeit/Unentscheidbarkeit/Unbestimmtheit mag hier selbst der Schlüssel zum Problem sein – ist nicht einfach verstörend, sondern ein moralischer Verstoß, der eigentliche Ursprung der ganzen Problematik.
Das „Problem“ der Selbstberührung, insbesondere der Selbstberührung des anderen, ist eine Perversität der QFT, die noch viel weitreichender ist, als wir hier erörtern können. Die Quintessenz ist folgende: Diese Perversität, die einer unerwünschten Unendlichkeit zugrunde liegt, die die Möglichkeit der Berechenbarkeit gefährdet, wird „renormalisiert“ (offensichtlich – sollten wir etwas anderes erwarten?!).
Wie geschieht dies? Physiker*innen vermuteten, dass es sich um zwei verschiedene Arten von Unendlichkeiten/Perversitäten handelt: Die eine hat mit Selbstberührung zu tun, die andere mit Nacktheit. Zusätzlich zur Unendlichkeit, die mit der Selbstberührung verbunden ist, existiert also eine Unendlichkeit, die mit dem „nackten“ Elementarteilchen zu tun hat, das heißt, mit der eingangs erwähnten metaphysischen Annahme, es gäbe nur ein ganz bestimmtes Elektron, nämlich das „unbekleidete“, „nackte“ Elektron – und die Leere, und dass beide voneinander getrennt existieren. Die Renormalisierung besteht in der systematischen Wegkürzung von Unendlichkeiten: eine Intervention, die auf der Vorstellung beruht, dass die Subtraktion (verschieden großer) Unendlichkeiten eine endliche Menge ergeben kann. Perversität, die Perversität beseitigt. Die Idee der Annullierung ist folgende: Die Unendlichkeit des „nackten“ Elementarteilchens annulliert die Unendlichkeit, die mit der „Wolke“ virtueller Teilchen in Verbindung gebracht wird; auf diese Weise wird das „nackte“ Elementarteilchen von dem Beitrag des Vakuums (das heißt der Wolke virtueller Teilchen) „bekleidet“. Das „bekleidete“ Elektron ‒ sozusagen das Elektron in drag ‒ sprich, das physische Elektron wird dadurch renormalisiert, das heißt, „normal“ (endlich) gemacht. (Ich benutze hier Fachsprache!) Renormalisierung ist die mathematische Handhabung/Zähmung dieser Unendlichkeiten. Das heißt, die Unendlichkeiten werden voneinander „subtrahiert“, was eine endliche Antwort ergibt. In mathematischer Hinsicht ist dies ein Triumphakt, in konzeptueller Hinsicht eine wahre Freude für queere Theoretiker*innen. Es zeigt, dass jegliche Materie, das „Wesen“ der Materie (genau das, was an dieser Stelle problematisiert wird), aus einer massiven Überlagerung von Perversitäten besteht: eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die QFT die Ontologie der klassischen Physik radikal dekonstruiert. Die ursprüngliche Ontologie der Teilchen und der Leere ‒ ein fundamentaler, reduktionistischer Essentialismus ‒ wird durch die QFT annulliert. Gemäß der QFT bilden Perversität und Monstrosität den Kern des Seins, besser gesagt, sie sind dadurch verwoben. Jegliche Berührung beinhaltet eine unendliche Alterität, sodass eine/n andere/n zu berühren bedeutet, alle anderen – auch das ‚„Selbst“ – zu berühren, und das „Selbst“ zu berühren bedeutet, die Fremden in einem zu berühren. Sogar die kleinsten Teile der Materie sind unergründliche Vielheiten. Jedes „Individuum“ beinhaltet immer schon alle möglichen Intra-Aktionen mit „sich selbst“ durch alle virtuellen Anderen einschließlich jener, die nicht zeitgleich mit „sich selbst“ sind. Das heißt, jedes endliche Wesen ist immer schon von einer, durch Sein und Zeit gebrochenen, unendlichen Alterität durchwoben. In der Unbestimmtheit liegt eine Herstellung/Aufhebung [un/doing] von Identität begründet, die die Grundfesten des Nicht/Seins erschüttert.
Elektronen sind ihrer Natur nach Chimären ‒ artenübergreifende Hybride ‒, bestehend aus virtuellen Konfigurationen/Rekonfigurationen verschiedenster, in Raum und Zeit verstreuter Daseinsformen in einer Aufhebung von Art, Sein/Werden, Anwesenheit/Abwesenheit, hier/dort, jetzt/vorher. So viel zur natürlichen Essenz. Das Elektron ‒ ein Elementarteilchen ohne Struktur ‒ ist ein Flickwerk verschiedener Arten, die in geisterhaften Konfigurationen miteinander verwoben sind. Es schafft fortwährend neue Verbindungen verschiedener Teilchen-Antiteilchen-Paare, produziert und absorbiert dabei Unterschiede jedweder Art, wobei „Art“ im Sinne eines essenziellen Unterschieds eine radikale Aufhebung erfährt: Seine Identität besteht in der Aufhebung von Identität. Seiner eigentlichen Natur nach ist es unnatürlich, nicht gegeben, nicht festgelegt, sondern im ewigen Übergang und Wandel begriffen. In ihrer Auseinandersetzung mit allen anderen gebären sich Elektronen selbst (wieder), jedoch nicht in einem Akt der Selbstgeburt, sondern in einer fortwährenden Neuerschaffung, also einer Herstellung/Aufhebung ihrer selbst. Elektronen sind immer schon unzeitig [untimely]. Es ist nicht so, dass sich Elektronen hin und wieder in solch perverse Unternehmungen stürzen würden, vielmehr machen diese Experimente in Sachen intra-aktiver, transmaterieller Performativität ein Elektron erst aus.
Ontologische Unbestimmtheit, radikale Offenheit und die Unbegrenztheit von Möglichkeiten bilden den Kern der Entstehung von Materie. Wie merkwürdig, dass Unbestimmtheit in ihrer unendlichen Offenheit die Möglichkeitsbedingung aller Strukturen im Hinblick auf die dynamische Rekonfigurierung von In/Stabilitäten darstellt. Materie in ihrer sich wiederholenden Materialisierung ist ein dynamisches Spiel von Un/Bestimmtheit. Materie ist niemals beständige Materie. Sie ist immer schon radikal offen. Es kann keinen Abschluss geben, wenn die Un/Möglichkeitsbedingungen und gelebten Unbestimmtheiten dem, was Materie ausmacht, wesentlich sind und nicht etwa eine Ergänzung dazu bilden. In einem wichtigen Sinne, in einem atemberaubend intimen Sinne ist Berühren und Empfinden das, was die Materie tut, oder besser gesagt, was die Materie ist: Materie ist eine Verdichtung der Fähigkeit zu reagieren, zu antworten auf das Verlangen, in Kontakt zu sein, eine kollektive Ansprechbarkeit/Empfänglichkeit.
Jedes bisschen Materie beruht auf der Fähigkeit zu antworten; jedes ist als für den anderen verantwortlich konstituiert, als mit dem anderen in Berührung stehend. Materie bedeutet unzeitige und unheimliche Intimität, Verdichtungen von Sein und Zeiten
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1 A. Zee, Quantum Field Theory in a Nutshell. Princeton 2010 [Orig. 2003], S. 3–4.
2 Richard Feynman, QED: Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie. München/Zürich 1992, S. 134.

Übersetzung aus dem Englischen: Gülçin Erentok und Anja Schulte

Bei dem Text handelt es sich um einen Vortrag vom 24. März 2018 auf dem Symposion Hold Me Now. Feel and Touch in an Unread World, kuratiert von Jack Halberstam, Stedelijk Museum, Amsterdam. Eine aktualisierte Version wurde am 5. November 2020 auf einer von The Poetry Project New York organisierten Online-Konferenz präsentiert.

Die Textfassung basiert auf den folgenden drei Publikationen:
Karen Barad, What is the Measure of Nothingness? Infinity, Virtuality, Justice/Was ist das Maß des Nichts? Unendlichkeit, Virtualität, Gerechtigkeit (Übersetzung von Astrid Wege), in: dOCUMENTA (13), 100 Notes – 100 Thoughts/100 Notizen – 100 Gedanken | Buch Nr. 099, 2012.
Karen Barad, On Touching – The Inhuman That Therefore I Am, in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, Sonderausgabe Feminist Theory Out of Science, Vol. 23 (3), 2015, S. 206–223. Auf Deutsch erschienen unter „Berühren – das Nicht-Menschliche, das ich also bin (V.1.1)“, in: Kerstin Stakemeier/Susanne Witzgall (Hg.), Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich/Berlin 2014.
Karen Barad, TransMaterialities: Trans*/Matter/Realities and Queer Political Imaginings, in: Mel Chen/Dana Luciano (Hg.), GLQ, Sonderausgabe Queer Inhumanisms, Vol. 21(2–3), 2015, S. 387–422.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok und Anja Schulte