Heft 4/2022 - Netzteil


Die Daten der anderen

Ein Update zur Debatte um die Digital Divide

Martin Conrads


Vielleicht ist es nur ein Lapsus Calami (oder, for that matter, ein Lapsus Manus), aber zumindest ist es ein skurriles Beispiel dafür, wie das Unterlaufen der eigenen Wahrnehmung selbstgesetzte Ziele bei der Analyse digitaler Geografien durchkreuzen und gleichzeitig die Wichtigkeit der Aktualisierung dieser Wahrnehmung hervorheben kann: Gleich zu Beginn ihres Buchs Data and Inequality. Geographies of Digital Exclusion (2022) nennen die Internet-/Digitalgeografen Mark Graham und Martin Dittus Beispiele dafür, wie digitale Information in alltägliche Geografien eingeschrieben ist (und so auch über digital erwirkte Ausschlüsse Zeugnis gibt). Neben Bemerkungen dazu, wie sich der Konflikt um das Verständnis von Jerusalem als Hauptstadt entweder Israels oder der palästinensischen Autonomiebehörde in den Einträgen einerseits des hebräischen, andererseits des arabischen Wikipedia-Eintrags widerspiegele, sowie Beobachtungen darüber, wie der Ebola-Epidemie 2014 in Guinea mithilfe des Humanitarian OpenStreetMap Teams (HOT) medizinisch entgegengetreten werden konnte, verweisen die Autoren auch auf die Temperance Street im englischen Manchester als Ort einer solchen Einschreibung: Ein Google-Street-View-Auto habe dort einmal (genauer: im Frühjahr 2013) einen Blowjob dokumentiert. Ein paar Seiten später schreiben Graham und Dittus, dass Karten, insofern sie die Welt nicht nur abbilden, sondern auch verändern, beeinflussen, wie wir die Welt wahrnehmen. Vor allem aber ginge es ihnen um die weiterführende Argumentation darüber, „dass im digitalen Zeitalter Plattformen wie Google und Wikipedia eine entscheidende Rolle zukomme, wie Raum konstruiert wird und wie wir ihn als Nutzer ihrer Dienste wahrnehmen“.
Nun mag es auf den ersten Blick spitzfindig wirken, darauf zu beharren, dass es sich bei der von Google dokumentierten Szene nicht um einen Blow-, sondern ganz offensichtlich um einen Handjob handelte (auch soll hier aus dem Vermerken dieses Fehlers nicht auf das Buch als Ganzes geschlossen werden). Tatsächlich stellt sich dabei aber durchaus die Frage: Haben sich Graham und Dittus das schon in die Jahre gekommene Bildmaterial, diesen aus verschiedenen Perspektiven technisch konstruierten urbanen Raum überhaupt angesehen, und wenn nicht, was sagt das wiederum darüber aus, wie sie sich als Nutzer der Dienste von Google den Raum konstruieren, über den sie schreiben?
Mit der Mitte September 2022 im Konferenzsaal des Campus für Demokratie auf dem Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg abgehaltenen Konferenz The Digital Divide hat, außer der zeitlichen Nähe von Erscheinungsdatum und Veranstaltung, weder das erwähnte Buch noch die besagte Stelle direkt zu tun. Dennoch war die nur spärlich besuchte Konferenz, organisiert an diesem Ausstellungsort der 12. Berlin Biennale von deren Kurator Kader Attia und Noam Segal, Mitglied des künstlerischen Teams, ein auf einen neueren Stand zur Diskussion bringendes Beispiel dafür, wie (auch methodologisch) divers die Diskussion um in Alltagsgeografien eingeschriebene Ausschlüsse und Ungerechtigkeiten in Bezug auf digitale Information mittlerweile geführt werden muss: Der Blick, so die im Anschluss an Jonathan Crary aufgestellte Ausgangsthese der Konferenz, sei mittlerweile multidirektional, „angeeignet, abstrahiert, abgeleitet und gekapert“ von algorithmischer Governance, unterstützt, wie einige Konferenzbeiträge vermittelten, durch Künstliche Intelligenz (KI) oder Web3. Prädiktive Analytik etwa verschärfe sowohl Ungleichheiten als sie uns auch in Blasen schicke, die kulturelle Homogenisierung nur vorgaukle, zum Vorteil der einen, zum Nachteil der anderen, so der Ankündigungstext: „Für viele ist das Verschwinden der Unterschiede in Wirklichkeit eine Wiedereinführung der Ungleichheit.“ Oder, wie Attia in seinen einführenden Worten die Problemlage der Gegenwart und den Grund für die Notwendigkeit der Konferenz beschrieb: Wir durchleben unglaubliche zivilisatorische Veränderungen, während gleichzeitig alles beim Alten bleibt.
Die in Luxemburg zum Zusammenhang von Recht und Kultur forschende Katrin Becker brachte diese Beobachtung Attias geografisch für die Konferenz auf den Punkt. So würden Blockchain-Anwendungen an den gleichen Orten im Silicon Valley entwickelt, die auch für den Digital Divide verantwortlich sind. Warum es gerade Blockchain-Anwendungen sind, die neue Fragen von technologisch determinierter Gerechtigkeit aufwerfen, diskutierte Becker anhand von Argumenten dazu, ob und inwiefern Recht dezentralisiert werden kann. Der für Blockchain-Technologien wesentliche Aspekt des „Disembodiment“, der Entkörperlichung, würde herkömmlichen Rechtsvorstellungen gegenüberstehen, die von einem territorial gebundenen rechtlichen und politischen Korpus (wie etwa dem menschlichen Körper) ausgehen. Würde Rechtsprechung in ein auf Berechnungen beruhendes Konzept umgewandelt, etwa mithilfe des auf ein Konzept von Geist (mind) aufbauenden Prinzips der dezentralisierten autonomen Organisation (DAO), könnte dies nicht nur zu einem Konflikt zwischen der traditionellen juristischen und der juristischen Blockchain-Welt, sondern auch zu einem Konflikt zwischen verschiedenen Blockchain-Orders führen. In letzterem Fall führe dies auch zu einem Ausschluss des „Meatspace“, des Körpers – der Digital Divide finde hier also zwischen Mensch und Maschine statt. Zwar würde bei der Einführung von dem Blockchain-Prinzip entsprechenden dezentralisierten Jurys (zum Beispiel global verteilte, anonym agierende Freiwillige, die auf der Basis für sie hochgeladener Datensätze über den Ausgang einer Rechtsstreitigkeit entscheiden) Rechtsprechung nicht mehr (nur) eine Angelegenheit von korrumpierbaren Richter*innen bleiben. Allerdings würde so auch das gesamte Konzept von Gerechtigkeit, wie wir es bisher kennen, infrage gestellt.
Dass es hierfür nicht des Einsatzes von Blockchain-Prinzipien bedarf, sondern dass allein schon die Implementierung von KI im Gerichtswesen zu neuen Fragen der Gerechtigkeitsverteilung führt, machte die in Princeton forschende Philosophin Shazeda Ahmed deutlich. Die Volksrepublik China verfüge zwar über den größten Bestand an Open-Data-Gerichtsurteilen in der Welt, dies allein sei jedoch kein Garant für Transparenz, denn zum einen weise die Datenbank große Lücken auf, zum anderen würden die Daten verwendet, um anstehende Gerichtsurteile mit älteren per KI zu vergleichen – mit Konsequenzen für die daraus resultierenden Richtersprüche.
Die Bemerkung, dass Technologie nicht neutral ist – ein Dauerbrenner der seit den 1990er-Jahren geführten Digital Divide-Debatte –, war ein Gemeinplatz auch dieser Konferenz. Beiträge wie die erwähnten zum Thema „Automated Fairness“ zeigten allerdings erneut, dass die Diskussion über datengetriebene Ungleichheit nicht nur geografische Aspekte umfassen sollte. Umso mehr, wenn das Ziel – wie auch hier immer wieder beschworen – darin liegen soll, Widerstandsstrategien gegen aktuelle, digital bedingte bzw. verstärkte Ungerechtigkeiten zu entwickeln.

https://12.berlinbiennale.de/de/program/the-digital-divide/