Ich betrat die documenta fifteen durch die Hintertür
Ich wusste, dass das Fridericianum über einen geheimen Zugang für Babys und Kleinkinder bis vier Jahre verfügt. Und da ich mit meiner Partnerin und unserer dreijährigen Tochter in Kassel war, liefen wir um das Gebäude herum, bis wir zu einem Kinderwagenparkplatz kamen, der darauf schließen ließ, dass wir den gesuchten Eingang gefunden hatten. Public Daycare, die Arbeit der Künstlerin Graziela Kunsch für die documenta fifteen, befand sich im Nordflügel des Museums. Sie ermöglichte nicht nur den kostenlosen Zugang zu einem Raum, der nach den pädagogischen Vorstellungen der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902–84) eingerichtet war, sondern gewährte Besucher*innen auch den Zutritt zu den Räumlichkeiten der documenta fifteen, ohne Eintritt zu bezahlen.
Einige Eltern hingen dort gelassen mit ihren Babys ab. Sie verteilten sich auf mehrere Räume, die für unterschiedliche Aktivitäten gedacht und je nach Mobilität und Autonomie der Kinder gestaltet waren: ein Ruhebereich, ein Essbereich, Wickeltische und ein Spielplatz, der zum freien Spielen anregte. Beim Durchschreiten des Raums bemerkte man, dass er sich nach und nach von einem Kinderhort in eine Ausstellung verwandelte: Kunschs Videos ihrer Tochter Manu, verschiedene Gegenstände und eine Fotoserie von Marian Reismann (1911–91), die sich einen Teil ihres Lebens mit dem Fotografieren des Lernprozesses von Babys und Kleinkindern in einem von Emmi Pikler geführten Waisenhaus beschäftigt hatte.
Dies war der bestimmende Ausgangspunkt für unsere Reise. Es war, als hätten wir die documenta fifteen durch den Kaninchenbau in Alice im Wunderland betreten. Die angrenzenden Räume wurden von RURUKIDS und Gudksul bespielt. Das Erdgeschoss des Fridericianums hatte sich von einer Ausstellungshalle in Fridskul verwandelt – einen Ort zum gemeinsamen Lernen, Schlafen, Spielen und Kochen. Als wir so durch die Räume spazierten und die Choreografie des Publikums betrachteten, musste ich unweigerlich daran denken, was der portugiesische Pädagoge José Pacheco in seinen Konferenzen oft sagt: „Schulen sind keine Gebäude, sie sind Menschen.“
Menschen, keine Gebäude
Das mittlerweile berühmte Motto von ruangrupa – „make friends, not art“ – wird häufig falsch interpretiert. Es geht nicht um die Weigerung, Kunst zu machen, sondern darum, zunächst einmal Freundschaften zu schließen. Um es frei nach José Pacheco zu sagen: Museen sind keine Gebäude, sie sind zuallererst Menschen. Wer also Kunst machen möchte, sollte womöglich damit beginnen, sich Freund*innen zu machen – aber nicht im Sinne von Netzwerken, sondern, indem man sich Leute sucht, mit denen man gerne Zeit verbringen möchte. Wenn Museen aus Menschen bestehen, warum sind sie dann immer so voll gepackt mit Objekten?
ruangrupas provokante Umkehrung der Perspektive lässt Ausstellungen (als Sammlung von Objekten) überbewertet erscheinen, als sei eines der möglichen Ergebnisse von Kunst (Objekte) zum einzigen in der Kunstwelt akzeptierten Format geworden. Wir haben uns so daran gewöhnt, dies als den natürlichen Zustand von Kunst anzusehen, dass es etwas Beunruhigendes hatte, durch Galerien zu laufen, die mehr nach Orten aussahen, an denen man abhängen möchte – „nongkrong“ auf Indonesisch –, als nach Ausstellungshallen. Ich konnte die Unzufriedenheit des Kunstpublikums spüren, das zu Biennalen oder zur documenta fährt, um sich Künstler*innen anzuschauen, den neuesten Hype zu konsumieren, etwas zu entdecken und mit nach Hause nehmen zu können. Ich konnte aber auch sehen, wie der Großteil des Publikums seine Erwartungen neu justierte, wie die Leute lasen, dasaßen, beobachteten – dem Geschehen schlicht mit Großmut und Gelassenheit begegneten und versuchten, ein Teil davon zu sein.
Weder neu noch Süden
Die documenta fifteen hat ein anders Verständnis dessen, was Kunst leistet und wie sie vorgeht, in den Mittelpunkt gerückt, aber neu ist daran nichts. Dies als Neuheit zu bezeichnen, stellt eine zeitliche Beschränkung dar. Tatsächlich kam mir alles sehr vertraut vor. Ich arbeite im Casa do Povo, einem autonomen jüdisch-brasilianischen Kunstraum in São Paulo, der sich mit der Dynamik der documenta fifteen identifiziert: mit Prozessen arbeiten statt mit Resultaten, verstehen, dass das Publikum ein Konstrukt ist (kein Ziel), Projekte kollektiv entwickeln, Kunst nicht von anderen Lebensbereichen trennen, die Grenzen zwischen Kultur und gesellschaftlichen Initiativen aufweichen, Kunst als einen Ort ansehen, an dem Dinge anders gedacht und an dem experimentiert werden darf. In diesem Sinne fühlte sich die documenta fifteen für mich wie zu Hause an.
Eine andere Methode, um die Tragweite der documenta fifteen einzudämmen, ist, sie räumlich einzugrenzen, indem man sie zu einer Stimme aus dem Süden deklariert. Ich glaube nicht, dass sie das ist. Die Grenzen waren geografisch viel subtiler: Man konnte von The Black Archives aus Amsterdam losgehen und sich dann die Lieder des Komîna Fîlm a Rojava anhören, einen Blick in die Archive des luttes des femmes en Algérie werfen oder sich ansehen, wie das in Großbritannien ansässige Project Art Works funktioniert. Das Ganze fühlte sich an wie eine Gemeinschaft aus Stimmen, die die Geschichte unserer kollabierenden Welt aus der Perspektive derer erzählt, die aus kolonialer Sicht als Monster gelten: Frauen, Schwarze, Asiat*innen, Angehörige der First Nations, neurodivergente Menschen und all die „Anderen“. Ihre Stimmen sind mal hörbar, mal wieder nicht. Es war gar nicht so einfach, sich von allem, was an den vielen Schauplätzen zu sehen war, angesprochen zu fühlen. Einige Inhalte hätten mehr Kontext und mehr Zeit für eine Übersetzung gebraucht – doch nicht alles ist übersetzbar. Die documenta hinterfragte die Idee der Universalität, was das Gleiche sein kann wie Eurozentrismus, aber sie tat das, indem sie die vielen Welten zeigte, die jenseits von Grenzen existieren. Zeitliche und räumliche Eingrenzungen funktionierten als Strategien zur konzeptionellen Einschränkung.
Wie die Dinge angehen?
Im Mittelpunkt stand die Idee von lumbung, die auf den indonesischen Begriff für kollektive Reisscheunen zurückgeht. Empirisch gesehen ist dies ein Tool, um die documenta zu hacken. Zu diesem Zweck versuchte das künstlerische Team, möglichst nicht als Kurator*innenteam aufzutreten, das jedes Projekt begleitet. Durch eine Reihe von Vereinbarungen wurde die documenta für die Teilnehmenden zu einer Ressource. Praktisch gestaltete sich dies in Teilhabeprozessen, Versammlungen (majelis), der Teilnahme von 14 Organisationen (inter-lokal) und Ketteneinladungen (Künstler*innen laden andere Künstler*innen ein). Das künstlerische Team dezentralisierte die Entscheidungsprozesse so extrem, dass es teilweise die Kontrolle verlor. Die Idee dahinter war weniger, die documenta durch die documenta fifteen zu verändern, sondern eher, die documenta fifteen zu nutzen, um lumbung one anzustoßen. In diesem Sinne könnte man sagen, dass lumbung one weniger eine Ausstellung war als eine alternative Dynamik für Megaevents.
Mal war der Prozess sichtbar und verständlich, mal war er versteckt und unklar. Besucher*innen wie ich mussten sich einen Weg durch etwas bahnen, das im Endeffekt wie eine Ausstellung aussah. Also begann ich, meine Gefühle mittels einer schnellen und oberflächlichen Typologie zu strukturieren:
- Erhebungen (Arbeiten, bei denen es sich um sehr klare und dichte Erhebungen von Kunstkollektiven handelte)
- falsche Zeit (die vielen öffentlichen Programmpunkte, die ich nicht besuchen konnte)
- Transmediales (hervorragende Arbeiten, die sich in unterschiedlichen Formaten manifestierten)
- für Ortsansässige (Arbeiten, die sich meiner Ansicht nach an Menschen aus Kassel richteten und nicht an Tourist*innen)
Zwei Ausstellungserfahrungen erregten meine Aufmerksamkeit, weil es um Geld ging – was bei Non-Profit-Events eher selten ist. Das war zum einen der ruru kios, gedacht als Straßenmarkt, auf dem lokale Kunsthandwerker*innen und Künstler*innen ihre Produkte verkaufen konnten. Und dann die lumbung gallery, die das, was normalerweise hinter den Kulissen passiert, ins Scheinwerferlicht rückte: den Verkauf von Kunstwerken, die in der Ausstellung gezeigt wurden.
Letztendlich komme ich nicht umhin, auch etwas über die antisemitischen Turbulenzen zu schreiben. Als Vertreter des Casa do Povo, einer jüdischen Institution in São Paulo, musste ich mich mit dem Antisemitismusproblem rund um die documenta fifteen auseinandersetzen, obwohl es vor Ort nur eine Randerscheinung war (anders als in der Presse). Aufgrund von Gerüchten, wir wären auf Druck der Palästinenser*innen ein- und wieder ausgeladen worden, benutzte die deutsche Presse Casa do Povo, um das künstlerische Team anzugreifen. Diese Angriffe wurden von uns öffentlich verurteilt,1 und doch blieb ein Unwohlsein, als würde hier der berechtigte Kampf gegen Antisemitismus instrumentalisiert, um andere Minderheiten zum Schweigen zu bringen, vor allem die Palästinenser*innen – und den Antisemitismus somit noch zu stärken.
Auf der Suche nach dem Publikum
Während meines Besuchs stellte ich mir immer wieder die Frage: Wer ist das Publikum? Ich denke, um zu verstehen, was Kunst leistet, müssen Kunstkritiker*innen in einen ernsthaften Dialog mit den Menschen treten, die über Kunst miteinander verbunden sind. Zu den vielen Dingen, die von Kunst bewirkt werden, gehört es, ein eigenes Publikum zu schaffen. Wir können eine Arbeit nicht einfach aus einer pseudoneutralen und universellen Perspektive analysieren.
Ich bin mir sicher, dass Graziela Kunschs Public Daycare mich angesprochen hat, weil sie mich und mein Kind Teil ihres Publikums werden ließ und mich mit anderen Familien, einer bestimmten Art von Pädagogik und gewissen Objekten verbunden hat. Die Gemeinschaft, die ein Projekt zu schaffen vermag, ist ein gutes Maß für seinen Erfolg. Während ich diesen Text schreibe, setzen sich Eltern und Kinder in Kassel dafür ein, dass die Stadt Kunschs Arbeit kauft. Gibt es etwas Machvolleres als das? Ich schätze, dass gute Kunst sich letztendlich gute Freund*innen macht.
Wo wir gerade über unser Verhältnis zu Kindern reden: Der indigene brasilianische Denker Ailton Krenak meinte kürzlich, wir sollten „den Erfindungsreichtum begrüßen, der mit der Ankunft neuer Menschen einhergeht“. Anstatt sie als „leere Verpackungen [zu betrachten], die gefüllt werden müssen [...], sollten wir uns bewusst machen, dass von ihnen eine Kreativität und Subjektivität ausgehen kann, die in der Lage ist, neue Welten zu erfinden.“ Womöglich lässt sich das Gleiche über lumbung one sagen: Man sollte mehr darauf hören, was es über unsere Welt, andere Welten und zukünftige Welten zu sagen hat.
Übersetzt von Gaby Gehlen