Der Planet brennt, und die Digitalkultur muss sich den Vorwurf gefallen lassen, zu lange dabei zugesehen zu haben. Oder, was vielleicht noch schwerer wiegt: Sie muss sich dem, lange Zeit nicht ernst genommenen Befund stellen, dass sie selbst zu diesem Weltenbrand entscheidend beigetragen hat, und dies noch immer tut. Dabei gibt es die eine Digitalkultur selbstverständlich nicht, und es existieren seit Längerem schon Stimmen, die auf die gravierenden ökologischen Implikationen digitaler Technologien hinweisen. Bereits 2016 legte der Medientheoretiker Sean Cubitt in seinem Buch Finite Media eine tiefgründige Blaupause dafür vor, was alles an Umweltbelangen in die Produktion, den Betrieb und den schlussendlichen Verbleib digitaler Gerätschaften miteinzubeziehen ist.1 Seither haben sich die Studien und kritischen künstlerischen Ansätze in dieser Richtung vervielfacht – ja, fast mutet es danach an, als verfinge man sich aktuell in einer selbstwidersprüchlichen Gemengelage: Mit digitalen Mitteln auf die schädlichen Auswirkungen des Digitalen aufmerksam zu machen – Aspekte wie Ressourcenverbrauch und Ökobilanz also mittels derselben Infrastrukturen zu kritisieren versuchen, die man inhaltlich (und kritisch) in den Fokus nehmen möchte –, wie soll das ernsthaft zusammengehen?
Dabei existieren klarerweise Abstufungen, und nicht jedem warnenden Ansatz ist mit diesem Pauschalargument seine Legitimität abzusprechen. Möchte man die aktive Rolle digitaler Technologien in Bezug auf die große Katastrophe, auf die gegenwärtig alles zusteuert, realiter ermessen, so muss zweifelsohne zunächst eine immanente, selbstkritische Bestandsaufnahme erfolgen. Und diese kann nur aus dem inneren Getriebe der Netz- und Digitalkultur selber kommen. Dennoch zeichnet sich aktuell auch ein Trend ab, den ökologischen – und potenziell weltrettenden – Aspekt demonstrativ in den Vordergrund zu rücken, während hintergründig alles wie gewohnt weiterläuft, oder noch wachstumsintensiver als bislang ausfällt. Festivals und Großinstitutionen sind in dieser Crux viel weitreichender verfangen als einzelkünstlerische Unternehmungen. Dennoch soll im Folgenden exemplarisch auf Letztere eingegangen werden, um anhand konkreter Einzelarbeiten einen grundlegenden Aspekt zu diskutieren: Wie nämlich, über welche ästhetisch-konzeptuellen Raster, sind Fortschrittskepsis und der Glaube an eine Transformation zum Besseren miteinander verzahnt? Welcher dialektischen Dynamik liefern sich die betreffenden Werke in dieser Hinsicht aus? Und schließlich: Wie können der Anspruch auf Weltrettung und die bisweilen profunden Einsichten in die negativen Kehrseiten des Digitalen auf konstruktive Weise kombiniert werden – ohne sich dabei in den erwähnten Selbstwidersprüchen zu verheddern?
Gelähmtes Herz
Eine Kehrtwende, den Inbegriff des Digitalen betreffend, versucht Lynn Hershman Leeson, in ihrer jüngsten Filmarbeit anzuregen. Logic Paralyzes the Heart, erstmals in der Themenausstellung der letzten Venedig Biennale zu sehen, nimmt die Figur des Cyborgs in Augenschein, um daran fatale Entwicklungen – und eben auch eine potenzielle Umkehr – festzumachen. Die Protagonistin des Films, Cyborg #1 (gespielt von der Hollywoodschauspielerin Joan Chen), ist aktuell 61 Jahre alt und befindet sich, wie Hershman Leeson vermerkt, in einer veritablen Midlife-Crisis.2 Soll heißen: Nachdem Ingenieure der NASA 1960 dieses Hybridwesen ersonnen haben, das den Weg zur Befreiung der Menschheit weisen sollte, ist die Geschichte seither alles andere als gut verlaufen. In pointiertem Schnelldurchlauf rekapituliert der zunächst von einem Touchscreen zu uns sprechende Cyborg selbstreflexiv die Stationen dieses Dramas: vom Vietnam-Krieg angefangen, für den intelligente Waffensysteme entwickelt werden sollten, über die Erfindung eines „revolutionären Algorithmus“ namens PredPol (Kurzform von „Predictive Policing“), bis hin zu inzwischen allgegenwärtiger Gesichtserkennungs- bzw. Profiling-Software (aufgehängt an der Tatsache, dass Amazon gemeinsam mit dem Sicherheitsgiganten Palantir der US- Immigrations- und Polizeibehörde zuarbeitet). All das und vieles mehr führt uns der humanoide Cyborg in knappen Zusammenfassungen – mit entsprechendem Filmmaterial unterlegt – ebenso nachdenklich wie betörend vor Augen, um so seiner einseitigen Ausrichtung auf Überwachung, Gewalt und Profit Rechnung zu tragen.
Weit gefehlt aber zu glauben, dass Hershman Leeson es bei dieser bekannten (Dystopie)-Suada bewenden ließe. Vielmehr lässt sie einen Doppelgänger des ersten Cyborgs, seinen „Human Avatar“ (ebenfalls gespielt von Chen), auftreten, der im Dialog eine Art Korrektiv zu der einseitig verlaufenen Geschichte entwirft. Der Fokus auf abstrakte Intelligenz und die Tendenz, alles in Code und Daten rückübersetzen zu wollen, seien eben nicht genug. Die Gefahr der Auslöschung der Menschheit, welche die bisherige Cyborg-Entwicklung fahrlässig ignoriert habe, erfordere andere Mittel – naiv anmutende Eigenschaften wie Intuition, die Fähigkeit zu träumen oder eben: ein Herz für die vom Verschwinden bedrohte Umgebung zu haben.
All das hat die 60 Jahre währende Geschichte des Cyborgs, gemeint sind damit digitale Systeme im Allgemeinen, unterschlagen, und es ist nun an der Zeit, generative Technologien und Schwarmintelligenz – interaktiv bzw. kooperativ – in den Dienst eines umfassenderen Gemeinwohls zu stellen. „We’re in this together“, heißt es gegen Ende des Films, und so blauäugig-utopisch die Ansprache des Avatars auf Anhieb klingen mag, so unerlässlich (und unabweislich richtig) ist diese Einsicht für das mögliche Überleben des Planeten. Fortschritt, wenn man dieses große Wort in den Mund nehmen mag, ist einzig möglich, wenn die innere Gespaltenheit des Cyborgs selbst hinreichend erkannt wird. Mit anderen Worten: wenn seiner gewalt- bzw. profitorientierten Zurichtung endlich ihr immanenter Gegensinn vor Augen geführt – und einer Perspektive der Koexistenz und der Überlebenssicherung Rechnung getragen wird. Oder nochmals anders formuliert: wenn der gegenwärtigen Lähmung aufgrund der umfassenden digitalen „Versorgung“, der wir alle unterliegen, wirkungsvoll entgegengetreten wird.
Blut, Schweiß und Giftlacken
Diese umfassende Versorgung nimmt Vladan Joler in seiner Begriffskartografie New Extractivism in Augenschein. Das Projekt war ursprünglich als „konzeptuelle Assemblage“ in Text- bzw. Diagrammform angelegt, wurde inzwischen aber auch als grafische Filmanimation umgesetzt.3 Jolers Ansatz, den er schon in Arbeiten wie Monologue of the Algorithm oder der gemeinsam mit Kate Crawford realisierten Mapping-Studie Anatomy of an AI System erfolgreich angewandt hat,4 besticht zunächst durch seine begriffliche Verdichtung. Indem zentrale Schlagworte, Termini, Theorien samt deren Querverbindungen grafisch – in strikter Schwarz-Weiß-Ästhetik – modelliert werden, entsteht eine maschinenhaft anmutende Assemblage, die wie ein weit ausholender, alles in ihren Bann ziehender Megaapparat aussieht. Bei New Extractivism ist dies ein aus 33 (in der Filmversion 22) ineinandergreifenden Teilmodulen bestehendes Gefüge, das in Summe wie ein riesiges mechanisches Monster die Welt beherrscht. Dabei erstreckt sich der monströse Apparat, zitathaft montiert, von der alles einsaugenden Gravitas digitaler Plattformen bzw. der Gewalt des neuen „Platopticons“ (einer Kontamination aus Platons Höhle und Benthams Panoptikum), über die Schaffung von „Dividueen“ und eine immer „rhizomatischere“ Überwachungsarchitektonik, hin zu fraktalen Lieferketten und einem „digitalen Kolonialismus“, dessen Tragweite erst allmählich ins Bewusstsein gelangt. Jedenfalls ankert das gesamte „allegorische Konstrukt“, als welches Joler diese Kreatur ausweist, abgrundtief im organischen (terrestrischen) Leben – oder, wie er es polemisch zuspitzt, in „Blut, Tränen und giftigen Seen“.
Fortschrittskepsis, die Platz lässt oder Spielraum sieht für rettende Maßnahmen, ist hier einer umfassenden, ja in ihrer grafisch-konzeptuellen Rigorosität gleichsam total gewordenen Dystopie gewichen. Auch wenn das Ganze als Allegorie, sprich als gleichnishafte Aneignung bereits existierender (Theorie-)Bruchstücke angelegt ist, scheint jeder Möglichkeitssinn, hin auf etwas anderes als das Dargestellte, von der Totalität und Gewalt des vor Augen geführten Apparats absorbiert zu werden. Eine ökologische Umkehr, wie Hershman Leeson sie in ihrer Selbstkonfrontation des Cyborgs für möglich hält, scheint hier gänzlich ausgeschlossen.
Wolken, die vom Himmel fallen
Ein im Vergleich zu Hershman Leeson und Joler anders gelagerter Zugang findet sich in Josefina Buschmanns Film The Fallen Clouds. Der Film, der in Kooperation mit einer Reihe weiterer Forscher*innen und Künstler*innen entstand und zuletzt etwa in der Themenausstellung der Ars Electronica gezeigt wurde,5 wählt einen ganz spezifischen geografischen – und damit im Sinne Bruno Latours „terrestrischen“6 – Fokus. Konkret geht es um die Materialisierungen der „Cloud“ in bestimmten Landstrichen Chiles, etwa einem Datenzentrum von Google in einem Stadtteil von Santiago, in Unterwasserglasfaserkabeln, die im Pazifik verlegt sind, oder in der Atacama-Salzwüste, inzwischen weltberühmt aufgrund der forcierten Lithium- bzw. Kuper-Gewinnung, die dort seit geraumer Zeit stattfindet. Wir sehen Aktivistinnen, die Plakate malen und diese nachts affichieren, um auf den Ressourcenverbrauch von Google aufmerksam zu machen („Vorsicht Datenzentrum – Die Wolke speist sich aus Wasser!“). Oder wir begleiten Geologinnen und indigene Anwohnerinnen in die Atacama-Wüste, wo sie das Lithium-hältige Salzgestein begutachten und alter Mythen gedenken (die Salzablagerungen werden von den Indigenen als Tränen des Vulkans Licancabur betrachtet). Immer wieder werden, begleitet von einem eindrücklichen experimentellen Soundtrack, die Mineralien, aus denen ein Gutteil der Cloud-Infrastruktur gemacht ist, in unterschiedlichen Großaufnahmen gezeigt. Zuletzt spielen Kinder ein Spiel, bei dem sie zackige Gesteinsbrocken und ramponierte Smartphones übereinander auftürmen – während aus dem Off daran erinnert wird, dass aufgrund des extraktiven Vorgehens die Wasservorräte der Wüste zerstört werden.
Konzipiert ist The Fallen Clouds als Installation, bei der allerlei elektronische Bauteile und Soundgeneratoren von der Decke hängen, um so die Sicht auf die Filmprojektion physisch bzw. akustisch zu blockieren. Gleichzeitig kommt in der Multimedialität des Settings bzw. darin, wie Text, Sound, Rhythmik und diverse Oberflächentexturen im Film miteinander verwoben sind, eine Vielheit an sensorischen Registern zum Tragen. Dies widerspricht nicht nur der vermeintlichen Glätte und Entrücktheit der Cloud, sondern bindet die digitalen Infrastrukturen, deren „Gemachtheit“ die Arbeit primär anvisiert, zurück an ihre konkreten ökologischen Einbettungen – von der Rohstoffbasis angefangen über den laufenden Betrieb von Serverfarmen bis hin zu unnütz oder dysfunktional gewordenem Endverbraucherschrott.
Fortschrittskepsis und mögliche Linderung der katastrophalen Beschleunigung, der alles gegenwärtig unterliegt, sind hier über eine ganz spezifische ästhetische Materialität miteinander verknüpft. Nicht dass der Film viel Hoffnung verbreiten würde, dass man irgendetwas groß ungeschehen machen könnte. Aber allein in der Machart, wie er Sichtweisen und Gegenerzählungen anhand ihrer medialen Granularität miteinander verzahnt, liegt unmissverständlich ein Fingerzeig, welche Sphärik des nicht-konformen Widerstreits sich hier auftut. Oder umgekehrt: wie „erdverknüpft“ alles Digitale letztlich konstituiert ist und die Wolken nicht über, sondern unter uns sind.
[1] Sean Cubitt, Finite Media. Ecological Implications of Digital Technologies. Duke University Press 2016.
[2] Vgl. Courtney Malick, Lynn Hershman Leeson in Venice: Logic Paralyzes the Heart, Topical Cream, 1. Mai 2022; https://topicalcream.org/features/lynn-hershman-leeson-in-venice-logic-paralyzes-the-heart/.
[3] Vgl. https://www.internationaleonline.org/research/politics_of_life_and_death/170_new_extractivism_assemblage_of_concepts_and_allegories/ bzw. https://extractivism.online/.
[4] Siehe https://vimeo.com/249633335 bzw. https://anatomyof.ai/.
[5] https://creatures-eu.org/productions/fallen-clouds/ bzw. https://ars.electronica.art/planetb/de/studiotopia/.
[6] Bruno Latour, Das terrestrische Manifest. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Berlin 2018.